Mit Gottes Segen ins Weiße Haus

Kamala Harris und die Sache mit Gott. Die Rolle der Religion im US-Wahlkampf
Vizepräsidentin Kamala Harris in einer Kirche bei einer Beerdigung im Februar 2023 in Memphis.
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Vizepräsidentin Kamala Harris in einer Kirche bei einer Beerdigung im Februar 2023 in Memphis.

Die Evangelikalen in den USA hat Donald Trump im Rennen um das mächtigste politische Amt der Welt als Wählergruppe ziemlich sicher, trotz aller offensichtlichen moralischen Schwächen des früheren US-Präsidenten. Aber auch die Vizepräsidentin und Kandidatin der Demokratischen Partei, Kamala Harris, kennt die Bedeutung der Christen als Wählerinnen und Wähler. Die Rolle des Glaubens im amerikanischen Wahlkampf beschreibt der Autor und emeritierte Professor für Ökumene, Erich Geldbach.

Der Serienlügner, verurteilte Verbrecher (convicted felon) und egozentrische 45. Präsident der USA, Donald Trump, genießt trotz seines Alters und seiner offenkundigen Charakterschwächen bei nicht wenigen Wählerinnen und Wählern Vertrauen. Ausgerechnet die frommen Evangelikalen verehren ihn wie einen neuen Heiland: Alle Untersuchungen bestätigen, dass mehr als 80 Prozent dieser Wählergruppe fest hinter ihm stehen.

Warum? Seit dem Prozess „Roe vs. Wade“ von 1973, als der Oberste Gerichtshof (Supreme Court) das Recht auf Abtreibung freigab, hatte ein gesetzliches Verbot der Abtreibung oberste Priorität bei evangelikalen Gruppen und anderen im Kulturkampf engagierten „pro life“-Aktivisten. Sie vollführten Freudentänze, als mit Hilfe der von Trump vorgeschlagenen drei neuen Richter der Oberste Gerichtshof die Entscheidung von 1973 revidierte. Und das, obgleich zwei Richter bei ihrer Anhörung im Senatsausschuss vor ihrer Berufung an das Oberste Gericht versicherten, Roe nicht kippen zu wollen. Die Aussicht auf eine lebenslängliche, hoch angesehene Stellung war stärker als die Einhaltung eines öffentlich gegebenen Versprechens.

Bemerkenswert ist, dass sieben von neun Richter der römisch-katholischen Kirche angehören. Für diese Kirche und die „pro-life“-Bewegung ist die Verschmelzung von Eizelle und Samen der Beginn menschlichen Lebens, und sie folgern, dass Abtreibung mit Mord an einem Menschen gleichzusetzen ist. Für Trump gilt, dass er sich seinen evangelikalen Wählern als der darstellen kann, der „geliefert“ (to deliver) hat wie kein anderer Präsident vor ihm. Er verschweigt jedoch, dass er sich bis zu seinem politischen Engagement stets als pro-choice gab, was bei einem philander (Schürzenjäger) nicht verwunderlich ist.

Über Trumps Gegenspielerin von der Demokratischen Partei, US-Vizepräsidentin Kamala Harris, hat das Pew Research Center ermittelt, dass 65 Prozent der Befragten sich nicht sicher sind, zu welcher Religion sie gehört. Um ihren Wahlkampf in Schwung zu bringen, telefonierte Harris mit Mitstreitern in ihrer Partei, aber auch mit ihrem Pastor Rev. Amos Brown, der sie über zwanzig Jahre geistlich begleitet hatte und ihren Weg in die Mitgliedschaft der Third Baptist Church in San Francisco unterstützte. Er und seine Frau beteten mit „ihrer Kamala“ am Telefon und wünschten Gottes Segen für den Wahlkampf und die Zeit danach, wenn sie, wie die schwarze Community in ihrer überwältigenden Mehrheit hofft, das „Vize“ in ihrer Amtsbezeichnung streichen kann. Das ist die eine Seite der baptistischen Reaktion auf die Aussicht, dass eine der ihren als erste Frau, dazu noch als schwarze Frau mit zusätzlich indischen Wurzeln, das Amt der Präsidentin der USA erringen könnte.

Bescheidenheit und Würde

Eine gegenteilige baptistische Reaktion hatte es schon bei der Wahl 2020 gegeben. Aus Texas erklärten gleich mehrere Pastoren der Südbaptisten (Southern Baptists) mit Verweis auf 1. Könige 16,31, dass Kamala Harris als Frau für das Amt ungeeignet sei. Wie Isebel, im Englischen „Jezebel“, würde Harris das Land dazu verleiten, dem Baal zu dienen und ihn anzubeten. Wie kann man die sich widerstreitenden Reaktionen der Baptisten erklären?

Rev. Amos Brown, seit 1976 Pastor der Third Baptist Church, ist ein alter Kämpfer der Bürgerrechtsbewegung und früher Anhänger von Martin Luther King. Mein Freund Brian Kaylor hatte den Pastor nach den Wahlen 2020 interviewt. „Sie ist eine aufgeklärte und intelligente Frau“, hatte Brown damals über Harris gesagt, und weiter: „Sie ist eine Mut machende Frau; sie fördert alle Menschen ohne Ansehen ihrer sozialen Stellung im Leben. Sie besitzt Einfühlungsvermögen; sie hat Interesse an Menschen. Sie ist eine, die verbindet. Sie ist ansehnlich. Und schließlich ist sie vortrefflich in allem, was sie tut … Sie ist für Weiblichkeit ein Modell und verkörpert menschliche Schicklichkeit, Bescheidenheit und Würde aufs Beste.“

Vorbild für Frauen?

Ist Harris verführende Jezebel oder Vorbild für Frauen? Ein kurzer Blick in die Geschichte dürfte zu einer Antwort führen. Die baptistische Bewegung hat stets ein kongregationalistisches Kirchenbild vermittelt, das die Kirche von unten, der congregatio, nach oben über Regionen, Länder und bis heute zum Weltbund strukturiert. Wenn die Gemeinde zusammenkommt, ist sie ganz Kirche, aber nicht die ganze Kirche: Die Gläubigen und die Einzelgemeinden bilden den „vernetzten“ Leib Christi.

Für den nordamerikanischen Kontinent mit großen Entfernungen und dünn besiedelten Gebieten bot sich diese Kirchenstruktur für missionarische Unternehmungen an, was durch den britischen Baptisten William Carey (1761–1834), der die missionarische Dimension der Kirche aufzeigte, verstärkt wurde. Durch Bildung einer Missionsgesellschaft und Überfahrt nach Indien setzte er seine Ideen praktisch um und berichtete regelmäßig aus seiner Arbeit. Diese „periodischen Berichte“ wurden auch in amerikanischen Gemeinden gelesen, so dass 1814 die „Allgemeine Baptistische Missionskonvention für Auslandsmissionen in den Vereinigten Staaten von Amerika“ ins Leben gerufen wurde. Die Delegierten der Konvention kamen alle drei Jahre zu Beratungen zusammen; daher nennt man sie Triennial Convention. Sie wurde zum Sammelpunkt für Baptisten im Hauptstrom in Amerika sowie für einige Gemeinden in Kanada.

Gravierender Geburtsfehler

Ein kontroverses Thema bei den Zusammenkünften war die Sklaverei. Die Convention zerbrach, als sich 1843/44 die Delegierten aus den Nordstaaten weigerten, einen Sklavenhalter aus dem Süden zum Missionar zu berufen. Die Delegierten aus den Südstaaten zogen sich zurück, mit der Folge, dass sich im Mai 1845 in Augusta, im Bundesstaat Georgia, die Southern Baptist Convention (SBC) konstituierte. Die Umstände dieser Kirchengründung zeigen einen gravierenden Geburtsfehler: Die SBC war von Anbeginn mit der Sklaverei infiziert. Der Rassismus sowie nach dem Bürgerkrieg die Rassendiskriminierungen in Form der Jim Crow Laws haften dieser Religionsgemeinschaft bis zur Gegenwart an.

Die SBC hat nach dem Zweiten Weltkrieg ein phänomenales Wachstum erlebt. Mit dem Wachstum kamen Probleme. Diese beschrieb die Religionssoziologin Nancy Ammermann in ihrem Buch Baptist Battles (1990), besonders die Übernahme der SBC durch Fundamentalisten bis 1990. Die Kämpfe führten weiter dazu, dass sich 1990/91 moderate Kräfte in einer neuen Denomination, Cooperative Baptist Fellowship, vereinten.

Die Fundamentalisten haben nach ihrem Sieg die Denomination mit zwei Kriterien neu aufgestellt: Der erste Grundsatz lautet, dass die Heilige Schrift als inspiriertes Wort Gottes völlig fehlerlos ist. Nur wer dieser Lehre anhängt, ist „drinnen“.

Das zweite Kennzeichen nennt man complementarianism. Im Glaubensbekenntnis Baptist Faith and Message wird in Artikel XVIII über die Familie bekannt: „Eine Ehefrau soll sich mit Grazie der dienenden Führung ihres Mannes unterordnen … Sie ist wie ihr Mann zum Bild Gottes geschaffen und daher ihm gleichgestellt. Sie hat die von Gott gegebene Verantwortung, ihren Mann zu respektieren und ihm als seiner Helferin zu dienen, indem sie den Haushalt verwaltet und die nächste Generation aufzieht.“ Das bedeutet, dass Mann und Frau gleiche Würde haben, aber bereit sein müssen, je andere Rollen zu übernehmen, die sich komplementär zueinander verhalten; davon ist der Terminus complementarianism abgeleitet. In Artikel VI über die Kirche wird das Amt des Pastors auf Männer begrenzt.

Gnadenlose Säuberungen

Nach diesen Kriterien wurden in der SBC gnadenlose „Säuberungen“ der Institutionen und Seminare durchgeführt, die einer christlichen Gemeinschaft unwürdig sind. Jetzt dürfte einleuchten, warum Harris bei den ultrakonservativen Fundamentalisten der Südbaptisten und anderer Kirchen keine Chance hat. Selbst die größte Gemeinde der SBC, die Saddleback Church, wurde wegen der Ordination von zwei Frauen aus der SBC verbannt. Die Männer haben keine Schwierigkeiten, sich von ihren Versicherungen Viagra bezahlen zu lassen, aber für Frauen sind Pillen unerreichbar, von Schwangerschaftsabbrüchen ganz zu schweigen. Hinweise auf sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Pastoren trafen meist auf taube Ohren; der Versuch einer Aufarbeitung wird nur schleppend durchgeführt.

Findiger Theologe

Bei den ehemals so genannten Nord-Baptisten ist die Lage anders. Auch sie waren schon in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von der fundamentalistischen Welle berührt; Fundamentalisten wehrten sich gegen theologischen „Modernismus“ und ökumenische Bestrebungen. Es gelang jedoch findigen Theologen und Helen Barrett Montgomery (1861–1934), die als erste Frau zur Präsidentin einer amerikanischen Denomination gewählt worden war, bei entscheidenden Sitzungen die Gefahr abzuwehren, ein fundamentalistisches Glaubensbekenntnis zu verabschieden. Ausschlaggebend waren der Hinweis, dass die Bekenntnisse in der baptistischen Geschichte nie die „Seelenkompetenz“ der Gläubigen in Frage gestellt hätten und „dass die einzige Richtschnur für Glauben und Praxis das Neue Testament sein sollte.“ Folgerichtig war die Northern Baptist Convention Gründungsmitglied des 1908 gegründeten Bundesrats der Kirchen Christi in den Vereinigten Staaten.

Diese Denomination änderte 1950 ihren Namen zu American Baptist Churches. Maßgeblich waren unter anderem Gerüchte, Südbaptisten wollten ihren regionalen Namen ablegen und hofften auf einen Zusammenschluss aller großen baptistischen Bünde zu American Baptists. Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen wurde 1973 der Name nochmals geändert, um die Bedeutung der örtlichen Gemeinde und die Spannung zwischen Autonomie und Interdependenz zu betonen: American Baptist Churches in the USA.

Zu diesem auf Diversität eingestellten, aber mehrheitlich weißen Bund gehört die Third Baptist Church, die zudem noch der afro-amerikanischen National Baptist Convention angeschlossen ist. Es ist nicht ganz ungewöhnlich, dass eine Gemeinde „dually aligned“, also zweifach verankert ist. Die Besonderheit besteht hier darin, dass der eine Bund mehrheitlich aus Weißen, der andere mehrheitlich aus Schwarzen besteht.

Hohes Ansehen

Rev. Amos Brown, der die Gemeinde seit 1976 pastoral betreut, genießt in der black community hohes Ansehen, weil er in San Francisco Sprecher der 1909 gegründeten NAACP (National Association for the Advancement of Colored People = Nationale Vereinigung für die Förderung farbiger Menschen) ist. Außerdem setzt er sich für Reparationen ein und sucht nach Wegen, wie die Entschädigungen für vergangenes Unrecht an der schwarzen Bevölkerung zu bewerkstelligen sind. In einer Predigt rief er aus: „Wenn Weiße sagen: ‚Ich habe dich nicht versklavt, kapier das doch endlich‘, dann sage ich dir heute, in Amerika kannst du ein Mittäter werden, ohne abzudrücken.“ Trotz aller Fortschritte bei der „Rassenfrage“, die er anerkennt, bleibt er bei der Forderung: „Und jetzt ist für Amerika die Zeit gekommen, die Rechnung zu begleichen.“

Am Schluss des Wahlparteitages der Demo­kraten traten Rabbinerin Lauren Holtzblatt und Pastor Amos Brown an das Mikrofon, um den Segen zu sprechen. Holtzblatt rief zwei Themen des Parteitags in Erinnerung: „Wir gehen nicht zurück“, sondern man träume von einem Land „mit weniger bissigen Worten und mehr Freude.“ Sie bat Gott, ein Licht über Harris und Tim Walz aufscheinen zu lassen, damit sie weiterhin eintreten für „Gerechtigkeit, Gleichheit und reproduktive Freiheit“ (das heißt hier: Recht auf Geburten verhütende Maßnahmen). Brown betete für eine Zukunft, in der die US-Amerikaner „Spaltungen“ und „Differenzen“ überwinden und stattdessen „unsere gemeinsamen Ziele als eine Nation feiern“: eine „amerikanische Gemeinschaft, diese große Stadt auf dem Berge, die als Leuchtturm allen Menschen und allen Nationen dienlich ist“. Damit griff Brown einen Mythos auf, der bei den „Pilgervätern“ eine Rolle gespielt hatte: Amerika wurde nach Matthäus 5,14 als Stadt auf dem Berg gedeutet, deren Licht nicht verborgen bleiben kann, sondern die allen Nationen als Leuchtfeuer bei der Navigation durch die Geschichte dient. Damit wollte Brown wohl dem nationalistischen Getöse der Republikaner und den Vertretern des „Christlichen Nationalismus“ den Wind aus den Segeln nehmen.

Das Ende des Parteitags der Demokratischen Partei war ein Spiegelbild des multi-religiösen Amerikas, wie es führende Figuren dort selbst verkörpern: einerseits Kamala Harris, die in eine gemischt religiöse Familie geboren wurde, in Hindu-Tempeln und einer pfingstkirchlichen Gemeinde ihre religiöse Sozialisation erfuhr, dann aber sich fest verankerte in einer afro-amerikanischen baptistischen Gemeinde. Andererseits ihr jüdischer Ehemann, der Rechtsanwalt Douglas Emhoff, mit dem Harris auch jüdisch-religiöse Bräuche mitfeiern kann. Und schließlich der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, den Harris für das Amt des Vizepräsidenten vorgesehen hat. Walz ist bodenständig, versteht und spricht die Sprache des Volkes und besucht regelmäßig die Gottesdienste seiner lutherischen Gemeinde.

Versprochene Religionsfreiheit

Für einen deutschen Betrachter ist ein religiöser Abschluss eines Parteitags schwer vorstellbar. Aber in einer säkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung gilt, dass staatlicherseits kein religiöser Druck ausgeübt werden darf. Dies würde der Trennung von Religion und Politik widersprechen, wenn man diese Trennung als Versprechen der Religionsfreiheit für alle Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen oder auch ohne Religion versteht. Dann ist eine Bekundung religiöser Überzeugungen nicht nur möglich, sondern sogar erwünscht, weil so das Versprechen der Religionsfreiheit konkret eingelöst wird und kein Abstraktum auf dem Papier bleibt. 

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