Ein Realist höherer Ordnung

Eine Würdigung des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter zu seinem 100. Geburtstag
Jimmy Carter im April 2019 bei einer Bibelstunde in seiner Heimatgemeinde in Plains, Georgia.
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Jimmy Carter im April 2019 bei einer Bibelstunde in seiner Heimatgemeinde in Plains, Georgia.

Er will durchhalten, bis er für Kamala Harris als US-Präsidentin stimmen kann. Diese Nachricht übermittelte sein Sohn Chip der Öffentlichkeit aus dem Hospiz, in dem der frühere US-Präsident Jimmy Carter palliativ gepflegt wird. Am 1. Oktober wird er 100 Jahre alt. Damit ist er der älteste noch lebende US-Präsident. Marco Hofheinz, Professor für Systematische Theologie in Hannover, ordnet sein Wirken auch theologisch ein.

Gleichsam als „ein Engel des Lichtes“ (Jürgen Moltmann) betrat Jimmy Carter 1976 nach Vietnamkrieg und Watergate die politische Bühne. Er kam als Außenseiter aus dem tiefen Süden Georgias als Amerikas 39. Präsident nach Washington: ein provinzieller Erdnussfarmer aus Plains, einem 500-Seelen-Dörfchen, wo Carter bis noch vor Kurzem sonntags predigte und die Sonntagsschule abhielt. Auch als Präsident scheute er nicht davor zurück, sich vor aller Welt als Christ zu bekennen. Gerade seine Distanz zum Washingtoner Establishment und zu dessen arrivierten, vielfach als korrumpiert geltenden Kreisen machte Carter unverdächtig. An ihn richteten sich geradezu messianische Erwartungen – sicherlich ein Grund dafür, warum Carters Präsidentschaft insgesamt eher als „Malaise“ denn als „Erlösung“ aus der Pein von Watergate und Vietnam in die amerikanischen Geschichtsbücher einging. Die Fallhöhe eines „Engels des Lichts“ kann nun einmal nicht getoppt werden.

Der Begriff des „American Nightmare“ wurde auch auf Carters kurze Präsidentschaft angewandt. Insbesondere als es 1979 zum Geiseldrama in Teheran kam und 52 Amerikaner*innen monatelang in der US-Botschaft gefangen gehalten wurden, die Inflationsrate, die Ölpreise und die Arbeitslosigkeit ständig anstiegen, sanken seine Popularitätswerte in den Keller. Seine Wasser-statt-Wein-Predigten gegen Genusssucht und Konsum taten ein Übriges: Niemand wollte es hören, als Carter mit einer Strickjacke bekleidet erklärte, dass und warum Amerika Energie sparen müsse. Solchermaßen inszenierter Selbstzweifel wurde als „No go“ empfunden und als Schwäche und/oder Unfähigkeit interpretiert. Man jagte Carter als Versager mit einer kata­strophalen Wahlniederlage aus dem Amt, die er gegen Ronald Reagan einstecken musste. Der konservative Politikwissenschaftler Steven F. Hayward nannte ihn „den schwächsten US-Präsidenten des 20. Jahrhunderts“.

Indes wird man fragen dürfen, ob dieses Urteil vom „gescheiterten Carter“ gerecht ausfällt. Seitdem die „Zeitenwende 1979“ (so der Titel der vielbeachteten Studie des Potsdamer Zeitgeschichtlers Frank Bösch) ins Bewusstsein rückt, denkt manche/r anders darüber. Besagtes Jahr brachte welthistorische Umbrüche mit sich. Iran, Afghanistan, die vietnamesischen Boatpeople, Ölkrise, Margaret Thatchers Wahlsieg und die Gründung der Grünen stehen für die „big challenges“ unserer Tage: Klimawandel und Migration, eine Auseinandersetzung mit dem Islam als Bestandteil westlicher Kultur und Islamismus als ihrer Infragestellung, schließlich die neoliberale Wirtschaftspolitik mit Ausverkauf staatlicher Unternehmen und Deindustrialisierung. Kurz: Es war, so Frank Bösch, das Jahr, als die Zeit von heute begann und als Carter durchaus auf der Höhe der Zeit agierte.

Späte Anerkennung

Späte Anerkennung ist Carter darum zuteilgeworden – insbesondere mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 2002. Carter hatte sich nach seinem Ausscheiden aus dem Amt vier Dekaden lang den Ruf des „besten Ex-Präsidenten“ aller Zeiten (Time Magazine) erworben. Viel Geld hat er anders als die meisten Ex-Präsidenten später nicht gemacht. Er gründete 1982 das auf politische Konfliktlösung spezialisierte Carter Center in Atlanta und besuchte Fidel Castro zur Unterstreichung seiner Forderung nach einem Ende des Wirtschaftsembargos gegen Kuba, nicht ohne ihm wegen Menschenrechtsverletzungen kräftig die Leviten zu lesen. Auch George W. Bush und seine Administration kritisierte Carter aufs Schärfste für ihren Unilateralismus – etwa in der Irak-Politik. Im Streit um das nordkoreanische Atomprogramm trat Carter erfolgreich als Vermittler auf; ebenso erfolgreich war sein Einsatz gegen den Guinea-Wurm, der in Zentralafrika als Parasit wütete und vielen Menschen das Leben kostete. Bis ins hohe Alter hat er als „Politrentner“ und „Privatstaatsmann“ unzählige Krisenherde (zum Beispiel Bosnien, Äthiopien, Haiti, Moçambique, Nicaragua, Nordkorea, Sudan, Venezuela) dieser Welt bereist, um sich für Frieden, Menschenrechte und Demokratie, insbesondere in Gestalt freier Wahlen, einzusetzen.

Wiedergeborener Christ

Allzu leicht wird indes vergessen: Bereits als Präsident handelte Carter gegen allergrößte Widerstände den Frieden von Camp David zwischen Ägypten und Israel aus und besiegelte ihn 1978 mit einem historischem Händedruck. Auch die Rückgabe des Panama-Kanals und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China gehen maßgeblich auf ihn zurück. Jimmy Carters Memoiren, mit dem sprechenden Titel Keeping Faith (1982), schließen mit Worten des dritten amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson: „Es ist mir ein Trost, darauf zurückblicken zu dürfen, dass während meiner Regierungszeit auch nicht das Blut eines einzigen Bürgers durch das Schwert des Krieges vergossen wurde.“ Nicht viele amerikanische Präsidenten können dies von sich behaupten.

Wo aber sind in religiöser Hinsicht die Wurzeln von Carters Wirken und Denken zu suchen? Carter hat sich selbst als einen „Evangelikalen“ und als einen „wiedergeborenen Christen“ bezeichnet. Vom Fundamentalismus grenzte er sich indes entschieden ab. Als etwa der fundamentalistische Fernsehprediger Jerry Falwell, der 1979 eine religiöse „moralische Mehrheit“ zur Wahl Ronald Reagans und Abwahl Carters aus der Taufe gehoben hatte, der konservativen „Southern Baptist Convention“ beitrat, vermochte sich Carter endgültig nicht mehr mit dieser zu identifizieren und trat der „Cooperative Baptist Fellowship“ bei. Wie Martin Luther King so war auch Carter den „Civil Rights Baptists“ zuzurechnen.

Jimmy Carter ist in seinem politischen Denken – ebenso wie Barack Obama – tief von dem deutschstämmigen Theologen Reinhold Niebuhr (1892–1971) beeinflusst worden. Zu seinem bevorzugten Zitat avancierte die berühmte Sentenz aus Niebuhrs Werk Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis (1944): „Die Fähigkeit des Menschen, gerecht zu sein, macht Demokratie möglich; aber die Neigung des Menschen, ungerecht zu sein, macht Demokratie notwendig.“

Die traurige Aufgabe der Politik bestehe darin, Gerechtigkeit in einer sündvollen Welt aufzurichten. So beschrieb es Carter mit Niebuhr etwa in Wahlkampfveranstaltungen, wenn er nach einer Zusammenfassung der Zielsetzung seiner Regierungspolitik gefragt wurde. Die Grundlage eines solchen Politik- und Demokratieverständnisses lasse sich weder auf ein rein pessimistisches noch ein rein optimistisches Menschenbild verkürzen. Dem hat Niebuhr einen „christlichen Realismus“ entgegengesetzt, von dem sich Carter prägen ließ.

Niebuhr hatte beobachtet: Unverbesserlich in ihrem Optimismus seien die „Kinder des Lichts“, die etwa an die Beherrschbarkeit von Eigeninteressen und einfache Lösungen im Spannungsfeld von Eigen- und Allgemeininteressen glauben würden. Das Sündersein des Menschen bliebe dabei allerdings außer Acht. Solchem Optimismus entspreche spiegelverkehrt der Pessimismus der „Kinder der Finsternis“. Ihr Zynismus kenne kein Gesetz oberhalb ihres eigenen Wollens. Gegenüber beiden Ausrichtungen gilt es nach Niebuhr im Wissen um kollektives wie individuelles Eigeninteresse, dieses zu begrenzen und auf die Möglichkeiten des selbst- wie gemeinschaftsbezogenen Menschen hin zu überschreiten. So würden Pessimismus und Optimismus weder ignoriert noch absolut gesetzt, sondern zugunsten eines „Realismus“ überwunden, der die Wahrheitsmomente beider Perspektiven in ein relativierendes Gleichgewicht zu bringen versteht.

Meines Erachtens lässt sich Carter als ein „Realist höherer Ordnung“ charakterisieren. Ich sehe darin eine Analogie zu dem von der pietistischen Herrnhuter Brüdergemeine geprägten Theologen Friedrich Schleiermacher. Schleiermacher hatte sich mit Blick auf seine theologischen Wurzeln als „Herrnhuter höherer Ordnung“ bezeichnet. Mit Carters Realismus verhält es sich ähnlich wie mit Schleiermachers Pietismus. Beide sind „höherer Ordnung“, insofern sie ihr religiöses Fundament auf jene Größe hin beziehen, die das Reich Gottes bildet. Das Reich Gottes transzendiert nach Carter nicht einfach nur die Welt, sondern transformiert sie auch. Bei ihm stand diese Größe, das Reich Gottes, im Hintergrund, wenn er etwa von der Erneuerung des amerikanischen Traums sprach. Als Carter in seiner Antrittsrede „einen neuen Glauben an den alten Traum“ beschwor, so konnte man den sicher nicht ganz unberechtigten Eindruck gewinnen, dass hier die Reich-Gottes-Botschaft in ihrer weltgestalterischen Kraft in ein zivilreligiöses Gewand gekleidet wird.

Stellt der amerikanische Traum für Carter so etwas wie die „Übersetzung“ der Reich-Gottes-Botschaft in Politik und Gesellschaft dar, so sind die von Carter ganz neu ins Zentrum seiner Außenpolitik gestellten Menschenrechte als in die Sprache des Rechts und der Moral übersetzte Hoffnungsstrukturen zu verstehen. Carter sieht sie in der „Goldenen Regel“ (Matthäus 7,12) der Bergpredigt verwurzelt. Damit sind sie für ihn wiederum auf das Reich Gottes bezogen. Carters frühes Engagement – etwa als Gouverneur von Georgia (1971–1975) – zur Überwindung der Rassentrennung erhält hier seine Ausrichtung. Dabei kommt in konfessioneller Hinsicht auch deutlich Carters baptistischer Hintergrund zum Tragen, zumal Baptisten wie Richard Overton, Leonard Busher und Roger Williams bereits im 17. Jahrhundert zu den „Menschenrechtspionieren“ gehörten.

Menschenrechte als Kompass

Als Präsident Carter die Menschenrechte als Gestaltungsauftrag begriff und sie zum zentralen Gegenstand, ja Urteilsmaßstab seiner Außenpolitik machte, war dies sehr umstritten. Es wurde auch als lediglich eine subtile (Kultur-)Imperialismus-Spielart verstanden, als Versuch, westliche Werte um des Ausbaus von Einflusssphären, der Sicherung von Machtbasen und der Wahrnehmung nationaler Interessen willen zu exportieren. So lautete etwa die sowjetische Lesart. Und in diesem Sinne lässt sich tatsächlich auch Carters Antrittsrede von 1977 lesen: „Weil wir frei sind, kann uns das Schicksal der Freiheit anderswo niemals gleichgültig sein. Unser Moralgefühl diktiert eine eindeutige Bevorzugung jener Gesellschaften, die mit uns einen dauerhaften Respekt für individuelle Menschenrechte teilen.“ Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, sah sich Carter, der zuvor mit deren Staats- und Parteichef Leonid Breschnew den Abrüstungsvertrag SALT II ausgehandelt hatte, durch diese ungeheure Provokation unter Zugzwang gesetzt und befahl den amerikanischen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau (1980).

Nachträglich liest sich dies einerseits als ein weiteres Kapitel des „Kalten Krieges“. Die intendierte Annäherung an die Sowjetunion scheiterte. Andererseits wird hier ein Paradigmenwechsel in der Abkehr vom „Zynismus von Realpolitikern wie Richard Nixon und Henry Kissinger“ (Arthur Landwehr) erkennbar. Menschenrechte verloren den Status zahnloser Rechtspostulate. Die Hoffnungsstrukturen bekamen ein „backing“, indem Carter sie als operative Pflicht begriff. Er nahm sie auch als Instrumentarien des Völkerrechts ernst. Eine Institutionalisierung der nach Carter in der „Goldenen Regel“ wurzelnden Hoffnungsstrukturen wurde nicht einfach nur machtpolitisch greifbar, sondern fing zumindest ansatzweise an, dadurch glaubwürdig zu werden, dass eine Überordnung der Menschenrechte auch vor nationale Interessen erfolgte.

Goldene Regel

Carters Menschenrechts-Credo besagt, dass es nicht nur Aufgabe des Staates ist, die Menschenrechte als Schutz- und Abwehrrechte innerhalb der eigenen Grenzen zu gewähren, sondern diese über die eigenen Grenzen hinaus auch zu schützen. Zur Selbstliebe gesellt sich nach Maßstab der „Goldenen Regel“ die Nächstenliebe. In der Begründung des Osloer Nobelkomitees zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Jimmy Carter hieß es – nicht ohne Seitenhieb auf die Irakpolitik von George W. Bush: „In der heutigen, von drohender Machtanwendung geprägten Lage hat Carter auf dem Prinzip beharrt, dass Konflikte durch Vermittlung und internationale Zusammenarbeit auf der Basis des Völkerrechts gelöst werden müssen.“ 

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Foto: Privat

Marco Hofheinz

Marco Hofheinz ist Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik) am Institut für Theologie der Universität Hannover.


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