Die ewige Baustelle

Warum das deutsche Bildungssystem nicht aus der Krise kommt
Klasse
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Vor fast 25 Jahren zeigte der berühmte PISA-Schock den Deutschen, wie ungerecht ihr Schulsystem ist. Heute ist die Bildungslage der Nation tatsächlich noch kritischer – trotz exzellenter Einzelschulen. Der auf Bildungsthemen spezialisierte Journalist Christian Füller beschreibt die Dauerbaustellen an deutschen Schulen und einige Lichtblicke.

Vor Kurzem war es wieder so weit. Vergleichsarbeiten in einem Stadtstaat zeigten: 43 Prozent der Drittklässler erreichen die Mindeststandards in Deutsch nicht. In Mathe reißen sogar 46 Prozent die Latte. Das bedeutet im Klartext: Schule erfüllt ihren Auftrag nicht mehr. Sie bringt fast der Hälfte der Kinder Schreiben und Rechnen nicht bei. In den USA nennt man das Phänomen „failing schools“. Gescheiterte Schulen. Dort weiß man, mit solchen Einrichtungen umzugehen: Man schließt sie. Sie werden aufgelöst und mit neuem Personal neu gegründet.

Die erschütternden Resultate werfen grundsätzliche Fragen auf. Denn es geht ja nicht darum, dass nur einzelne Schulen versagen würden. Das Schulwesen als Ganzes erfüllt mancherorts seinen Auftrag nicht mehr. Das gilt nicht nur für die Hauptstadt Berlin – von dort stammen die genannten Ergebnisse. Ähnlich schlechte Werte treten in Brandenburg und Bremen auf. In fünf weiteren Bundesländern verfehlt – etwa in Orthografie – ein Drittel der SchülerInnen die Mindeststandards. Wollte man so konsequent sein wie in den USA müsste man also Teile des deutschen Schulwesens schließen – und neu errichten.

Die systemischen Krisen, die über die Beschwerden des Alltags hinausgehen sind diese: Die deutsche Schule ist, erstens, leistungsschwach und strukturell ungerecht. Hinzu kommen, zweitens, Steuerungsprobleme wie Bildungsföderalismus und Überbürokratisierung, die hausgemachte Risiken wie den gefährlichen Lehrermangel nach sich ziehen. Das ist auch deswegen so brisant, weil das Schulsystem, drittens, mitten in einer großen Transformation steckt: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern Lernen so grundsätzlich, dass sich Schule neu erfinden muss. Das gilt nicht nur für Deutschland, aber es trifft die angeschlagene deutsche Schule besonders hart.

Keine Chancengleichheit

Zunächst zur guten Nachricht. Wir finden in Deutschland sehr moderne und erfolgreiche Schulen. Ihr Kennzeichen: Sie sind oft nicht wegen, sondern trotz der Schulvorschriften so erfolgreich. Das lässt sich ganz gut an den evangelischen Schulen zeigen, die den deutschen Schulpreis gewonnen haben. Diese Schulen tun Dinge, die im eng gezogenen kultusministeriellen Rahmen nicht möglich wären.

Zum Beispiel die Waldhofschule in Templin und das Evangelische Schulzentrum in Greifswald. Beide haben Inklusion anders herum organisiert. Sie haben nicht die Regelschule für Kinder mit Handicaps geöffnet, sondern Kinder aller Talente in die ehemaligen Schulen für geistig Behinderte geholt. In der Staatsschule wäre das undenkbar. Oder das erste Gymnasium mit dem Hauptpreis des Schulpreises, die Evangelische Schule Neuruppin, die viele Freiräume für selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen schafft. Insgesamt haben inzwischen sechs evangelische Schulen den Schulpreis gewonnen. Der Schulpreis macht gute Schulen sichtbar. Die Vorbildfunktion dieser Schulen hat jedoch nicht dazu geführt, dass sich die darin verwirklichten Konzepte und Innovationen vermehrten und über das ganze Land ausbreiteten. Das hat auch mit den tiefgreifenden strukturellen Problemen zu tun.

Erstens: keine Chancengleichheit. Der Traum vom Aufstieg durch Bildung ist ausgeträumt. PISA, jener berühmte internationale Schulleistungs-Vergleich, hat die deutsche Bildungsmisere messbar gemacht. Vor dem ersten „Programme for International Student Assessment“ (PISA) dachte die Nation, sie sei eine von Dichtern und Denkern. Am 5. Dezember 2001 merkte sie plötzlich, dass funktionale Analphabeten und Risikoschüler ihre neuen Klassenkameraden sind. Der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Schüler und ihren Kompetenzen war so eng wie in keinem anderen Industrieland. Das ist für den Exportweltmeister, der keine anderen Rohstoffe als Geist und Fleiß besitzt, keine Petitesse.

Die Ursachen für das schlechte Abschneiden liegen tiefer. Internationale Experten rieben sich die Augen. Wie kann ein Land, das seine Schülerschaft schon im Alter von zehn Jahren nach Leistung auf verschiedene Schulzweige aufteilt, eigentlich genug Spitzenkräfte für die drittstärkste Industrienation ausbilden? Die Auslese in Hauptschule, Realschule und Gymnasium entstammt der Schulentwicklung im 18. und 19. Jahrhundert. Sie passte prima für das Zeitalter der Industrialisierung. Aber ist sie für die Ära der Digitalisierung geeignet?

In Deutschland sahen die Schulminister das nach PISA ganz anders. Sie beschlossen sieben Handlungsfelder als Sofortreaktion auf den PISA-Schock – und ein Tabu. Die frühe Sortierung der Schüler auf verschieden leistungsfähige Schulformen sollte keinesfalls thematisiert werden. Keine Strukturdebatten, so hieß die Losung. So beschlossen es die Kultusminister in ihrer Ständigen Konferenz, kurz KMK. Aber bei sich zuhause hielten sich die Kultusminister nicht daran. Seit 2001 ist die Zahl der Schulformen nach der Grundschule geradezu explodiert. Es gibt heute rund 20 verschiedene Arten weiterführender Schulen. Selbst Schulexperten blicken nicht mehr durch.

Zu viele Schulformen

Die Hauptschulen sterben aus. Und zwar nicht nur, weil viele Länder sie umbenennen – wie Bayern etwa in Mittelschule. Vor allem laufen die Eltern der Hauptschule davon. Von 5 657 Hauptschulen im Jahr 2000 waren 2020 noch ganze 1 818 übrig. Das ist ein Minus von rund 70 Prozent. Die Realschulen schrumpften im selben Zeitraum um 50 Prozent. Die Zahl der Gymnasien blieb gleich. Dafür verdoppelte sich die Zahl der Schulen mit mehreren Schulabschlüssen und der Gesamtschulen. Das ist eine historische Veränderung, die die Öffentlichkeit kaum wahrnimmt. Die Debatte über das Schulsystem scheint in den 1950er-Jahren stecken geblieben. Noch immer träumen manche Politiker davon, die Hauptschule irgendwie retten zu können. Dabei wäre eine andere Perspektive wichtiger: Schaut man in die Länder, die ihre Schulformen auf zwei reduzierten, so ist die Chancengleichheit dort viel höher.

Lichtblick: Nach diesen Sommerferien beginnt die größte Investition der deutschen Schulgeschichte – das „Startchancen-Programm“. 20 Milliarden Euro sollen in benachteiligte Schulen fließen, Schulen in herausfordernden Lagen, wie man gerne sagt. Wahrscheinlich trifft es der Begriff Hartz-IV-Schulen besser. 4 000 dieser Schulen soll nun endlich geholfen werden. Kernstück sind Mittel für multiprofessionelle Teams und so genannte Chancenbudgets. Das bedeutet: Die Schulleiter können das Geld eigenverantwortlich ausgeben – vor allem für digitale Tools, mit denen sie den Lernstand ihrer Schüler schnell und einfach messen können. Es ist das beste und wichtigste Programm für das größte deutsche Schulproblem, die Bildungsarmut. Warum es nicht schon vor 25 Jahren kam? Keiner weiß es.

Zweitens: Lehrermangel, KMK, Schulbürokratie. Diese Probleme sind gravierend. Und sie gehören offenbar zusammen. Der Lehrermangel liegt nach seriösen Schätzungen bei rund 150 000 Lehrkräften, die im Jahr 2035 in den Klassenzimmern fehlen. Der Bildungsökonom Klaus Klemm hat diesen Aderlass schon 2004 präzise vorhergesagt. Als eine der Ursachen hat er die Kultusminister selbst identifiziert. Weil sie ihren Planungen notorisch zu hohe Studienanfängerzahlen zugrunde legten. Und, trotz Warnungen, über viele Jahre zu wenig Junglehrer einstellten.

Warum ließ die Konferenz der Kultusminister sich von dem renommierten Forscher Klemm nicht beirren? Weil sie ein sehr stolzes Gremium ist – und ein sehr altes. Die KMK ist älter als die Bundesrepublik Deutschland. Noch vor der Verabschiedung des Grundgesetzes taten sich 1947 die damaligen Kultusminister zu ihrer Ständigen Konferenz zusammen. Seitdem regiert sie langsam – ihr Spitzname lautet „griechische Landschildkröte“. Die KMK ist obendrein kompliziert und ineffizient. Als sich die Konferenz vergangenes Jahr von einer Unternehmensberatung durchleuchten ließ, merkte sie, dass sie mit 177 verschiedenen Gremien und Arbeitsgruppen vor sich hinwerkelt. Eine Zahl, die niemand im Präsidium der KMK kannte. 

Komplexe Bürokratie

In der Bevölkerung zählt die Kulturhoheit der Länder wenig. Regelmäßig geben bei Meinungsforschungen zwei Drittel der Befragten an, dass sie die Zersplitterung des Schulsystems in 16 pädagogische Provinzen am liebsten abschaffen würden. Das führt zu einer Spannung. Denn die Kulturhoheit der Länder mag zwar gesellschaftlich keinen Rückhalt mehr haben. Aber sie besitzt praktisch eine Ewigkeitsgarantie. Wozu braucht man die Länder noch, wenn man ihnen die Kulturhoheit wegnimmt?

Der Föderalismus geht einher mit einer komplexen Kultusbürokratie. Sie besteht aus vier, bisweilen sogar fünf Ebenen. Dem Bund, der in vielen Fällen als Finanzierer gebraucht wird – obwohl er formell für Schulen keinerlei Zuständigkeit mehr hat. Dazu kommen die Länder. Dann die Schulträger, das sind Kommunen oder Kreise. Erst ganz am Ende der Kette stehen die eigentlichen Manager der Schulen – die Schulleiter. Dieses System wird durch eine Unmenge an Vorschriften und Kon­trollmechanismen reguliert – was zu absurden Situationen führt. Schulleiter können in der Regel nicht einfach das anschaffen, was sie für ihre Schule brauchen. Sie gelten als die einzigen Betriebsleiter der Republik, die weder über ihr eigenes Personal bestimmen noch über eigene Budgets verfügen. Über die gelähmten Rektoren rümpfen aber nicht mehr nur Unternehmensberater die Nase. Ein gewisser Thomas de Maizière hat vor zwei Jahren den Vorschlag unterbreitet, alle Schulvorschriften außer Kraft zu setzen. De Maizière, Präsident des Kirchentages in Nürnberg, ist kein Anarchist, sondern Christdemokrat, Preuße und vielfacher Bundesminister a. D.

Dysfunktionalität beim Digitalpakt

Die Dysfunktionalität von Föderalismus gepaart mit ausgeprägter Schulbürokratie ist gerade beim Digitalpakt zu beobachten. Den verschiedenen Politik- und Bürokratieebenen wird es nicht gelingen, die Mittel des 2019 gestarteten Pakts bis zum Ende seiner Laufzeit in diesem Jahr tatsächlich auch auszugeben. Ein bis zwei Milliarden Euro könnten – glaubt man den jüngsten Berichten des Bundes – nicht rechtzeitig abfließen. Das führt nun zu einer eigentümlichen Situation: Bisher hatten Bund und Länder der Öffentlichkeit stets versichert, dass die Mittel zwar noch nicht abgerufen, aber gebunden seien. Sie taten das, um gemeinsam Erfolge gegenüber einer skeptischen Presse zu präsentieren. Mit dieser Einigkeit ist es nun vorbei. Der Bund hat nicht mehr genug Geld für den versprochenen zweiten Digitalpakt – und greift deswegen auf das nicht ausgegebene Geld des ersten zu. Der Kaiser ist nackt. Es bestätigen sich alle Bedenken gegen ein hyperbürokratisches System, dem sich die verschiedenen Ebenen so verkeilt haben, dass sie zur Abwicklung des Digitalpakts weitere zusätzliche Institutionen wie Landesbanken oder Landesfördergesellschaften beauftragten.

Lichtblick? Keiner. Der Lehrermangel ist kurzfristig nicht zu beheben. Der Föderalismus ist nicht abzuschaffen. Und schulische Entbürokratisierung zur Erreichung selbständig handlungsfähiger Schulen wird seit Jahrzehnten versprochen – ohne Erfolg.

Drittens: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Schon die Digitalisierung hat Schulen vor Herausforderungen gestellt. Der Einzug Künstlicher Intelligenz zunächst auf die Smartphones der SchülerInnen wird Schulen nolens volens radikal verändern. Das liegt an den Fähigkeiten der generativen KI. Große Sprachmodelle (LLMs) sind in der Lage, binnen Sekunden Texte von einer Qualität auszuspucken, die zentrale Lern- und Aufgabenformate überflüssig macht. Hausaufgaben oder Facharbeiten machen unter den Bedingungen textgenerierender KI keinen Sinn mehr. Und die Schüler benutzen diese KI natürlich zum Lernen. Zwei Drittel geben an, damit für die Schule zu arbeiten. Sie müssen dafür gar kein LLM abonnieren, die Sprach-KI wird ihnen auf Snapchat oder Plattformen wie Scoolio angeboten – und zwar explizit: „Unsere KI löst Aufgaben für all deine Fächer.“

Lichtblick: Anders als beim Digitalpakt reagieren die Kultusminister bei der textgenerierenden KI sehr schnell. Nach den Sommerferien werden insgesamt zehn Bundesländer Sprachmodelle in die Schulen holen. Zunächst für die Lehrkräfte, häufig aber auch bereits für die SchülerInnen. Bayern und danach Hessen wollen dabei eine Reform miterledigen, die geradezu revolutionär ist. Jede Schule soll ein eigenes KI-Budget erhalten, das sie selbst verausgaben kann. Das bedeutet, dass alle Schulen dann so handeln können wie die evangelischen Schulpreisträger.

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