Auf der Suche nach Dr. Kings Traum
Aus Memphis stammen berühmte Musiker wie Elvis Presley, Aretha Franklin oder B. B. King. Der Delta-Blues und auch Gospelmusik vermittelten in den 1960er-Jahren wichtige Botschaften der Bürgerrechtsbewegung. Im aktuellen Hip-Hop aus der Stadt geht es aber nicht mehr nur um Respekt, sondern oft um rohe Gewalt. Bringt Kamala Harris den Afroamerikanern nun neue Hoffnung?
Das satte Orange der untergehenden Sonne fließt in die Strömung des Mississippi. Das Wasser glänzt golden. Eine schwüle Sommerbrise trägt den Geruch von frisch gemähtem Gras und süßem Ketchup. Die Gäste des RiverBeat Music Festivals in Memphis sitzen auf Decken im Tom Lee Park, einer Grünfläche am Fluss. Sie trinken Cola, essen Fingerfood – und warten auf den Höhepunkt des Abends. Kurz bevor Lauryn Hill auftritt, schlendern alle Besucher Richtung Bühne. Sie zücken Smartphones, zünden Feuerzeuge an. Aus der Ferne betrachtet sehen die vielen Lichter winzig aus, als taumle ein Schwarm Glühwürmchen durch die hereinbrechende Nacht.
Ihre Rasterzöpfe versteckt Lauryn Hill unter einem bananenblattförmigen schwarzen Hut. Safrangelbe und türkisfarbene Rauchsäulen steigen vom Boden auf und wabern um die Beine von Wyclef Jean und Pras Michel. Gleich zu Beginn ihres Auftritts präsentieren die Fugees mit „Doo Wop“ einen ihrer größten Hits, während dünne Laserstrahlen in Saphirblau, Rubinrot und Flaschengrün den betonierten Spazierweg am Ufer wie die Landebahn einer futuristischen Raumstation wirken lassen.
Zuschauerinnen beim RiverBeat Music Festival in Memphis.
Lauryn Hill, heute 49 Jahre alt, ist immer noch ein Idol für viele Memphians, wie sich die Bewohner der Stadt nennen. Die Frontfrau der Fugees rappte im Jahr 1992 in dem Film „Sister Act 2“. Eine Nachtclubsängerin, gespielt von Whoopi Goldberg, hilft in dieser Komödie Nonnen bei ihrer Arbeit in einem sozialen Brennpunkt. Aus bockigen afroamerikanischen Teenagern, die sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft abgelehnt fühlen, formt Whoopi Goldberg alias Deloris Van Cartier einen erstklassigen Gospel-Chor – mit so herausragenden Solisten wie einer gewissen Rita Watson, gespielt von der damals 17-jährigen Lauryn Hill. Vor über dreißig Jahren, lange vor der Black-Lives-Matter-Bewegung, konnte man als musikbegeisterter Zuschauer im fernen Europa angesichts dieses Happy Ends ein paar schöne Kinostunden lang von einer gerechteren Welt träumen.
Im echten Leben gelang Lauryn Hill eine noch steilere Karriere als im Film. Sie schaffte es von der Tellerwäscherin beim Schnellimbiss zur Plattenmillionärin. Über 17 Millionen Mal ging das zweite Fugees-Album „The Score“ seit 1996 über den Ladentisch. 1999 gewann sie fünf Grammys für „The Miseducation of Lauryn Hill“. Die Songs waren so beliebt, weil sie echte Gefühle transportieren und politisch waren. Manche handeln von der Jugendkriminalität, andere von Verlust und Ausgrenzung.
An diesem Abend sind unter den bunten aufgespannten Stoffdächern und in den weißen Zelten alle willkommen. Unabhängig von ihrem Alter, der sexuellen Orientierung oder ihrer Hautfarbe. Im VIP-Bereich des RiverBeat Music Festivals steht der Bürgermeister von Memphis und begrüßt Ehrengäste. Paul Young wirkt warmherzig, nahbar. Seit dem 1. Januar 2024 soll der Sohn zweier Geistlicher für mehr Sicherheit und einen Aufschwung in Memphis sorgen. Das Logistikunternehmen FedEx ist der größte Arbeitgeber in der Stadt, aber die Wirtschaft ist nicht sehr divers. Das neue RiverBeat Music Festival ist ein Versuch, Touristen anzulocken und die Stadt für die weniger privilegierte Bevölkerung wieder so attraktiv zu machen, dass sich ihre Bürger verantwortlich für das Image von Memphis fühlen, weil sie teilhaben können.
Gegen Polizeigewalt
Die 1,7 Millionen teure Investition in den Tom Lee Park setzte ein Zeichen. Im Oktober 2023 hatte der Festivalveranstalter der Stadt – das Memphis in May International Festival – den fast 50 Jahre alten Musik-Event zunächst auf Eis gelegt, weil die Besucherzahlen rückläufig waren. Nur noch 37 000 Menschen kamen im Jahr 2023, vor der Pandemie waren es noch durchschnittlich 100 000. Die Stadt, in der Elvis Presley lebte und Aretha Franklin geboren wurde, kämpft mit Musik gegen Gewalt. „Die Schießereien der Gangs schrecken Investoren ab“, sagt Michael, ein Bestattungsunternehmer, der als Fahrer bei Uber Geld dazuverdient. Am 7. Januar 2023 hatten Polizisten Tyre Nichols bei einer Verkehrskontrolle brutal zusammengeschlagen. Der 29-Jährige starb drei Tage später in einem Krankenhaus. Bei den fünf Männern, die einer inzwischen aufgelösten Sondereinheit der Polizei von Memphis angehörten, handelte es sich wie beim Opfer um Afroamerikaner. Kamala Harris forderte damals den Kongress auf, ein Gesetz gegen Polizeigewalt zu verabschieden.
Das neue RiverBeat Music Festival will die Stadt wieder attraktiv machen.
In den gebildeten Kreisen ist die Freude über die Präsidentschaftskandidatur von Harris nun groß. Aus der Sicht vieler Bewohner der „Hoods“ gehört die Tochter einer indischen Medizinerin und eines jamaikanischen Wirtschaftswissenschaftlers zur „Upperclass“ und eignet sich nicht als Vorbild, denn sie unterscheidet sich vom Großteil von ihnen: Im Jahr 2019 hatte laut dem US Census Bureau nur etwa ein Viertel aller Afroamerikaner einen Uni-Abschluss.
Neben Soul, der eine wichtige Rolle in der Bürgerrechtsbewegung spielte, thematisieren Anhänger der sogenannten Horrorcore-Szene seit den 1990er-Jahren die schwierigen Verhältnisse. DJ Zirk, DJ Spanish Fly oder Three 6 Mafia rappen mit Beleidigungen und Schimpfwörtern, die auch in vielen Gangs kursieren. Unter ein hartes Video, das auf YouTube gezeigt wird, kommentierte vor kurzem ein Zuschauer: „Gerade bin ich von Memphis nach Colorado gezogen und ich könnte nicht glücklicher sein. Memphis ist die größte Müllkippe des Planeten.“ Er tut dieser Stadt Unrecht.
Auf zärtliche Weise
Am frühen Sonntagmorgen liegt eine verschlafene Stille über den Häusern im historischen Zentrum. In der Beale Street humpelt ein alter Mann über den Gehweg. Zwei Rollstuhlfahrer sind unterwegs, es sind ehemalige Soldaten. Die Juke Joints, so heißen Bars, in denen zu Zeiten der Rassentrennung African Americans tanzten und Live-Musik hörten, haben noch geschlossen. Von den 1920er- bis in die 1940er-Jahre spielten Louis Armstrong, Muddy Waters und B. B. King in der Beale Street. Der Memphis Blues, geboren auf den Baumwollfeldern aus Klageliedern der Sklaven, klingt auf eine optimistische Art traurig, auf zärtliche Weise roh. Er feiert ein Leben, das von Entbehrungen überschattet ist. Auch wenn die Beale Street, in der einst auch Elvis ein und aus ging, mittlerweile wie ein großes Freilichtmuseum wirkt, thematisiert Musik auch heute neben Frust noch Hoffnung – und die Chance auf einen gesellschaftlichen Wandel.
„Der Soul aus Memphis unterscheidet sich von anderen Stilen durch die Art, wie die Musiker ihre Blasinstrumente spielen, sehr roh, sehr emotional“, sagt John Thatcher von der STAX-Stiftung. Das Plattenlabel STAX darf sich rühmen, den ersten African American unter Vertrag gehabt zu haben, der einen Oscar für eine Filmmusik gewann. Isaac Hayes wurde im Jahr 1972 für „Shaft“ ausgezeichnet. Das STAX-Studio liegt im Viertel Soulsville, in einem ehemaligen Filmtheater, wo die Häuser baufälliger und kleiner sind als in den besseren Gegenden. Wie das Sun Studio, das ein wenig verloren an einer Kreuzung steht, wirkt das STAX-Gebäude von außen sehr museal. Wer es betritt, spürt aber das neue Leben darin. Montags proben Musikschüler hier. Mit Spenden unterstützt die STAX-Stiftung Kinder aus der Stadt. Sie bekommen Geigen-, Trompeten- oder Gesangsunterricht, manche werden für Berufe in der Musikindustrie ausgebildet. „Die Nachbarschaft war immer wichtig für den Erfolg von STAX“, sagt John Thatcher und zeigt auf eine Schautafel an einer Wand, auf der die Wohnhäuser berühmter Sänger aus der Gegend verzeichnet sind. Nun sei es an der Zeit, den Bewohnern etwas zurückzugeben.
Das Motel, in dem Martin Luther King 1968 erschossen wurde, ist heute das National Museum of Civil Rights.
Ein Touristenmagnet ist das Lorraine Motel. Während der Rassentrennung war es im „Green Book“ verzeichnet, einer Liste mit Unterkünften für African Americans. Martin Luther King wurde hier erschossen, am 4. April 1968. King war noch ein junger Pfarrer, als er mit der Rassendiskriminierung konfrontiert wurde. 1955 wurde in Montgomery eine Afroamerikanerin verhaftet, weil sie sich geweigert hatte, in einem Bus einem Weißen Platz zu machen. King setzte sich nach diesem Ereignis an die Spitze einer Bewegung, die zum Boykott der Busse aufrief. Diese Szene ist im National Museum of Civil Rights, das sich heute im Lorraine Motel befindet, nachgestellt.
Von einer Leinwand flimmern Filmsequenzen von Festnahmen bei Sit-ins, die einen erschaudern lassen, weil sich im Hinblick auf rassistische Gewalt bis heute so wenig geändert hat. Kings berühmte Rede können Besucher in einer kleinen Kabine als Audio hören. Sie geht unter die Haut: „Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.“
Viele Weiße sitzen heute, über 50 Jahre nach Kings Tod, nicht in den Bars und Cafés in den alten Backsteinhäusern in Downtown, beispielsweise im „The Garden“. Manche sprechen von einem „White Flight“ – einem Wegzug der Weißen. Aber für Touristen ist Memphis dennoch attraktiv, nicht nur wegen Graceland, dem Wohnhaus von Elvis, sondern wegen der Menschen, für die Gastfreundschaft eine Herzensangelegenheit ist. Aus einem mehrstöckigen Loft an einer Straßenecke wurde ein hübsches Boutique-Hotels namens „Arrive“. Mit wenig Geld, aber viel Liebe, haben Bewohner einen Laden mit Büchern und Geschenken renoviert. Durch die Hauptstraße ruckelt eine nostalgische Straßenbahn. Wer tagsüber bei Sonnenschein durch Memphis läuft, kann sich nicht vorstellen, dass es in einigen Gegenden gefährlich sein soll.
Gottesdienst und Konzert
Einen ähnlichen Traum wie Martin Luther King hat der Soulsänger und Reverend Al Green. In der Full Gospel Tabernacle in der Hale Road beginnt sein Gottesdienst um 11:30 Uhr. Bis auf vier Besucher sind an diesem Tag alle Gläubigen Afroamerikaner. Sein Stuhl sieht aus wie ein Thron, mit einer Schärpe, auf der sein Name steht. Die Messen sind mehrstündige Konzerte. „Mich hat interessiert, was er predigt und wie er das Wort Gottes interpretiert“, sagt Martin, „darum kam ich vor einem Jahr zum ersten Mal her.“ Dann taucht Al Green auf, den das Musikmagazin Rolling Stone zu den besten 100 Sängern aller Zeiten zählt – seinen rundlichen Körper verhüllt ein weißes liturgisches Gewand. Während er mit den Gläubigen betet, raunen die Besucher und sprechen wie in Trance mit sich selbst, eine ältere Frau mit einem lila Tüll-Hut murmelt bestärkende Worte wie „yeah“ und „right“, die sie wie Punkte hinter Greens Sätze setzt. Über Schießereien oder Politik spricht Green nicht.
Häufig erinnern Graffiti in Memphis an frühere und heutige Kämpfe gegen Rassismus.
In Midtown hat Karen Carrier in einem ehemaligen Frisörsalon ein Restaurant eröffnet. Im „Beauty Shop“ sitzen die weißen und afroamerikanischen Gäste zusammen zwischen gläsernen Trennwänden aus den 1950er-Jahren, neben Trockenhauben. „Eine der berühmtesten Kundinnen hier war früher Priscilla Presley“, sagt der Kellner Darren, der wie viele junge Menschen von der Stadt schwärmt. „Ich bin kein Partygänger“, sagt er, „wenn ich frei habe, gehe ich gern mit meinem Hund spazieren oder fahre Fahrrad am Fluss.“
Der Mississippi ist wirklich etwas Besonderes. Eine Brücke über ihm verbindet zwei US-Bundesstaaten. Schon in Mark Twains Roman Die Abenteuer des Huckleberry Finn aus dem Jahr 1884 brachte der Fluss einen weißen Jungen und einen Sklaven zusammen. Ob das Buch als unkritische Jugendlektüre taugt, ist umstritten, ein Verlag ersetzte das N-Wort darin 2011 durch die Bezeichnung „Slave“. Aber die Freundschaft, die Twain schildere und die über alle Unterschiede hinweg zwei Menschen verbinde, mache ihm Mut, sagt Greg, ein weißer Memphian. Kamala Harris drücken Menschen wie er die Daumen.