Immer nur ein nächster Schritt

Eine Schule in der Westbank sucht den Frieden – zumindest der Schulgemeinschaft
Christen und Muslime, Mädchen und Jungen lernen in Talitha Kumi gemeinsam.
Fotos: Gerd Herzog
Christen und Muslime, Mädchen und Jungen lernen in Talitha Kumi gemeinsam.

Auf dem Schulcampus von Talitha Kumi in Beit Jala konnten sich vor dem 7. Oktober israelisch-palästinensische Friedensgruppen treffen. Das ist nicht mehr möglich. Und auch der Schulalltag in der deutschen evangelischen Auslandsschule hat sich verändert, wie die palästinensische Schulleiterin Laura Bishara und Simon Kuntze, Vorsitzender des Schulverwaltungsrates, berichten.

Die deutsche evangelische Auslandsschule Talitha Kumi in den palästinensischen Gebieten blickt auf eine über 170-jährige Geschichte zurück. Die Kaiserswerther Diakonissen Adelheid Bleibtreu (* 1816), Pauline Keller (1826–1909) und die Krankenpflegerinnen Katharine Evers (1813–1851) und Henriette Zenke (1809–1855) eröffneten 1851 ein Krankenhaus und ein Kinderheim mit angeschlossener Diakonissenausbildung in Jerusalem, aus der sich im Laufe der Zeit die Mädchenschule Talitha Kumi entwickelte. Heute ist Talitha Kumi ein Schulcampus in Beit Jala, in der Nähe von Bethlehem, mit Kindergarten, Grundschule, weiterführender koedukativer Schule, Hotelfachschule und Gästehaus.

Talitha Kumi ist eine Schule, an der das palästinensische und das deutsche Abitur abgelegt werden können (siehe dazu auch zz 8/2023). Eine Schule, an der deutsche und palästinensische Lehrer*innen arbeiten. Auf Grund der rechtlichen Situation können keine jüdisch-israelischen Schüler*innen hier unterrichtet werden – dies erforderte eine Kooperation der israelischen und palästinensischen Behörden, um sich über Fragen des Curriculums und der Schulabschlüsse zu verständigen, was aktuell und wohl auch in der näheren Zukunft illusorisch ist.

Unmögliche Treffen

Jedoch war Talitha Kumi bis zum Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und bis zu dem folgenden Krieg im Gazastreifen ein bedeutender Ort, an dem sich israelisch-palästinensische Friedensgruppen treffen konnten. Die einmalige politische Lage machte dies möglich: Mitten durch den Schulcampus verläuft die Grenze zwischen dem so genannten A- und dem C-Gebiet, das heißt zwischen der palästinensisch und der israelisch verwalteten Zone. Israelischen Zivilisten wird von ihrer Regierung der Zutritt zur palästinensisch verwalteten Zone nicht gestattet; sie haben jedoch Zutritt zur C-Zone. So ist Talitha Kumi ein für Palästinenser von der palästinensisch verwalteten Zone aus gut erreichbarer Ort, zu dem auch Israelis Zugang haben, da derselbe Ort auch als israelisch verwaltet gilt.

Mittlerweile sind die Treffen von solchen Gruppen jedoch kaum mehr durchführbar. Die Menschen in Israel und Palästina befinden sich in einer Kriegssituation. Manche friedens- oder versöhnungsbewegte Geste – und so auch ein Treffen von Israelis und Palästinenser*innen – kann zu Konflikten führen mit Menschen auf beiden Seiten, die solch eine „Verschwisterung“ nicht gutheißen und als Verrat interpretieren.

Im Schulalltag ist zwar mittlerweile – neun Monate nach dem Beginn des Krieges – die Situation entspannter als noch im Dezember 2023. Dennoch sind die Menschen in der Westbank sehr sensibel im Umgang miteinander oder möglichen „heißen Eisen“. Und ein „heißes Eisen“ kann gerade vieles sein: ein gemeinsames Schul­essen, der Geografieunterricht, die Erweiterung eines Zugangs zum Schulgelände oder auch die Abiturfeier. Sie können momentan Auslöser eines internen Konflikts werden zwischen den Menschen, die auf dem Campus miteinander arbeiten und lernen, innerhalb der Kommune Beit Jalas, oder auch von israelischen Behörden als Affront aufgefasst werden.

Aufgrund der Kriegssituation hat sich in der Schule viel verändert. Die Schüler*innen hatten zunächst Angst und fühlten sich nicht sicher, zur Schule zu gehen. Viele Schüler konnten den Schulcampus wegen der zusätzlichen Checkpoints und der Straßenblockierungen nicht erreichen. Talitha Kumi hat 13 gute Schüler*innen verloren, weil sie einfach nicht mehr zum Unterricht kommen konnten. Ihre Eltern wollten sie auf andere Schulen in der Nähe ihrer Wohnorte schicken. Es wurde zu kompliziert, sie nach Talitha Kumi zu bringen.

Die Schulleitung musste zudem die Tatsache akzeptieren, dass zunehmend Familien das Schulgeld nicht mehr zahlen können. Viele Menschen leben in der Umgebung Bethlehems vom Tourismus, der nach dem 7. Oktober 2023 völlig zum Erliegen gekommen ist. Viele Palästinenser*innen arbeiten in Israel und erhalten jetzt keine Erlaubnis mehr zur Einreise. So haben Eltern der Schulkinder Talitha Kumis wegen des Krieges ihre Arbeit verloren. Die Schule unterstützt diese Eltern und erlässt ihnen die Zahlung. Dies führt jedoch wiederum für die Schule zu einem finanziellen Engpass, da die Schulgebühren eine wichtige Säule der Finanzierung ihrer Arbeit darstellen.

Seit dem Ausbruch des Krieges haben die Sozialarbeiterinnen an der Schule mehr zu tun. Sie haben an Workshops teilgenommen, in denen sie lernen konnten, mit Traumata umzugehen, damit sie den Schüler*innen helfen können. Diese und ihre Eltern stehen unter starkem Druck auf Grund des Krieges, auf Grund der Gewalt, die in der Westbank zugenommen hat, auch auf Grund der schwierigeren Lebensbedingungen und der fehlenden Per­spektive. Dies führt zu Frustration und zur Zunahme von kommunikativer und teilweise auch körperlicher Gewalt. Verstärkt müssen Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen bei politisch oder gesellschaftlich missverständlichen Äußerungen intervenieren. In einer Gesellschaft, in der es keine freie Presse gibt, spielen zudem die sozialen Medien eine wichtige Rolle, um sich zu informieren. Auch dies kann zu Schwierigkeiten führen, wenn an sich unbedeutende Konflikte, die früher auf dem Schulcampus geblieben wären, nun durch die sozialen Medien schnell publik und oft auch medial aufgeheizt werden.

Der Krieg hat auch dazu geführt, dass viele festliche Veranstaltungen in der Schule abgesagt werden mussten. Die Situation im Land ist seit dem Krieg eine Trauersituation. Deshalb waren eine Zeit lang Feiern untersagt; aktuell können sie unter bestimmten Einschränkungen wieder stattfinden.

Projekttage für Schüler

In Talitha Kumi und in Beit Jala wie überhaupt in der christlich geprägten südlichen Westbank um Bethlehem gibt es im Advent und zu Weihnachten viele öffentliche Feiern, bei der zum Beispiel die Pfadfinder der Schule Talitha Kumi Musik machen. Seit dem 7. Oktober gibt es diese Veranstaltungen nicht mehr. In Talitha Kumi selbst konnte der Tag der offenen Tür nicht durchgeführt werden, an dem die Schüler*innen ihren Eltern und der Gemeinde zeigen, was sie das ganze Jahr über gelernt haben, und so der Kommune die schulische Arbeit vorstellen. Stattdessen organisierte die Schule Projekttage für die Schüler*innen.

Die Feier zum Abitur wird in Talitha Kumi wie in allen Schulen in Palästina normalerweise sehr groß gefeiert. Es gibt eine offizielle Veranstaltung, bei der kirchliche, schulische und auch politische Vertreter aus Deutschland und von der Palästinensischen Autonomiebehörde sprechen und feierlich die Zeugnisse übergeben. Im Anschluss an diesen offiziellen Teil wird ein großes Fest gefeiert, bei dem die Schüler*innen ausgelassen tanzen und die Abiturienten und ihre Familien gemeinsam mit den Lehrerinnen essen. Diese Abschlussfeier wird hier als Meilenstein im Leben der Schüler angesehen. Alle Schüler warten darauf.

Es war lange nicht sicher, ob und wie diese offizielle Zeremonie durchgeführt werden kann. Doch sie konnte stattfinden. Etwas ruhiger als in den Jahren zuvor und mit einer Gedenkminute an die Opfer des Krieges. Am Ende war es wichtig zu erleben, dass auch in diesem schwierigen Jahr die Familien, die Vertreter*innen der lutherischen Kirche, der Schule und der Schulbehörde zusammenkamen, um den Abschluss der Abiturienten zu würdigen.

Es ist in der Region momentan einerseits wichtig, Rücksicht zu nehmen auf die angespannte politische Lage und auch auf die Trauer von Familien, die Angehörige im Krieg verloren haben; und dennoch nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die Menschen in der Westbank einen Anspruch und ein Recht darauf haben, ihr Leben weiter zu leben und sich über schöne und bedeutende Ereignisse zu freuen und mit anderen dazu zusammenzukommen. Es ist gerade in einer solchen Zeit, die von Krieg, Gewalt und Hass geprägt ist, wichtig, den Alltag bewusst zu gestalten und sich auch zu solchen Anlässen zu versammeln und sich gegenseitig Kraft und Hoffnung zu geben.

Der Schulcampus wird in der Zukunft ein wichtiger Ort des Dialogs und der Entwicklung junger Menschen sein. Auch aktuell ist es rechtlich möglich, dass israelische Gruppen nach Talitha Kumi kommen. Momentan ist jedoch – wie bereits erwähnt – noch nicht die Zeit, um an einem öffentlichen Ort wie Talitha Kumi zu Gesprächen zwischen Israelis und Palästinenser*innen einzuladen. Dies kann sogar zu Konflikten in der Zivilgesellschaft führen und auch zu Gefährdungen der Israelis und der gesprächsbereiten Palästinenser*innen.

Jedoch in der näheren Zukunft ist geplant, verstärkt mit Organisationen wie „Women of the Sun“ und dem „Holy Land Trust“ zu kooperieren. „Women of the Sun“ ist eine Frauen-Initiative, die in Bethlehem ihren Sitz hat und die sich für eine stärkere Beteiligung von Frauen in der palästinensischen Politik und Gesellschaft engagiert; sie hat das Ziel, dass die kommende Generation in größerer Freiheit und Sicherheit lebt und nicht mehr die Gewalt und das Unrecht erfährt, unter dem die Menschen aktuell in der Westbank leiden. Sie bietet Workshops an, um mit Frauen über berufliche Selbstständigkeit, gesellschaftliches Engagement und familiäre Belange zu sprechen. Sie gehen dabei nicht von einem politischen Ziel aus, das sie erreichen wollen, sondern von den Bedürfnissen, die die Menschen – insbesondere die Frauen – in Palästina haben. Schritt für Schritt kann diese Arbeit dann dazu führen, dass Frieden und Rechtssicherheit in diesem Land wachsen.

Ähnlich arbeitet die gemeinnützige Organisation „Holy Land Trust“, die ebenfalls in Bethlehem sitzt und sich für die Belange von Kommunen und Einrichtungen in der Westbank und für den israelisch-palästinensischen Dialog einsetzt. Sie kooperieren mit interessierten Kommunen und entwickeln mit ihnen zusammen Programme, um in produktiver Weise zu intervenieren. Und sie bieten Workshops für Jugendliche an zur persönlichen Weiterentwicklung und zu gewaltfreier Kommunikation. Seit 17 Jahren helfen sie zusammen mit einer israelischen Organisation Familien in der Westbank, deren Häuser durch das israelische Militär zerstört worden sind. Sie engagieren sich zusammen mit israelischen Partnern dafür, ökologische Probleme zu lösen, die sich aus der israelischen Besatzung der Westbank und der sich ergebenden besonderen politischen Lage entwickeln – dies betrifft zum Beispiel die Versorgung der Menschen in der Region mit Wasser und die produktive landwirtschaftliche Nutzung fruchtbarer Gebiete.

Gesellschaftlicher Wandel

Beide Organisationen engagieren sich für eine gute Zukunft in der Westbank, in Israel und im Gazastreifen. Sie sind in der palästinensischen Gesellschaft gut vernetzt und wissen um die Notwendigkeit, mit israelischen Partnern zusammenzuarbeiten, um ihre Ziele zu erreichen. Die Schulleitung von Talitha Kumi erhofft sich von der Kooperation mit solchen Organisationen, dass das Schulleben in einer positiven Art verändert wird und dieser Wandel auch in die Gesellschaft Beit Jalas hineinwirkt.

Die Situation in Israel-Palästina ist politisch und gesellschaftlich sehr komplex, keiner kann sie wirklich überblicken. „Unser täglich Brot gib uns heute“, heißt es im Vaterunser. Es fällt hier gerade schwer, weit vorauszuplanen. Und es ist möglicherweise auch angemessen, aktuell nur an den nächsten gangbaren Schritt zu denken, der einen weiterbringt. Die Schulen in der Westbank werden jedoch mit dem, was sie heute tun und angehen, die Zukunft dieser Region beeinflussen. Es ist zu hoffen, dass die Schüler*innen Talithas und anderer Schulen eine gute Rolle spielen werden, damit diese Region sich in den nächsten 20 Jahren so entwickelt, dass die Menschen hier in Zukunft in Würde, in Freiheit und selbstbestimmt leben können. 

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