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Wie Schulen mit innovativen Konzepten auf die Bildungskrise antworten
Multiprofessionelle Teams im Unterricht – dafür bekam die Bonner Kettelerschule 2019 den Deutschen Schulpreis.
Foto: Max Lautenschläger für Robert Bosch Stiftung
Multiprofessionelle Teams im Unterricht – dafür bekam die Bonner Kettelerschule 2019 den Deutschen Schulpreis.

Die Probleme an deutschen Schulen sind oft benannt worden, aber welche Lösungen gibt es? Die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung vergeben jährlich den Deutschen Schulpreis an Schulen, die mit neuen Konzepten auf die Herausforderungen reagieren. Andrea Preußker und Dana Tegge vom Bereich Bildung bei der Robert Bosch Stiftung stellen drei Preisträger und ihre Lösungen vor.

Unser Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen. Zudem ist seit nahezu 25 Jahren bekannt, dass in Deutschland die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen unverändert in einem starken Zusammenhang mit ihrer sozialen Herkunft stehen. Der Umgang mit der Digitalisierung, die wachsende Vielfalt der Schülerschaft und der gravierende Personalmangel belasten die Lehrkräfte massiv. Für viele dieser strukturellen Probleme sind politische Lösungen gefragt.

Ein Blick in die Schulpraxis zeigt aber auch: Vielerorts haben sich Schulen auf den Weg gemacht und suchen selbst nach Antworten auf die komplexen Herausforderungen ihres Alltags. Nicht selten mit Erfolg. Einige dieser Schulen – insgesamt mehr als 100 – wurden seit 2006 von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Mit ihren innovativen Konzepten sind sie Vorbilder für andere Schulen und zeigen, dass erfolgreiche Bildungsbiografien grundsätzlich überall möglich sind. Denn auch die ausgezeichneten Schulen kämpfen mit fehlenden personellen Ressourcen und den sozialen Risikolagen ihrer Schüler:innen. Ihre Ausstattung unterscheidet sich nicht von der Ausstattung anderer Schulen. Trotz oder gerade wegen ihrer oft schwierigen Ausgangslage haben Schulen tiefgreifende und erfolgreiche Entwicklungen durchlaufen. Das zeigen exemplarisch die folgenden Beispiele in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern.

Die Befunde des IQB-Bildungstrends 2022 und das Abschneiden der Schüler:innen bei der PISA-Studie 2022 zeigen, dass der Bildungserfolg in Deutschland nach wie vor stark an die soziale Herkunft gekoppelt ist. Im internationalen Vergleich ist dieser Effekt in Deutschland überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Die Preisträger des Deutschen Schulpreises haben Ansätze entwickelt, die diesem Effekt entgegenwirken.

Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit

So verfolgt die Eichendorffschule Erlangen, die im vergangenen Jahr mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, mit ihrem Entwicklungsprozess eine klare Vision: einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit zu leisten und allen Lernenden eine erfolgreiche Bildungsbiografie zu ermöglichen. Fast 400 Schülerinnen und Schüler besuchen die bayerische Mittelschule, die in anderen Bundesländern mit einer Hauptschule vergleichbar ist. 69 Prozent haben einen Migrationshintergrund, 35 Prozent der Elternhäuser beziehen Transferleistungen. Viele Schüler:innen kommen mit einem geringen Selbstbewusstsein an die Eichendorffschule und verbinden mit ihrer Grundschulzeit vor allem das Gefühl des Scheiterns. Der Erfolg des Konzepts zeigt sich etwa in den formalen Lernergebnissen – keine Schülerin und kein Schüler verlässt die Schule ohne einen Abschluss.

Eine Besonderheit der Schule ist der „Raum der Mathematik“, in dem Kinder der fünften und sechsten Jahrgangsstufe in ihrem eigenen Tempo selbstständig mathematische Inhalte erarbeiten. Mit diesem innovativen Konzept schafft es die Schule, dass Lernende ihre schlechten Erfahrungen in der Mathematik kompensieren und so ihr Selbstbewusstsein stärken können und wieder Freude am Lernen finden. Der „Raum der Mathematik“ ist dabei ein wichtiger Baustein in der Vorbereitung für das selbstgesteuerte und eigenverantwortliche Lernen in den Lernbüros, die ab der siebten Jahrgangsstufe den konventionellen Frontalunterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch komplett ablösen.

Keine Hausaufgaben

Durch einen gebundenen Ganztagsbetrieb mit vielfältigen musischen, kulturellen, ökologischen und technischen Angeboten wird den Kindern und Jugendlichen mehr Zeit zur Förderung der individuellen Kompetenzen eingeräumt und zugleich auf Hausaufgaben verzichtet. Die Schule arbeitet eng mit Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zusammen, um den aktuellen Forschungsstand in ihrer Entwicklung berücksichtigen zu können.

Wesentlich für das Gelingen des Schulkonzeptes ist die gemeinsame Haltung des Kollegiums, bei der die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen. Schulentwicklung wird als ein fortlaufender Prozess verstanden und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Voraussetzungen der Lernenden immer weiterentwickelt. Auch das Rollenverständnis verändert sich: von der Lehrkraft hin zu Lernbegleiterinnen und -begleitern.

Arbeitsbelastung, Zeitmangel und fehlendes Personal zählen laut dem Deutschen Schulbarometer zu den größten Herausforderungen, denen sich Lehrkräfte derzeit in ihrem Arbeitsalltag stellen müssen. Dass Kooperation und Kollaboration helfen, Lehrkräfte zu entlasten und ihre Arbeitszufriedenheit zu steigern, zeigt die Kettelerschule in Bonn. Schon 2019, als sie mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde, waren multiprofessionelle Teams dort selbstverständlich.

Rund 225 Schülerinnen und Schüler besuchen die Gemeinschaftsgrundschule, etwa 70 von ihnen haben einen diagnostizierten Förderbedarf. Um die Kinder bestmöglich und ganzheitlich fördern zu können, setzt sich das Kollegium bewusst aus unterschiedlichen Professionen zusammen, die sich gegenseitig unterstützen und ergänzen.

Jede Lerngruppe, in der die Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse gemeinsam lernen, wird von einem multiprofessionellen Team begleitet. Dazu zählen neben den Klassenlehrkräften auch Erzieher:innen, die an zwei Tagen in der Woche den Unterricht mitgestalten. Außerdem gehören – je nach Förderbedarf der Kinder – die Schulbegleitung und Sonderpädagog:innen fest zum Team einer jeden Lernfamilie.

Die Erfolgsfaktoren sind eine wertschätzende Haltung, gegenseitiges Vertrauen und ein gutes Miteinander, eine klare Aufgabenteilung und ein transparentes Rollenverständnis und transparente Kommunikation sowie regelmäßige Teambesprechungen und verlässliche Strukturen. Damit alle von den multiprofessionellen Teams profitieren, müssen die jeweiligen Zuständigkeiten, Grenzen und das Rollenverständnis klar definiert sein. Wie das gelingt, zeigt sich bereits im Stundenplan, der Gruppenteilungen vorsieht. Es gibt unterschiedliche AGs und die Expertenzeit, in der die Kinder angeleitet von Lehrkräften oder Erzieher:innen vertieft an einem Thema arbeiten, das sie besonders interessiert.

Jede Woche findet in den Lernfamilien eine Teambesprechung statt, an der neben den Lehrkräften auch Sonderpädagog:innen, Erzieher:innen und gegebenenfalls die Schulbegleitungen teilnehmen.

Das hohe Maß an selbstständigem und selbstorganisiertem Lernen der Schüler:innen gibt den Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften Freiräume für die individuelle Förderung. Außerdem können sie bei Engpässen Vertretungen übernehmen und haben Zeit für eine umfassende Diagnostik, die ebenfalls ein Schwerpunkt der Kettelerschule ist.

An der Beruflichen ITECH Schule in Hamburg-Wilhelmsburg, Preisträgerschule im Jahr 2023, wird der digitale Wandel seit Jahren als Chance gesehen. Die Schule verfügt über eine gute Ausstattung mit digitalen Medien und die Nutzung digitaler Lernformen gehört zum Schulalltag. Das Innovative am Schulkonzept der ITECH ist die Verbindung des digitalen und pädagogischen Konzepts. Digitale Medien ermöglichen und unterstützen Lernsituationen, werden aber nie zum Selbstzweck eingesetzt.

Die Lernenden entscheiden über ihr eigenes Lerntempo, die Einteilung der Lernzeit, den Einsatz von Methoden und Techniken sowie den Lernort. Der fachliche Input der Lehrenden ist lediglich ein offenes Angebot und für alle Lernenden freiwillig. Die IT-Infrastruktur ermöglicht die digitale Zusammenarbeit in virtuellen Lernräumen über den Klassenraum hinaus auf dem Schulgelände bis hin zum Wohnort der Schüler:innen.

Erweiterte Schulleitung

Die erweiterte Schulleitung teilt sich die Verantwortung und Kompetenzen und trägt so zur Entlastung und Akzeptanz im Kollegium bei. Zur erweiterten Schulleitung gehört unter anderem eine Lehrkraft, die für Schulentwicklung und institutionelle Kooperationen zuständig ist. Eine weitere Lehrkraft betreut die IT-Infrastruktur. Die Schule hat ein Qualitätsmanagement aufgebaut, das eine systematische und agile Schulentwicklung ermöglicht. Auf der Grundlage ihres Leitbildes entwickelt die Schule eine klare Vision der Unterrichtsentwicklung, des Lehrens und Lernens. Die Rückkopplung ins Kollegium gelingt durch das Teamkonzept der Schule. Die Abteilungsteams entwickeln während festgelegter Teamzeiten gemeinsam Unterrichtsmaterialien und lassen sich dabei von anderen Abteilungen inspirieren.

Jede der drei vorgestellten Schulen weist konzeptionelle Besonderheiten auf. Dennoch lassen sich übergreifende Gelingensbedingungen beobachten, die einen Schulentwicklungsprozess stützen, der den Lernerfolg der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt. Der Schulleitung kommt dabei eine zentrale Rolle zu. In vielen der Preisträgerschulen zeigt sich, dass eine erweiterte Schulleitung oder ein Leitungsteam professioneller agieren und die mit der Funktion verknüpften Aufgaben besser erfüllen kann als eine einzelne Führungsperson.

Aber auch die multiprofessionelle Zusammensetzung des Kollegiums und die engagierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit sind von entscheidender Bedeutung. Das gilt für die inhaltliche Vorbereitung der Lernmaterialien in den Lernbüros der Eichendorffschule, für die Entwicklung von Unterrichtsmodulen an der Beruflichen Schule ITECH oder für die Fokussierung auf eine umfassende Diagnostik und individuelle Förderung an der Kettelerschule in Bonn.

Eigenverantwortlich lernen

Im Zentrum der hier vorgestellten Konzepte steht das eigenverantwortliche und individualisierte Lernen der Schüler:innen. Aus der Notwendigkeit und dem Anspruch heraus, alle Schüler:innen bestmöglich zu fördern, haben die vorgestellten Schulen ihre spezifischen Wege gefunden, mit aktuellen Herausforderungen im Bildungssystem umzugehen. Sie zeigen exemplarisch Wege auf, wie Schulentwicklung konkret aussehen und langfristig gestaltet werden kann. Die Schulen haben ihren Unterricht weiterentwickelt und den traditionellen Unterricht und alte Muster hinter sich gelassen.

Denn Schulen werden immer den Herausforderungen begegnen müssen, das Lernen so zu gestalten, dass damit ein Beitrag zu einer zukunftsfähigen, individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung geleistet wird. Schulen sollen ihre Lernenden befähigen, fundierte Entscheidungen zu treffen, um auf lokaler, nationaler und globaler Ebene individuell und kollektiv zu handeln und ihr Leben in Eigenverantwortung und sozialer Verantwortung für eine global gerechte, nachhaltige und demokratische Welt zu gestalten. Die Beispiele der vorgestellten Schulen können hier Vorbild sein und anderen Schulen Inspiration geben. 

 

Literatur
Lewalter, D., Diedrich, J., Goldhammer, F., Köller, O. & Reiss, K. (Hg.): PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutschland. Waxmann Verlag, Münster 2023.

OECD (2019): TALIS 2018 Results (Volume I): Teachers and School Leaders as Lifelong Learners, OECD Publishing.

Robert Bosch Stiftung: Deutsches Schulbarometer. Befragung Lehrkräfte. Ergebnisse zur aktuellen Lage an allgemein- und berufsbildenden Schulen. Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2024.

Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Weirich, S., Henschel, S., Sachse, K. A. (Hg.): IQB-Bildungstrend 2022. Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Waxmann Verlag 2022.

Weiterführende Informationen
www.deutsches-schulportal.de
www.deutscher-schulpreis.de

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Foto: Robert Bosch Stiftung

Andrea Preußker

Andrea Preußker ist Teamleiterin „Gute Kitas und Schulen“ bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.

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Dana Tegge

Dr. Dana Tegge ist Senior Expert des Handlungsfeldes „Gute Kita und Schule“ der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart.


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