Neue Perspektiven

Globale Erinnerungspolitiken

Opfernationalismus ist die erste deutschsprachige Buchveröffentlichung des koreanischen Historikers Jie-Hyun Lim – und es ist zu hoffen, dass es bei dieser nicht bleiben möge. Denn die spezifische Perspektive des Professors für Transnationale Geschichte an der Sogang Universität (Seoul) auf europäische und globale Erinnerungspolitiken ist für den hiesigen Diskurs bereichernd wie herausfordernd. Das macht bereits das programmatische Vorwort zur von Utku Mogultay übersetzten deutschen Ausgabe deutlich, mit dem sich das Buch im „Jenseits des mnemonischen Eurozentrismus“ verortet.

Der Autor scheut merklich keine Reibung mit hierzulande etablierten Konventionen der Erinnerungskultur. Das gilt insbesondere für die zu Recht hochsensible Frage der (Un)vergleichbarkeit der Shoa. Wenn Lim bekundet, das „Tabu der Unvergleichbarkeit des Holocaust zu brechen“, sei „eng mit dem Bestreben verbunden, die nationale Erinnerungskultur in Deutschland zu entprovinzialisieren“, liest man dies – vor dem Hintergrund einschlägiger Debatten, nicht zuletzt nach dem Überfall der Hamas auf Israel – mit einer gewissen Beklommenheit. Im Zuge der Lektüre des gesamten Buches wird jedoch hinlänglich deutlich, dass es Lim mit diesem Impuls nicht um eine Verharmlosung der Shoa, sondern um die Etablierung einer „multidirektionale[n] Erinnerungskultur“ getan ist. Wie eine solche aussehen kann, entfaltet Lim in drei ausführlichen Essays.

Derer erster führt in das von Lim konzeptionalisierte Interpretament des Opfernationalismus ein und vollzieht zunächst eine globale Wende in der Erinnerungskultur nach, die sich für den Verfasser dadurch auszeichnet, dass einerseits auf Ebene der Nationalstaaten der „Opferstatus konstitutiv für die nationale Identität“ geworden ist, andererseits durch die „Herausbildung eines globalen Erinnerungsraums […] Erinnerungen an nationale Opferschaft zunehmend umstritten geworden“ sind. Dies vollzieht Lim nach anhand von einerseits Südkorea, Israel und Polen als Beispiele für einen „ererbte[n] Opferstatus“, andererseits Japan und Deutschland, die er als Vertreter einer „exkulpatorische[n] Opferschaft“ fasst.

Wenn die pointierte Gegenüberstellung konkurrierender Opfernarrative in den geschichtspolitischen Diskussionen zwischen Deutschland und Polen teils etwas schematisch erscheinen, mindert dies nicht den enormen Erkenntnisgewinn, den das Buch gerade durch die globale Kontextualisierung der einzelnen Fallbeispiele bietet. Dies gilt im Besonderen für Lims „Postkoloniale Reflexionen über das mnemonische Zusammentreffen von Holocaust, stalinistischen Verbrechen und Kolonialismus“. Dabei setzt Lim geschichtspolitische Diskurse und Erinnerungskulturen zwischen Deutschland, Polen, den USA, Japan und Korea in ihrer Verwobenheit so ins Licht, dass er – sowohl in materieller wie analytischer Hinsicht – eine Komplexität erreicht, die weite Teile des politischen Feuilletons hierzulande in den Schatten stellt.

Freilich: Wie bereits einzelne Passagen der vorigen Texte wird der letzte der drei Essays – der als „Kartierung der Massendiktatur“ Potenziale einer „transnationalen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ erprobt – den durchschnittlichen deutschen Leser sein nicht vorhandenes Grundwissen zur südostasiatischen (Zeit-)Geschichte spüren lassen. Dennoch gelingt es Lim, in der Erschließung von „Massendiktatur und Massendemokratie“ als „Zwillingsprodukte einer globalen Moderne“, was sein gesamtes Buch auszeichnet: neue Perspektiven zu entwickeln und Deutungen anzubieten, die – in Zuspruch wie Widerspruch – den eigenen Blick auf Fragen von Erinnerung, Gedenken und Schuldumgang schärfen.

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Foto: Andreas Helle

Tilman Asmus Fischer

Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft


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