Auch voneinander lernen

Wolfgang-Michael Klein schreibt eine Arbeit über Evangelikale und Bibel in Deutschland
Lachender junger Mann mit weißem Hemd - Michael Klein
Foto: Adrian Walter/Narmo Visuals

Der Heidelberger Theologe Wolfgang-Michael Klein promoviert über evangelikales Bibelverständnis. Das lohnt sich, denn in den vergangenen Jahrzehnten hat sich dort einiges getan.

Als Siebenbürger Pfarrerskind wollte ich durchaus nicht Theologe werden, sondern Kirchenmusik studieren. In Folge eines Kindheitsunfalls hängte ich diesen Traum jedoch an den Nagel und ging der Anregung meiner Religionslehrerin nach. So habe ich gerne in Berlin, Glasgow und Heidelberg Theologie studiert. In Heidelberg kam ich auch zu meinem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Promotionsprojekt, mit dem ich jetzt kurz vor dem Abschluss stehe. Es trägt den (Arbeits-)Titel „Evangelikale Bibelhermeneutiken seit 1990 im deutschsprachigen Raum“.

Ursprünglich wollte ich meine Dissertation zu der Frage schreiben, ob und wie weit sich religiöse in säkulare Sprache übersetzen lässt. Aber das neue Projekt hat mich schnell überzeugt. Zum einen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf diesem Feld viel getan; zum anderen betritt meine Arbeit tatsächlich Neuland. Knapp zusammengefasst, zeichnet meine Studie nach, wie evangelikale Hochschullehrer heute die biblischen Texte verstehen und ihren Umgang mit diesen reflektieren.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil kontextualisiere ich evangelikale Bibelhermeneutiken, beginnend mit zentralen Begrifflichkeiten. Dabei arbeite ich unter anderem heraus, was ich unter „Evangelikalismus“ und christlichem „Fundamentalismus“ verstehe. Wichtig ist hier etwa, dass weder Evangelikalismus im Fundamentalismus aufgeht noch umgekehrt. Fundamentalismus verstehe ich vor allem als eine Tendenz, die sich an Lehrgehalten wie an ethischen Normen zeigen lässt. Im Anschluss daran zeichne ich die institutionelle Ausdifferenzierung des deutschsprachigen Evangelikalismus nach. Dabei analysiere ich unter anderem vier wichtige außeruniversitäre Ausbildungsstätten: die Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel, die Evangelische Hochschule Tabor, die Internationale Hochschule Liebenzell und die Freie Theologische Hochschule Gießen. Darüber hinaus kommen auch evangelikale Verbünde und Organisationen in den Blick.Zum Abschluss des ersten Teils stelle ich mit Johann Salomo Semler, Ernst Troeltsch und Rudolf Bultmann drei Theologen vor, die in unterschiedlicher Weise für ein modernes, aufgeklärtes Christentum stehen, im Raum der evangelikalen Theologie bis heute jedoch als Wegmarken des als falsch empfundenen Pfades der neueren Theologie stilisiert werden. Im Fokus ist bis heute Rudolf Bultmann, obwohl gerade er offenkundig pietistische Anliegen verfolgte.

Im zweiten Teil erfolgt die inhaltlich-materiale Auseinandersetzung mit evangelikalen Bibelhermeneutiken. Das vierte Kapitel fokussiert die auslegende Person, das fünfte das Objekt der Bibelauslegung. In diesen Kapiteln werden die inhaltlichen Konzeptionen umfänglich analysiert. Dabei arbeite ich unter anderem die Inversion von auslegendem Subjekt und Objekt der Auslegung heraus, die für die allermeisten untersuchten Bibelhermeneutiker den Maßstab bildet. Infolge dieser Umkehrung wird die auslegende Person – ich verstehe darunter diejenige, die denkend an Texten arbeitet – letztlich nicht zum Thema gemacht: Die Bibel lege den Menschen aus. Auslegende haben sich vor allem unterzuordnen und den Geist wirken zu lassen. Den tieferen, eigentlichen Sinn erschließe nur der geistgewirkte Glaube.

Ohne Frage ist es ein wichtiges Moment festzuhalten, dass es Dimensionen des Textverständnisses gibt, die nicht bis ins Letzte rationalisierbar sind. Wir sollten dem Heiligen Geist etwas zutrauen. Auch von der expliziten Thematisierung von Frömmigkeit im Curriculum der Hochschulen kann universitäre Theologie meiner Meinung nach lernen. Jedoch sollte selbst bei frommem Bibelzugriff Gott eine Chance gegeben werden, sich auch gegen unser Vorverständnis ins Spiel zu bringen. Wenn evangelikale Theologie den Anspruch auf Bibelgemäßheit aufrecht erhalten will, muss sie sich die eigene Form, Gott, Glaube und Kirche zu denken und zu leben, auch von biblischen Texten her infrage stellen lassen. Gerade die teils überschießende Polemik gegenüber universitären Ansätzen verkennt, dass auch historisch-kritisches Arbeiten als Ausdruck der Demut gelesen werden kann, da hier versucht wird, biblische Aussagen nicht mit eigenen Vorverständnissen zu überlagern. Im Ansatz der meisten untersuchten Bibelhermeneutiken, Auslegende kaum zum Thema zu machen, liegt demgegenüber die Gefahr, sich selbst und sein Denken an die Stelle von Gottes Geist zu setzen.

Ein Thema, das die Kirchen der Welt seit langem beschäftigt, ist das Thema Homosexualität. Besonders im evangelikalen Kontext wird der Umgang mit homosexuellen Menschen als Grundsatzfrage stilisiert. Gegenüber Forderungen von Toleranz oder gar Akzeptanz wird hier vielfach vertreten, dass Bibeltreue hieße, Homosexualität abzulehnen. In einem Kapitel zur ethischen Anwendung der Bibelhermeneutiken zeige ich anhand dieses Beispielthemas, inwiefern die konkrete Auslegung der von mir untersuchten Hochschullehrer ihren eigenen, in den Hermeneutiken formulierten Ansprüchen genügt und welche Rolle die eigenen Prägungen und Vorverständnisse bei der Auslegung spielen.

Im letzten Kapitel meiner Studie stelle ich die Frage, wie mit dem untersuchten theologischen Spektrum umzugehen ist. Positionen wie die von Christoph Raedel auf der einen und Thorsten Dietz auf der anderen Seite machen deutlich, dass eine pauschale Ablehnung des deutschsprachigen Evangelikalismus als „fundamentalistisch“ nicht haltbar ist. Entsprechend differenziere ich hier nochmals auf Basis der Ergebnisse und benenne aufgefundene fundamentalistische Tendenzen und Ansätze.

Abschließend arbeite ich heraus, was das gemeinsame Anliegen von evangelikaler Theologie und Universitätstheologie ist. Dass die Auslegung biblischer Texte auch heute diesen gerecht wird, ist beiden Seiten ein ehrliches und ernstes Anliegen. Die Hochschätzung der Demut gegenüber biblischen Texten könnte hier ein sinnvoller gemeinsamer Ansatz sein, das eigene Missverstehen biblischer Texte nicht zum Sonderfall oder gar als pauschales Ergebnis der „anderen“ Seite anzusehen, sondern als Normalfall zu betrachten. Entsprechend plädiere ich dafür, dass die geforderte Demut selbstreflexiv werden muss. Auslegende sollten auch ihre eigenen Prägungen hinterfragen, um nicht nur das Erwartbare in biblischen Texten zu finden. Ich würde mich freuen, mit meiner Studie dazu beizutragen, dass beide Seiten auch ein Stück weit voneinander lernen. Die Besinnung auf Selbstreflexion und Demut könnte dabei helfen. Wechselseitige Polemik hilft jedenfalls nicht weiter. 

 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

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Foto: Adrian Walter/Narmo Visuals

Wolfgang-Michael Klein

Wolfgang-Michael Klein promoviert über evangelikales Bibelverständnis an der Universität in Heidelberg.


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