Kühner Glaube

Klartext
Foto: privat

Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat i.R. in Freiburg/Breisgau.

Gottes Gegenwart

20. Sonntag nach Trinitatis, 13. Oktober

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. (2. Korinther 3,6)

Dass Buchstaben Menschen heftig zusetzen, sie am Ende manchmal sogar töten können, ist eine bittere Erfahrung unserer Zeit. Hasserfüllte Texte (hate speech), die in den sozialen Medien verbreitet werden, können Menschen zugrunde richten – und deren gute Ideen und ihr Engagement für Andere gleich mit. So ist die Warnung des Apostels Paulus, dass Buchstaben töten, durchaus aktuell.

Lange Zeit nahm ich an, dass es sich eher umgekehrt verhält und Paulus’ Aufwertung des Geistes auf Kosten des Buchstabens ein Holzweg ist. Denn immer wieder entpuppte sich mancher Geist als Ungeist oder erwies sich als laues Lüftchen, das nicht einmal den selbst gesetzten Ansprüchen genügte. Da ist es doch ausgesprochen wichtig, wenn Menschen schriftliche Vereinbarungen schließen, die festhalten, was gelten soll. Im Beruf. Bei einem Vertragsabschluss. Aber auch, wenn es um die Grundlagen einer Gemeinschaft geht. Für die Mütter und Väter der Reformation hatten die biblischen Quellen in den Originalsprachen eine grundlegende Funktion. Und die neu entstandenen Bekenntnisschriften und Katechismen der evangelischen Kirchen.

Aber wie so oft denkt Paulus über einen rein formal korrekten Umgang mit an sich richtigen Texten hinaus. Denn zu schnell können sie in ihrer äußeren Form richtig verstanden werden, aber in der Sache hinter ihren Ansprüchen zurückbleiben. Übrig bleiben dann tote Buchstaben, während von einem Geist der Befreiung immer weniger zu spüren ist. Deshalb kommt es am Ende nicht auf die Buchstaben an, sondern auf die Botschaft, den Geist, den sie aus sich heraus freisetzen können. Nicht einmal die biblischen Texte sind ja von vornherein davor gefeit, dass Menschen sie fundamentalistisch missverstehen, anstatt sich von dem aus den Texten heraus zu spürenden Geist bewegen und verändern zu lassen. Am Ende kommt es also doch auf den Geist an – am meisten auf den, der uns bewegt und zum Leben verlockt, den guten und die Welt bewegenden Geist, in dem Gott selber unter uns gegenwärtig ist.

Stockender Atem

21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober

Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Matthäus 5,45)

Eigentlich hätte ich es gerne anders. Denn böse und ungerechte Menschen stören die Gestaltung von Beziehungen und torpedieren die angebahnten Wege zu einer besseren Welt. Um das zu begreifen, reicht schon ein Blick in die täglichen Nachrichten. Schnell ist klar, wo die Bösewichte sitzen. Und es ist gut, wenn wir nicht zu ihnen gehören. Aber Gott setzt den Rahmen doch, noch einmal, anders. Die lebenswichtigen Wirkungen von Sonne und Regen, womöglich auch die von Zuwendung und Geduld eröffnen einen weiten Lebensraum für die Einen wie für die Anderen.

Dass Gott keinen Gefallen daran findet, auszusortieren und abzustrafen, dazu kann ich nicht so leicht und schnell Ja und Amen sagen. Aber dafür steht nun einmal Jesus Christus, in dem Gott nichts anderes sein wollte als Mensch. Und der mit seinem Leben die menschlichen Möglichkeiten ausgetestet hat – so sehr, dass er am Ende selbst an die absolute Grenze menschlicher Möglichkeiten gestoßen ist, aber eben nicht an die Grenzen der Möglichkeiten Gottes.

In der Bergpredigt findet sich ein Manifest menschlicher Vollkommenheit, zu der Jesus die Tür weit öffnet. Allerdings gehört dazu schon eine gehörige Portion Mut. Denn Jesus stellt die Regeln der Tradition nicht nur in Frage, sondern hebt sie – mit dem Gegenteil des bisher Geltenden – geradezu aus den Angeln. Und das nicht, ohne Gott auf seiner Seite zu wissen. Weil Gott auch über unsere Gegner die Sonne aufgehen und den fruchtbringenden Regen vom Himmel kommen lässt. Weil Feindschaft nicht die Normalität beschreibt, sondern einen zu überwindenden Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen. Wenn ich das auf die Konflikte der Gegenwart anwenden möchte, stockt mir der Atem. Aber wer bin ich, dass ich es nicht einmal versuche. Selbst wenn das Risiko des Scheiterns die wahrscheinlichere Alternative beschreibt. Ich will es jedenfalls nicht riskieren, den Bergprediger aufs Altenteil zu schicken. Schließlich geht auch morgen wieder die Sonne über Gerechten und Ungerechten auf.

Kleines Kompendium

22. Sonntag nach Trinitatis, 27. Oktober

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micha 6,8)

Es gibt in unserem Land keinen Mangel an Ratgebern für ein gelingendes Leben. In den Buchhandlungen füllen sie ganze Regale. Auch wenn viele am Ende nicht die Mühe des Lesens wert sind, finde ich es gut, dass es auch Versuche, die Frage zu beantworten, wie man angemessen und recht lebt, auf die Bestsellerlisten schaffen. Aber womöglich braucht es dafür kein ganzes Buch.

Denn es kommt eher darauf an, sich mit der rechten Einstellung auf die Wege durchs Leben zu machen. Und dann genügen auch wenige Sätze. Oder sogar nur einer: „Sei ein Mensch!“ Das nannte Marcel Reif, der bei der diesjährigen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag die Rede hielt, als Lebensmaxime seines Vaters, der dem Holocaust nur knapp entronnen war. Der Prophet Micha wählt noch einmal eine andere Variante. Sein kleines Kompendium eines rechten Lebens beschreibt, was vor Gott das wahre Menschsein ausmacht. Aller guten Dinge sind auch hier drei: Gottes Wort halten meint keinen Buchstaben glauben. Aber unüberhörbar ist der Hinweis, dass es Regeln für ein solches Leben gibt, die nicht in mir ihren Grund haben und die meine Interessen übersteigen.

Das zweite Kriterium beschreibt den Rahmen, in dem ich mich bewegen soll, und bringt dabei den Geist ins Spiel, der mein Handeln durchdringen soll: die Liebe.

Bleibt das dritte Kriterium. Hier könnte uns der von Martin Luther ins Spiel gebrachte Begriff der Demut auf eine falsche Fährte locken. Denn es geht darum, mein eigenes Handeln in Übereinstimmung zu bringen mit der rechten Einsicht in Gottes Intentionen für seine ganze Schöpfung. Und das ist womöglich das Schwerste. Denn ich muss wissen, was nach Gottes Willen dran ist. Von einem authentischen Glauben würde ich sprechen, wenn ich mich erfolgreich allen drei Kriterien zumindest annähern kann.

Starke für Schwache

23. Sonntag nach Trinitatis, 3. November

Es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet … So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt. (Römer 13,1+6)

Dieser Text gehört in die Mottenkiste der Theologiegeschichte.“ Diesen Satz in seiner Klarheit und Schärfe habe ich noch im Ohr: Mit ihm verabschiedete der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger eine Sichtweise, die zu einer modernen Staatstheorie in heftigem Widerspruch steht. Und ich spüre noch immer mein Unwohlsein, wenn in den Gottesdiensten meiner Kindheit für „die Obrigkeit“ gebetet wurde. Dieser Begriff schien mir irgendwie verdächtig. Und bis heute fühle ich mich dem mittlerweile 75 Jahre alten Grundgesetz näher, das klipp und klar formuliert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Und wo die Realität dahinter zurückbleibt, lässt sich dieser Satz als Auftrag und Norm verstehen. Aber ob ich einen Gedanken des Paulus zu einem heute mehr denn je aktuellen Thema mit einem Handstreich erledigen kann?

Hier zögere ich, weil auch in unserem Land die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens in Frage gestellt und verächtlich gemacht wird. Menschen skandieren, sie seien „das Volk“, um dem Volk, wenn sie es denn könnten, seine Handlungsmöglichkeiten zu entziehen. Da hilft mir Paulus am Ende doch weiter. Sicher ist sein Bild von einem Gemeinwesen überholt, in dem die einen – von Gott legitimiert – über die anderen Macht ausüben. Aber es gibt da etwas, das mir an der Argumentation des Paulus bleibend wichtig erscheint. Der Apostel geht von einem wertegeleiteten, ethisch fundierten Zusammenleben der Menschen aus. Und ich bin nicht einfach außen vor, sondern mittendrin. Dass ich Steuern zahlen muss, eines der von Paulus im weiteren Verlauf genannten Beispiele, ist kein Anlass, sich dem durch allerhand Schlupflöcher zu entziehen, sondern Ausdruck der Übernahme von Verantwortung, eine Form des Lastenausgleichs zwischen materiell Stärkeren und Schwächeren. Wer mehr hat, soll auch mehr geben. Das wäre ein Eingebundensein in staatliches Handeln, an dem Gott seine Freude hätte. Und wir könnten dem mit Ehre begegnen, dem sie am Ende allein zukommt.

Heiliges Land

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 10. November

Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. (Micha 4,3–4)

Diese Sätze ziehen mir jedes Mal die Schuhe aus. Denn ich höre sie und spüre dabei: Der Boden, auf dem ich stehe, ist heiliges Land. Ganz nah gehen mir diese Worte. Dabei sind wir – so scheint es – von dieser gewaltigen Friedensvision doch weiter entfernt denn je. Der Ort, an dem der Prophet festmacht, woran wir die von ihm erhofften Zeiten erkennen können, liegt immer noch auf einer ganz anderen Landkarte, nämlich auf der, die die Kriegs- und Krisenzentren der Gegenwart markiert. Vor gut einem Jahr pflanzte ich einen Feigenbaum, mitten im Garten, mit genügend Freifläche um ihn herum. Schließlich möchte ich eines Tages unter dem Baum sitzen können. Und das auch nicht alleine. Vielleicht ist es ja so, dass die eindrücklich beschriebenen „letzten Tage“ erst dann wirklich werden, wenn genügend Menschen Feigenbäume pflanzen, damit darunter alle Platz finden.

Dass wir „nicht mehr lernen, Krieg zu führen“, dieser Satz beschreibt die Einlassbedingung in jene glückliche Zeit. Und wir springen zu kurz, wenn wir den ersten Schritt in jene Welt allein von denen erwarten, die auch als erste ihren Fuß auf die Felder des Krieges gesetzt haben. Womöglich warten wir dann am Ende vergeblich. Die offene Frage bleibt die nach der Brücke zwischen den kriegsgeprägten Zeiten der Gegenwart hin zu der kühnen Vision, dass die Menschen aus den Völkern an Orte strömen, die zuvor zu Orten des Friedens verwandelt worden sind. Wer diese Brücke betreten will, kommt um Glaubenskühnheit nicht herum. Und einstweilen werde ich unter meinem Feigenbaum Geduld lernen müssen und auf die Inspirationen hoffen, die mir helfen, meinen Anteil zu einer Welt des Friedens beizutragen. 

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