Queerer Gott?

Klartext
Foto: privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Anne-Kathrin Kruse. Sie ist Dekanin i.R. in Berlin.

Fröhliche Leber

16. Sonntag nach Trinitatis, 15. September

Es freut sich mein Herz und es jubelt meine Leber, auch mein Fleisch wird sicher wohnen. Denn du wirst meine Seele nicht dem Totenreich überlassen und wirst nicht zulassen, dass dein Getreuer in der Grube endet. (Psalm 16,9–10)

Ich gehe gerne auf Friedhöfe. Denn ich finde tröstlich die Ruhe, das Rauschen der alten Bäume, Leute, die sich Zeit für ihre Trauer nehmen, frische Blumen bringen und das Unkraut vom Grab ihrer Lieben zupfen. Ich wandere von Grab zu Grab, lese Namen und Lebensdaten und denke darüber nach, wie die Toten wohl ihr Leben gelebt haben. Sie und mich eint die Endlichkeit des Lebens. Und umso dankbarer bin ich dafür, dass ich auf dieser Erde noch eine Weile unterwegs sein darf.

Dass Jesus dem Tod die Macht genommen hat, ist zunächst nichts mehr als eine kühne Behauptung, angesichts der harten Realität des Todes, der Angst vor einem zu frühen Tod ohne Abschied, dem einsamen Sterben, der großen Leere und dem Gefühl, von Gott und den Menschen verlassen und vergessen zu sein. Der 16. Psalm verschweigt diese harte Realität nicht. Aber er weckt die Hoffnung, dass Gott uns auch im Tod nahe bleibt, behütet und bewahrt. Selbst wenn wir in die Grube gelegt werden, lässt er uns nicht los.

Diejenigen, die diesen Psalm mit geradezu heiterer Melodie und in so fröhlich zuversichtlichen und lebensbejahenden Bildern singen, sind überzeugt, dass sie mit Gott das große Los gezogen haben. Denn nicht einmal der Tod kann ihre Gemeinschaft mit Gott zerstören. Er wird uns nicht für immer dem Totenreich überlassen. Und dabei kommen sie ihm ganz nah.Es freut sich das „Herz“, nach biblischem Verständnis der Sitz von Vernunft und Entscheidung. Und es jubelt die „Leber“, der Ort der Gefühle. Denn mein „Fleisch“ mit Haut und Haar ruht in Sicherheit. Und meine Seele, die „Kehle“, durch die mein Atem mich lebendig macht, ist meine Lebenskraft und widersetzt sich dem Versuch, vom Körper abgespalten zu werden.

Im Judentum wird der 16. Psalm regelmäßig bei Beerdigungen gebetet – und zwar ausgerechnet gerade dann, wenn der Leichnam ins Grab gesenkt und mit Erde bedeckt wird. Paradoxer geht es kaum. Angesichts des Todes malt der 16. Psalm eine andere Wahrheit vor Augen: Gott ist körperlich so nah, wie es kaum näher geht. Er lässt seine Getreuen nicht im Tod zurück, sondern führt sie auf den Weg zum Leben.

Ort der Utopie

17. Sonntag nach Trinitatis, 22. September

Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich noch weiblich, denn alle seid ihr einzig-einig im Messias Jesus. (Galaterbrief 3,28)

Mit einem Mal gelangt ein unscheinbarer Vers aus dem Galaterbrief zu politischer Brisanz. Denn da ist nicht männlich noch weiblich. Sondern? „Gott ist queer.“

Wegen dieser drei Worte in der Predigt, die er im Gottesdienst zum Abschluss des Nürnberger Kirchentages im vergangenen Jahr hielt, erntete der ostfriesische Pastor Quinton Ceasar Beifall, aber vor allem eine Flut hasserfüllter Reaktionen. Diejenigen, die ihm Gotteslästerung vorwarfen, verstanden unter „queer“ offenbar ein sexuell schlüpfriges Schmähwort und empfanden es als Beleidigung Gottes. Dabei erinnert der Satz bei näherem Hinsehen daran, dass Gott sich jeglicher Festlegung auf eine Identität entzieht, auch der geschlechtlichen.

„Gott bin ich, kein Mann“, sagt Gott im alttestamentlichen Hosea-Buch (11,9). Die Bibel selbst erzählt von Gott in Hülle und Fülle von Bildern. Gerade so sorgt sie dafür, dass sie sich einander infrage stellen. Und so ehrt die Bibel den Namen Gottes, indem sich Gott zugleich zeigt und verhüllt. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, weder von Gott noch von den Menschen, verlangt das 2. Gebot nach reformierter Zählung (2. Mose 20,4).

Als Paulus den Galaterbrief schrieb, hatte er natürlich ganz andere Menschen vor Augen als uns. Aber die Kategorien, in die er Menschen einteilt, sind nicht überholt: ethnische und religiöse Herkunft, soziales Milieu, biologisches wie soziales Geschlecht. Auch wir verwenden Gegensätze von entweder-oder, Deutsche oder Migranten, arm oder reich, Junge oder Mädchen, schwarz oder weiß. Und diese Bezeichnungen sind selten neutral.

Als Paulus lebte und wirkte, galt: Jüdisch ist besser als griechisch (das heißt nichtjüdisch), der freie Bürger besser als der Sklave, der Mann besser als die Frau. Und heute gilt meist unausgesprochen: besser biodeutsch als jemand mit Migrationshintergrund, besser Wessi als Ossi, besser heterosexuell als homosexuell.

Vielleicht stieß Pastor Ceasar auch deshalb auf so viel Abwehr, weil er die Erfahrung satt hat, als „People of Color-Person“ in Schubladen gesteckt zu werden, in denen er sich nicht gesehen fühlt. Dass er in der deutschen Kirche nach vielen Jahren noch immer mit Vorurteilen zu kämpfen hat. „Es ist leichter, von befreiender Liebe zu predigen, als eine Liebe zu leben, die befreit“, sagte er. 

„Imagine there’s no heaven, no countries, no possessions” sang John Lennon 1971 und träumte von einem Weg zum Frieden jenseits von Religion, Nationalismus und Besitz. Allerdings fehlen bei Lennons Gedankenspiel konkrete Schritte zur Verwirklichung einer Utopie. Das ist bei Paulus anders. Bei ihm findet die Utopie ihren Ort in einem Menschen – bei Jesus, dem Messias. Bei ihm gibt es keine Schubladen. Vielmehr finden unterschiedliche Menschen gleicher Würde in gerechten Beziehungen ihren Platz. Dass das bis heute eine Utopie ist, ist offensichtlich. Bis sie Wirklichkeit wird, braucht es Unruhestifter, die Jesu Auftreten in der Welt gerade nicht als Erfüllung aller Verheißungen verstehen, sondern als Ansporn, Gottes Verheißungen ernst zu nehmen und sich in Bewegung zu setzen.

Heilsamer Halt

Michaelis, 29. September

Da öffnete Gott Bileam die Augen, und er sah, wie der Bote Gottes auf dem Weg stand, mit gezücktem Schwert in der Hand. Und er verneigte sich und warf sich nieder auf sein Angesicht. Der Bote Gottes aber sprach zu ihm: Warum hast du deine Eselin dreimal geschlagen? Siehe, ich habe mich als Gegner dir entgegengestellt, denn du bist auf dem verkehrten Weg. Und die Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Wäre sie mir nicht ausgewichen, wollte ich dich jetzt töten … (4. Mose 22,31–33)

Am Morgen nach der Geburt meiner Tochter fand ich auf meinem Nachttisch eine Karte mit dem 11. Vers des 91. Psalms: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Und das traf ins Schwarze. Gott hatte mir sämtliche Engel geschickt, um meine Tochter und mich bei der Geburt zu behüten.

Nach wie vor nimmt der Spruch auf der Rangliste der beliebtesten Taufsprüche den ersten Platz ein. Engel sind en vogue. Ja mir scheint, je weiter Gott in die Ferne rückt, desto wichtiger werden Engel als stets freundliche Lebensbegleiter, als Schutzengel, Friedensengel, unverbindliche Garanten eines sicheren Lebens.

Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich meine Wege waren, die ich in meinem Leben gegangen bin, und ob sich mir nicht viel öfter ein Engel in den Weg gestellt hat und ich so andere Wege suchen musste. So wie in der Geschichte von Bileam und seiner Eselin: Balak, der König von Moab (dem heutigen Jordanien) fühlt sich von dem aus Ägypten heraufziehenden Flüchtlingsvolk Israel bedroht. „Dieser Haufen wird alles um uns herum auffressen, wie das Rind das Grün auf dem Feld abgrast“ (4. Mose 22,4). Darum engagiert der König Bileam als eine Art religiösen Dienstleister (Bileam GmbH: Vorhersehungen, Verfluchungen und Segnungen aller Art). 

Er soll Israel verfluchen. Und dann hätte Balak leichtes Spiel mit ihm. Doch schon auf dem Weg wird Bileams Glaubwürdigkeit erschüttert. Er, der ein ganzes Volk vertreiben soll, schafft es nicht einmal, seine Eselin mit Schlägen auf dem Weg zu halten. Ausgerechnet der große Seher sieht nicht, was seine Eselin sieht, die ausweicht und ihm so das Leben rettet. Denn ein mit einem Schwert bewaffneter Engel Gottes hat sich ihm in den Weg gestellt. 

Die Situation löst sich erst auf, als Gott der Eselin den Mund öffnet und sie sprechen lässt: „Was habe ich dir getan, dass du mich schlägst?“ (4. Mose 22,28). Zugleich öffnet er Bileam die Augen, so dass auch er den Engel sieht, der wie der Erzengel Michael ein Schwert hält, das für Gerechtigkeit und die Schärfe des Wortes Gottes steht.

Wie erkenne ich eigentlich Gottes Willen, sein Wirken in dieser Welt – und auf meinen Lebenswegen? Von Zeit zu Zeit brauche ich so einen Engel, der mich unterbricht, sich mir in den Weg stellt und mir die Augen öffnet.

Gesegnetes Nichtstun

Erntedank, 6. Oktober

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Und er hat nichts verworfen, was mit Dankbarkeit angenommen wird. Es wird nämlich heilig durch Gottes Wort und Gebet. (1. Timotheus 4,4–5)

Wie begehen wir den Dank für die Ernte dieses Jahres? Der Verfasser des Ersten Timotheusbriefs begegnet den Forderungen seiner Gegner mit der ersten Schöpfungserzählung: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“ (1. Timotheus 4,4), und erinnert an die große Sehnsuchtserzählung von einem gemeinschaftlichen Leben aller Kreaturen. „Krone der Schöpfung“ ist offenbar nicht die Menschheit. Denn für ihre Schöpfung ist nicht einmal ein eigener Tag reserviert. „Krone der Schöpfung“ ist vielmehr der Schabbat, der siebte Tag. An diesem Tag vollendet Gott sein Schöpfungswerk, indem er selbst Atem schöpft, ruht und dieses Atem-Schöpfen auch den Menschen zum Geschenk macht. Ein Festtag für Leib und Seele. 

Zugleich ist der Schabbat mit der Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten ein Tag der Freiheit, ein Stück Anarchie. Alle haben ein Recht darauf, Atem zu schöpfen und zu feiern. Gottes Ruhen am Schabbat wird zum Vorbild für ein Leben, das im Machen nicht aufgeht. Vielmehr segnet Gott das Unterlassen, das Aufhörenkönnen.

Aber das Thema soziale Gerechtigkeit entfaltet sich noch weiter, abenteuerlich utopisch, im Schabbat-Jahr: Ein ganzes Jahr lang werden Schulden erlassen, um eine Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm zu verhindern. Das Land liegt brach und kann sich erholen. Die Ernte steht Menschen ohne Grundbesitz zur Verfügung, ebenso wie der Zehnte, die erste Sozialsteuer der Geschichte.

Weltwirtschaftlich wird das kaum funktionieren. Aber diese gewagten Ideen können das Nachdenken über eine gerechte Ernte beflügeln. „Ohne Brot keine Gerechtigkeit – ohne Gerechtigkeit kein Brot“, lautet ein Grundsatz des Judentums.

 

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