Paternalismus vs. Selbstbestimmung
Überhaupt nicht einverstanden mit dem Antwortartikel von Peter Dabrock und Wolfgang Huber in der F.A.Z. auf den Vorstoß zur Suizidbeihilfe in der Diakonie ist der Leipziger Dogmatikprofessor Roderich Barth. Gegen diese in seinen Augen paternalistische Antwort gönnt er sich (und uns) gerne eine Polemik. Dem Autorentrio Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie hingegen wünscht er Gelassenheit und Ausdauer.
Es hat schon ein Geschmäckle, wenn Peter Dabrock und Wolfgang Huber in ihrer als Gastbeitrag in der FAZ vom 25.1. erschienenen Gegenrede den 2016 verstorbenen Münchner Ethiker Trutz Rendtorff für die eigene Position zu vereinnahmen suchen. Der Widerspruch richtet sich gegen einen unter anderem von der Bochumer Theologin Isolde Karle und dem Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie verfassten Denkanstoß (FAZ vom 11.1.). Zu den Autoren gehört aber eben auch der Münchner Ethiker und Rendtorff-Schüler Reiner Anselm, der sicherlich keiner Belehrung über die Ethik seines Lehrers bedarf.
Aber es ist nicht nur die auch gegenüber der geballten diakonischen und seelsorgerischen Lebenserfahrung der Kritisierten unangemessen anmutende Oberlehrerhaftigkeit, die der ganzen Gegenrede einen unschönen Beigeschmack verschafft, sondern eben auch der damit verbundene Versuch, das eigene Eintreten für einen unbedingten und strafgesetzlich bewährten Lebensschutz mit fragwürdigen Mitteln als alternativlos darzustellen.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage nach der menschlichen Selbstbestimmung. Wenn es auch immer wieder leuchtende Ausnahmen gab, die theologischen Vorbehalte gegen die Selbstbestimmung sind so alt wie das Christentum und die Diffamierung der sich in ihr realisierenden Würde des Menschen als illegitime Selbstermächtigung gegenüber Gott war gerade im 20. Jahrhundert theologisch weit verbreitet und hat offenbar eine lange Halbwertszeit. Ein Nachhall begegnet nicht zuletzt im Votum von Dabrock und Huber, die der anderen Seite eine ethisch und theologisch problematische »Verabsolutierung der Selbstbestimmung« vorwerfen. Und auch das Verfassungsgericht entgeht dieser hohepriesterlichen Anklage nicht, da es sich einer »überschießenden Autonomierhetorik« schuldig gemacht habe.
Paternalistisches Verständnis
Problematisch an dieser Kritik ist nicht das darin zum Ausdruck kommende leidenschaftliche Engagement wider die Gefahr einer Kommerzialisierung und Entpersönlichung der Suizidbeihilfe oder gar gegen deren weltanschauliche Überhöhung – ein Engagement, das freilich die Kritisierten nicht weniger umtreibt. Problematisch ist vielmehr die sich darin zeigende Haltung gegenüber humaner Selbstbestimmung und das daraus resultierende paternalistische Verständnis von Ethik und Politik. Selbstbestimmung im Sinne der inkriminierten Autonomie ist nämlich keineswegs eine Steigerungsform von Egoismus und ein der Ergänzung bedürftiger Gegenpol zu »Fürsorge« oder »Sozialität«, wie von Dabrock und Huber immer wieder insinuiert wird, sondern sie ist der Inbegriff ethischer Reflexivität und Personalität.
Nur wenn ich mir selbst ein Gesetz gebe, bin ich frei und durch die notwendige Allgemeinheit des Gesetzes zugleich über meine Partikularinteressen erhoben (= sozial), wie Kant der neuzeitlichen Ethik ins Stammbuch geschrieben hat. »Bindung« ist also nicht das Korrektiv der »Freiheit«, wie suggeriert wird, sondern ihr innerstes Bestimmungsmoment. Nur durch rationale Selbstbestimmung ist der Mensch in der Lage, seinen Egoismus zu überwinden und sich zum Dienst am Nächsten zu verpflichten. Und nur in einem solchen »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« – wie es wiederum Kierkegaard meisterhaft formuliert – hat der Mensch auch erst die Möglichkeit, sich von einem lebendigen Gott getragen zu wissen.
Wer also die Selbstbestimmung delegitimiert oder ihrer heteronomen Begrenzung in irgendeiner Form das Wort redet, der unterminiert nicht nur die Grundlage aller Moral, sondern auch der Religion. Demgegenüber gilt es – zumindest wenn man sich auf die neuprotestantischen Traditionen berufen möchte, in deren ethischer und kirchlicher Wiederbelebung und Erneuerung Trutz Rendtorff seine Lebensaufgabe sah – die humane Selbstbestimmung uneingeschränkt zu ermöglichen, zu fördern und zu stärken. Nicht nur weil sich hier – wie nicht zuletzt die Erinnerung an Kant zeigt – auch die inneren Widersprüche des Suizids zeigen können, sondern weil sie als Subjekt von Verantwortung auch da unvertretbar ist, wo sie sich in der ethischen Reflexion einer existentiellen Krise für den Suizid entscheidet.
Zumutung der Hinwendung zum radikal Abgelehnten
Worin hingegen noch der »Respekt vor der Selbstbestimmung« liegen soll, wenn man dafür eintritt, ihre Realisierung strafrechtlich zu unterbinden und kategorisch aus jedem öffentlichen Verantwortungsbereich zu verbannen, bleibt bei den Kritikern vom 25. Januar ebenso unklar wie die auf Lebensschutz wider Willen hinauslaufende Interpretation der Nächstenliebe, die doch gemäß der Bergpredigt gerade in der Zumutung einer Hinwendung zum radikal Abgelehnten (Feind) ihre tiefste Bewährung finden soll. Die Übernahme einer solchen Zumutung wird dabei nicht zuletzt durch die Reflexion der eigenen Schuldgeschichte ermöglicht, die keine »falsche Front« eröffnet, sondern zur ethischen Substanz christlicher Verantwortung gehört.
Ferner unterstellen Dabrock und Huber der Verfassungsrechtsprechung durch deren Betonung der Autonomie eine problematische Ausweitung des unbedingten Schutzbereichs der Menschenwürde (Artikel 1, Absatz 1) auf das einschränkbare Persönlichkeitsrecht (Artikel 2, Absatz 1). Doch dieser Einwand fällt auf die Kritiker zurück, denn nicht nur hat die Auslegung der Menschenwürde als »Subjektqualität« im oben angedeuteten Sinne Kants eine breite Basis in der Verfassungsrechtsprechung, sondern der Einwand würde die von ihnen selbst vorgenommene Sakralisierung (»Unantastbarkeit«, »unbedingtes Lebensrecht«) des Lebensschutzes (Artikel 2, Absatz 2) in gleicher Weise treffen. Denn, wie erst kürzlich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einem anderen Zusammenhang zu bedenken gab, ein absoluter und unantastbarer Wert ist im Grundgesetz, wenn überhaupt, nur die Menschenwürde, nicht aber der Lebensschutz.
In Dabrocks und Hubers Sakralisierung des Lebens haben offenbar die gemeinsamen Jahre ökumenischen Dammbauens gegen die Fortpflanzungsmedizin und Genforschung den Blick auf die Grundrechtssystematik ebenso verwässert wie die protestantische Identität. Ob damit einer nachhaltigen Ökumene gedient ist, deren Verrat die Verfasser dem ebenfalls an der Öffnung der Debatte beteiligten hannoverschen Landesbischof Ralf Meister vorwerfen, darf bezweifelt werden.
Selbstbestimmte »Reflexivität des Lebens« stärken
Gleiches gilt mit Bezug auf die Erwartung, dass die »öffentliche Präsenz des Christentums« mit ökumenischen Formeln wie »Gott ist der Freund des Lebens« oder der Forderung nach einem »Vorrang des Lebens vor dem Tod« gestärkt werden kann. Lernt man nicht heute schon in der Schule, dass der Tod nicht nur das Ende eines Lebewesens ist, sondern konstitutiv zum Lebensprozess selbst dazu gehört? Und ist nicht nur das biologische Leben, vom sozialen ganz zu schweigen, einer tiefen Dialektik unterzogen, sondern auch das Verhältnis von irdischem und ewigem Leben, von dem das Evangelium spricht? Auch in dieser Hinsicht gilt es also die selbstbestimmte »Reflexivität des Lebens« (Rendtorff) zu stärken, auch wenn das die Eindeutigkeit Öffentlicher Theologie mit der »Zweideutigkeit des Lebens« (Tillich) und der »Verborgenheit Gottes« (Luther) infiziert.
In diesem Sinne ist also nicht nur die Initiation einer überfälligen Debatte zu begrüßen, sondern den ursprünglichen Initiatoren angesichts der zum Teil heftigen Reaktionen Gelassenheit und Ausdauer im Ausloten von diakonischen und seelsorgerlichen Handlungsmöglichkeiten für diesen schwierigen Grenzfall christlicher und humaner Verantwortung zu wünschen.
Roderich Barth
Roderich Barth (*1966), ist nach der akademischen Qualifikationszeit in Halle und Stationen in Hamburg, München, Essen und Gießen, wo er Professuren mit dem Schwerpunkt Ethik vertrat oder innehatte, seit 2017 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig mit einem Schwerpunkt in der Emotionsforschung.