Himmel auf Erden

Die Sängerin Tracy Chapman und die Religion
Tracy Chapman und Luciano Pavarotti  bei einer Probe in Modena (Italien) im Jahre 2005.
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Tracy Chapman und Luciano Pavarotti bei einer Probe in Modena (Italien) im Jahre 2005.

Vor 36 Jahren wurde die damals 24-jährige US-amerikanische Sängerin Tracy Chapman über Nacht weltberühmt, als sie anlässlich des 70. Geburtstags von Nelson Mandela im Londoner Wembley-Stadion auftrat. Welche Rolle Glaube und Religion bei ihr und ihren Songs spielt, zeichnet der Autor Uwe Birnstein nach.

Was man tun kann, um das Universum, das Leben und Gott zu verstehen? Einige Methoden sind nicht zielführend, meint die afroamerikanische Songwriterin Tracy Chapman. Zum Beispiel bringe es nichts, in den Sternen Antworten zu suchen oder nach Leben auf entfernten Planeten Ausschau zu halten. Eine gute Herangehensweise sei hingegen Vertrauen in das ewige Leben. Jeder Mensch habe in seinem Inneren „die Karte des Labyrinths“ und ahne: Der spirituelle Himmel ist nicht „da oben“, auch ist Gott nicht beweisbar. Gott müsse man auch gar nicht in anderen Sphären suchen. Denn der Himmel – der ist hier auf Erden.

In ihrem Song Heaven’s Here on Earth breitet sie ihre Gedanken poetisch aus. Da erklärt sie, worauf es ankommt, damit es auf Erden himmlisch zugeht: auf Respekt vor dem Irdischen, auf den Glauben an Frieden und die Kraft der Liebe. Wir alle leben in einem Geist; Schmerz und Leid, die auf der Welt geschehen, gehen nicht auf überirdische Mächte zurück, sondern auf Menschen.

Tracy Chapman bürstet die Religion gegen den Strich, ohne den Respekt vor ihr zu verlieren. Sie holt Gott auf den Boden der Wirklichkeit zurück, mitten in den Alltag mit allen offenen Fragen, mit aller Freude und allem Leid. Mit wenigen, wohlgesetzten Worten beantwortet sie die Fragen nach dem „Warum“ des Leids auf gleichzeitig gottlose und realitätsfromme Weise. Statt den Heiligen Geist anzuklagen, der nicht einschreite, sieht sie die Menschen in der Verantwortung.

Wir Menschen sind für Leid und Krieg auf der Welt verantwortlich – wir haben aber auch das Potenzial für Schönheit, Frieden, Liebe und Verständnis. Ein Hinweis darauf, dass das Gute und das Böse zugleich im Menschen stecken.

Schluss also mit Gott? Nein. So einfach ist das nicht bei Tracy Chapman. Denn sie outet sich als irgendwie gläubig. Zum Beispiel meint sie: Die guten Menschen, die es auf Erden gibt, könnten verkleidete Engel sein. Auch dieser Gedanke findet sich in ihrem Lied. Unsere heutige Vorstellung von Engeln ist von der Bibel geprägt – und von den Werken der Malerei seit der Renaissance. Engel sind der Bibel zufolge spirituelle Boten Gottes. Sie bringen himmlische Botschaften auf die Erde. In der Geburtsgeschichte Jesu spielen sie eine wichtige Rolle. Der Erzengel Gabriel überbringt der jungen Frau Maria aus Nazareth die Botschaft, dass sie Gottes Sohn gebären werde – und das, obwohl sie „von keinem Mann wusste“, also Jungfrau ist. Kurz nach der Geburt Jesu verkündigt eine Heerschar himmlischer Engel den Hirten auf dem Felde „eine große Freude“, nämlich die Geburt des Gottessohnes. Die Bibel schildert, dass Menschen Angst bekommen, wenn sie Engeln begegnen; deshalb eröffnen diese ihre Botschaft stets mit den Worten „Fürchte dich nicht!“

Neben diesen erkennbaren Engeln weiß die Bibel auch von Engeln, die den Menschen quasi inkognito erscheinen. Man solle gastfreundlich sein, mahnt deshalb der neutestamentliche Hebräerbrief (13,2), es könnte ja sein, dass man unwissentlich Engel beherberge. Der christliche Lyriker Rudolf Otto Wiemer schrieb über diese Art Engelserscheinung ein herziges Gedicht, in dem er daran erinnert: Die Vorstellung, dass Engel imposante Männer mit Flügeln seien, ist unzutreffend. Manchmal sind sie alt, hässlich und klein. Vielleicht wohne ein Engel auch in der eigenen Nachbarschaft, meint Wiemer. Dann zählt er auf, was Engel so tun: Ohne Schwert und weißes Gewand bringen sie dem Hungernden Brot, machen dem Kranken das Bett. Sie hören zu, wenn jemand sie in nächtlicher Verzweiflung anruft, und manchmal stellen sie sich auch menschlichen Plänen in den Weg und bewahren so vor leichtfertigem oder selbst verursachtem Unheil.

Dass Tracy Chapman das Gedicht Rudolf Otto Wiemers kennt, ist unwahrscheinlich. Doch ihre Zeilen über Engel entspringen derselben Vorstellung. Sie entzieht die Engel der religiösen Überhöhung und nährt die Vorstellung: Jede, jeder in unserer Umgebung könnte sich als Engel entpuppen. Und so wie die Engel im Widerspruch zu vielen anderslautenden religiösen Bekundungen nicht im Himmel, sondern auf Erden wohnen – so sei eben auch der Himmel auf Erden zu finden.

Wirkmächtige Bilder

Bei Tracy Chapman verschwimmen wundersam die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits. Sie respektiert den Glauben – gerade das ist der Grund, weshalb sie den Blick auf die irdische Wirklichkeit lenkt. Um ihre Botschaft zu formulieren, nutzt sie die wirkmächtigen, jahrtausendealten Bilder der biblischen Erzählungen. „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ – diese Worte übernahm Tracy Chapman eins zu eins von Jesus, sie sind im Matthäusevangelium überliefert (3,2; 4,17; 10,7).

Dass das „gelobte Land“ einem Menschen zu Füßen liege: Dieses Bild findet sich in der Geschichte der Wüstenwanderung des Volkes Israel. Mose hatte die Menschen aus der ägyptischen Sklaverei befreit, immer mit der Verheißung, er führe sie ins Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Das Volk Israel ließ sich von dieser Vision stärken – und sah nach entbehrungsreichen vierzig Jahren tatsächlich von einem Gipfel herab das „gelobte Land“ – den „Himmel auf Erden“.

Heutzutage hat diese Formulierung allerdings an Kraft verloren. Allzu viele Werbeversprechen haben diese Metapher kommerziell verflacht. Dessous, Luxus-Lebensmittel, Autos: Materielle Dinge sind es, denen hier oft zugesprochen wird, die spirituelle Sehnsucht nach dem Himmel zu stillen. Für Tracy Chapman ist der „Himmel auf Erden“ etwas anderes, vielleicht das, was auch Mose im Sinn hatte: „Der Himmel auf Erden“ zeigt sich dann, wenn sich die Menschen aus freien Stücken an die Gebote Gottes halten und wenn Gerechtigkeit und Respekt unter den Menschen einkehren. Die Menschen seien dazu in der Lage. Und wenn sie es umsetzen, dann werde die ganze Welt zur Kirche. Mit diesem Gedanken gibt sie allen Auffassungen Kontra, die Gottes Wirken an Kirchenbauten, Kleriker oder kirchliche Liturgien und Bekenntnisse binden. „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“ – dieses Selbstverständnis prägt (in unterschiedlicher Vehemenz) seit dem dritten Jahrhundert christliche Kirchen. Tracy Chapman widerspricht selbstbewusst. Es geht ihr weder um Kirchenzugehörigkeit noch um Rechtgläubigkeit, sondern um Liebe zu allem Irdischen, zur gesamten Schöpfung.

Woher Chapman ihr Selbstbewusstsein bezieht? Geboren wurde sie am 30. März 1964, wuchs in finanziell schwachen Verhältnissen in Cleveland, Ohio, auf. Sie kam in Kontakt mit einer baptistischen Kirche, besuchte dort Gottesdienste. Vermutlich hörte sie dort vom Himmelreich, das schon jetzt auf der Erde angebrochen ist. Ein Stipendium ermöglichte ihr ein Studium der Anthropologie an der renommierten Bostoner Tufts University. Seit Kindertagen liebte sie die Musik, Bob Dylans und Joni Mitchells Songs faszinierten sie. Neben dem Studium nahm sie erste Demos ihrer eigenen Lieder auf. Ein Kommilitone hatte Beziehungen zur Plattenfirma Elektra Records, das verhalf ihr zum ersten Plattenvertrag. Im April 1988 erschien ihr erstes Album und begeisterte viele. Die Songwriterin mit der kämpferischen, weichen Stimme und den Folksongs, in denen sie Ungerechtigkeiten anprangerte, aber auch über die Liebe sang, traf die Sehnsüchte und Fragen unzähliger Menschen.

Vier Monate später, am 11. Juni 1988, fand sich die 24-jährige Newcomerin auf einer Riesenbühne in London wieder – zusammen mit Weltstars wie Whitney Houston, Sting, Jessye Norman, Natalie Cole und den Dire Straits. Der Anlass war der 70. Geburtstag des inhaftierten südafrikanischen Freiheitskämpfers Nelson Mandela. Die Welt hoffte auf das Ende der Apartheid und die Freilassung des späteren Friedensnobelpreisträgers. Von London aus machten sich die Musikerinnen und Musiker dafür stark. In ihrem ersten Song Why nahm Tracy Chapman die bohrenden Fragen der Menschen auf, sie fragt, warum Babys sterben müssen, wo es doch genug Nahrung gibt, um die ganze Welt zu ernähren. Im Stil biblischer Propheten kündigt Chapman an: Es werde eine Zeit kommen, in der die Blinden sehend werden und die Stummen die Wahrheit verkünden. Im zweiten Song Behind the Wall erzählt sie über Gewalt gegen Frauen, und schließlich singt sie von der Revolution, die sicher kommen werde, das spreche sich bereits herum (Talkin’ ’bout a Revolution). Die Ehrlichkeit und Kraft, mit der diese kleine Schwarze Frau mit ihrer Gitarre ganz allein auf der Bühne steht, überträgt sich auf die 72 000 Menschen im Wembley-Stadion. Eigentlich war Tracy Chapmans Auftritt beendet. Doch dann gab es während des Auftritts von Stevie Wonder technische Probleme, er musste seine Performance abbrechen. Der Veranstalter holte Tracy Chapman zur Überbrückung nochmals auf die Bühne, nur Gesang und Gitarre, das ließ sich schnell einrichten. Etwas überrumpelt ging sie ans Mikro und sang Fast Car, ein Lied über eine junge Frau, die ihrer trostlosen Situation entkommen will – bloß weit weg fahren in einem schnellen Auto. Across the Lines folgt, ein Lied über rassistische Gewalt in den USA und die daraus entstehenden Unruhen.

Orden für Engagement

Nach diesem Auftritt ist Tracy Chapman weltbekannt. Nicht aus kommerziellem Kalkül, sondern mit Glaubwürdigkeit hatte sie sich in die Herzen aller gesungen, denen es um Frieden und Gerechtigkeit geht. Auftritte für Amnesty International folgen – unter anderem mit Sting, Bruce Springsteen und Youssou N’Dour. Mehr als 20 Millionen Mal verkauft sich ihr Debütalbum. Viele Alben folgen, viele Grammys und andere Preise der großen Musikverbände. 2023 verlieh ihr der Staat Südafrika einen Orden für ihre Unterstützung und Solidarität im Freiheitskampf Südafrikas und ihr weltweites Engagement für Menschenrechte.

Bei alldem ist der Glaube eine Art Kompass für sie. Ob sie getauft ist, weiß Chapman nicht. Religiös sei sie nicht, sagt sie – aber große Neugier auf den Glauben habe sie sich bewahrt. „Jede Kultur hat eine Form von geistlicher Praxis und eine Vorstellung von Gott, die fast alles prägt, was die Menschen tun. Ich möchte verstehen, was Glaube ist, was die Vorstellungen von Gott sind und wie sie uns beeinflussen.“ Wer nur an Schicksal glaube, könne sich leicht aus der Verantwortung für das gedeihliche Zusammenleben ziehen. In der „baptistischen Tradition“, in der sie aufgewachsen ist, habe Toleranz geherrscht, erinnert sie sich – auch gegenüber Andersgläubigen. Das legte ein Fundament für ihr heutiges soziales Engagement für Gerechtigkeit. Und manche Lieder seien durchaus wie Gebete.

Auf erstaunliche Weise verschwimmen bei Tracy Chapman die Grenzen zwischen Welt und Gott, Erde und Himmel, Glaube und Vernunft. Wer davon überzeugt ist, dass der Himmel auf Erden bereits nah ist, der braucht keine Abgrenzung, sondern schmiedet eine Allianz der Gutwilligen aller Religionen und Kulturen – und muss dabei den eigenen Glauben nicht verlieren.

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