Begegnung im Konflikt

Zur Debatte um §218: Wie evangelische Kirche wirklich stützen und schützen kann
Blick über die Schulter einer Frau, die einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen hält.
Foto: epd-bild/Heike Lyding
"Für einige Frauen schlug der positive Schwangerschaftstest ein wie eine Abrissbirne."

Die politische Debatte um eine mögliche gesetzliche Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland und die Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch hat auch die ethische Debatte neu angeregt. „zeitzeichen“ will in den kommenden Tagen die oft von Männern dominierte Debatte durch Beiträge von evangelischen Frauen bereichern, die vor dem Hintergrund ihrer beruflichen und persönlichen Erfahrungen entstanden.  Den Anfang macht die Diplom-Psychologin Britta Köppen, Fachreferentin der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung.

Die aktuelle Debatte rund um den Schwangerschaftsabbruch und einer möglichen Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches wird auf vielerlei Ebenen geführt. Sie profitiert von einer respektvollen Vielstimmigkeit und dem Integrieren von neuem Wissen. Das Überprüfen von Kompromissen und das Nutzen von Gestaltungsräumen zeigt Alternativen zur bestehenden Regelung des Schwangerschaftsabbruches auf. Die Wirklichkeit Betroffener gehört bei all der Komplexität des Themas in den Mittelpunkt der intensiven Auseinandersetzungen und gesellschaftlich-politischen Aushandlungen. Im Folgenden teile ich als Psychologin Erfahrungen aus der Beratungsarbeit mit Frauen im Schwangerschaftskonflikt und als Fachreferentin Perspektiven aus der bundesweiten Fachverbandsarbeit der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung (EKFuL). All das nicht ohne eigene lebensbiographische Einflüsse.

Was prägt das Empfinden und Erleben von ungewollt Schwangeren? Was bewegt sie im Entscheidungsprozess? Im Rahmen meiner zurückliegenden psychologischen Beratungsarbeit mit Frauen und Familien in Wohnungsnot fiel mir auf, dass sich das Erleben von ungewollt Schwangeren oft ähnelte und sie dennoch in ihren biografischen Knotenpunkten einzigartig blieben. Ihre Lebenslagen zum Zeitpunkt einer ungewollten Schwangerschaft setzten sich aus multiplen und miteinander eng verbundenen Faktoren zusammen. Im subjektiven Empfinden beschrieben Frauen als wesentliche Einflussfaktoren auf ihre Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen oder abzubrechen, am häufigsten eine konfliktreiche Paarbeziehung, die Folgen von Gewalt- oder Fluchterfahrungen, finanzielle Sorgen und ökonomische Abhängigkeiten, prekäre Wohnverhältnisse, Existenzängste, die Versorgung von im Haushalt lebenden Kindern, die eigene Gesundheit sowie ihre Ängste, den eigenen Ansprüchen an Mutter- oder Elternschaft nicht gerecht werden zu können. 

Wenig Zeit

In unseren Gesprächen wurde deutlich: Für einige Frauen schlug der positive Schwangerschaftstest ein wie eine Abrissbirne. Schnell sollten die nächsten Schritte geplant, Termine vereinbart und der klare Entschluss zum Abbruch in Handlungen übersetzt werden. Andere Frauen folgten einer leisen Ahnung, einem vagen Gefühl und erhielten im Arztgespräch die Bestätigung, dass sie im frühen Stadium schwanger waren. In ihren Gedanken wechselten sich Sicherheit und Klarheit mit Zweifeln und Ambivalenzen ab. Ihre Gefühlswelt schien geprägt von Zukunftsängsten und Geheimhaltungswünschen, von Sprachlosigkeiten und Redebedarf. Für alle Frauen blieb nur wenig Zeit zum Verstehen der Infrastruktur rund um einen gewünschten Schwangerschaftsabbruch. Die Drohkulisse des Strafrechts wurde ihnen im eigenen Erleben dieser Situation bewusst. Am Ende vertrauten sie ihrer Einschätzung und ihrem Entschluss.

„Leicht“ und „einfach“ sind unangebrachte Vokabeln in Beschreibungen der höchstpersönlichen Entscheidungsprozesse ungeplant Schwangerer. Ihr Abwägen ist im Inneren intensiv und aufgewühlt. Das Scannen von individuellen Ressourcen und körperlicher Konstitution findet wiederholt zwischen Alltag und beruflichen Anforderungen statt. Ein Reflektieren von bestehenden Verpflichtungen gegenüber bereits geborenen Kindern oder zu pflegenden Familienmitgliedern ist hoch sensitiver Natur. Die erlebte Beziehungsqualität, der Blick auf potenzielle Lebensveränderungen sowie bedeutsame Konsequenzen hinsichtlich beruflicher, finanzieller oder geographischer Entwicklungen im Lebensverlauf bestimmen ihre innerpsychische Auseinandersetzung im Schwangerschaftskonflikt. Häufig nehmen sie eine Tabuisierung des Themas in der gesellschaftlichen Atmosphäre wahr. Viele fürchten soziale Abwertung oder Zurückweisung in der medizinischen Versorgung. 

Große Bandbreite

Was gibt Frauen im Schwangerschaftskonflikt Unterstützung? Wo liegt Potential für Verbesserungen? Als evangelischer Fachverband sichert die Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung (EKFuL) die Qualität der Beratungsstellen in kirchlich-diakonischer Trägerschaft und vertritt ihre Interessen im kirchlichen und politischen Raum. Der Blick auf Versorgungslagen im niedrigschwelligen Hilfesystem, auf sozial- und gesundheitspolitische Veränderungen sowie auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse ist auch im Rahmen des Schwangerschaftskonfliktes von großer Bedeutung. Die Beantwortung der Frage, was Frauen im Schwangerschaftskonflikt unterstützt, fordert den Einbezug dieser drei Bereiche. Aus der Praxis heraus betrachtet spielt für Betroffene auch eine breite, verlässliche und gut nutzbare Beratungsinfrastruktur sowie eine medizinische Versorgungssicherheit eine große Rolle. 

Die EKFuL hat sich dazu und zu weiteren Punkten ausführlich in ihrer Stellungnahme zur möglichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches im Oktober 2023 geäußert. In einer Pressemitteilung zum Abschlussbericht der Arbeitsgruppe 1 der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin begrüßte die EKFuL im Mai 2024 den Abschlussbericht der Kommission und unterstützte die aufgezeigten Möglichkeiten und Lösungsansätze. Die Ergebnisse der bundesweiten Forschungsprojekte zu Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer sowie zur Betroffenenzentrierung in Versorgungs- und Unterstützungsangeboten für Frauen mit ungewollter Schwangerschaft zeigen in großer Bandbreite auf, wo in der Versorgungslandschaft Verbesserungsbedarfe und Potential für nachhaltigere Unterstützung rund um den Schwangerschaftsabbruch liegen. Die neuen Erkenntnisse zu Stigmatisierungserfahrungen in internalisierter oder erlebter Form, Einflussfaktoren auf das psychische Wohlbefinden nach einem Schwangerschaftsabbruch sowie die Rolle von Partnerschaftskonflikten geben wichtige Hinweise, wohin wir im Erweitern unseres Wissens rund um den Schwangerschaftskonflikt genauer schauen müssen. 

Rolle der Kirche

Welche Rolle kann die evangelische Kirche bei ungeplanter und ungewollter Schwangerschaft spielen? Der Versuch, auf diese große Frage in diesem kurzen Beitrag hier eine Antwort zu finden, verleitet mich tiefer zu überlegen. Was prägt das Wesen gelebter evangelischer Theologie? Wo lagen die Stärken der evangelischen Kirche, als ich mich als Kind ihren alten Steinmauern anvertraute, als ich in ihr als Jugendliche die Kirchenmusik zelebrierte und als ich mit ihr als Studentin mit Kind im Konflikt stand? Aus der Erinnerung sprechend lege ich in diese Zeilen folgende Antwort: die offene Tür, die Begegnungsangebote mit Weckruf an den Selbstwert, das gesprochene Wort und die Bedeutung von unverlierbarer Würde. All diese haltgebenden Wesenszüge der Kirche können stützen und schützen. Sie können Not und Antwortlosigkeit überbrücken und die Privatheit von Scham durchbrechen. All diese Stärken spiegeln sich in den Angeboten niedrigschwelliger Beratung. Und all diese lebbaren Gegebenheiten können im kirchlichen Raum hilfreiche Bezugspunkte für Frauen in menschlich vielschichtigen Ausnahmesituationen sein. Umso tiefer wir uns mit Menschen einfühlsam und ergebnisoffen beschäftigen, umso mehr nähern wir uns ihrem Erleben und umso mehr macht ihr Verhalten Sinn. 

Mutig ausgedrückt geht es in einer unterstützenden Rolle der evangelischen Kirche in verantwortungsethischen Betrachtungen rund um den Schwangerschaftsabbruch weniger um sanktionierende Vorschriften, ethische Imperative, abstrakte Dialektik, männlich dominierte Außenperspektiven oder religiöse Argumentationen, die mit modernen Selbstbestimmungsperspektiven kollidieren. Vielmehr geht es um das Loslösen aus einer distanziert anmutenden Unbewegtheit, ein aufeinander Zubewegen und ein Reflektieren gesellschaftlich verankerter Stereotype. Es geht um Begegnung im Konflikt und das Angebot von Anderssein im Kontrast zu Falschsein.

Welche Aspekte in der Debatte um eine geplante Reform der gesetzlichen Regelung eines Schwangerschaftsabbruches gilt es besonders zu stärken? Besonderes Augenmerk verdient die Stärkung der evangelischen Perspektive auf den Mann. Die am Entstehen einer Schwangerschaft beteiligten Partner werden nicht ausreichend in der aktuellen Debatte um den Schwangerschaftskonflikt mit einbezogen. Es gilt, Ihren Verantwortungsbereich rund um eine Schwangerschaft deutlicher hervorzuheben und ihr Gesundheitsverhalten breiter zu beforschen. Der wissenschaftliche Nachweis, wie hoch signifikant Partnerschaftskonflikte einen Einfluss auf den individuellen Entscheidungsprozess ungewollt Schwangerer und ihr psychisches Wohlbefinden haben überzeugt und lädt ein, die Verantwortungslast nicht nur bei der schwangeren Frau abzulegen. 

Transparenzhinweis: Dieser Artikel und die folgende Artikelreihe zum Thema Schwangerschaftskonflikt sind auf Initiative und in Zusammenarbeit mit Dr. Lea Chilian (Zürich), Mag. theol. Ruth Denkhaus (Hannover) und Prof. Dr. Sarah Jäger (Jena) entstanden.

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Foto: privat

Britta Köppen

Britta Köppen ist Dipl. Psychologin und Fachreferentin der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung Fachverband für Psychologische Beratung und Supervision e.V.. Sie leitete über viele Jahre eine Psychologische Beratungsstelle.


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