Von wegen vernünftig

Der Mensch ist zu rationalem Denken unbegabt
Foto: privat

Verzweifeln Sie auch manchmal an Ihren Mitmenschen? Ich schon, und zwar nicht, weil sie öfter mal andere Ansichten haben als ich, sondern weil sie so unlogisch sind. Grade im Internet. Da werden Zusammenhänge hergestellt, wo gar keine sind, Statistiken falsch interpretiert und Schlussfolgerungen gezogen, die keine Grundlage haben. 

Seit ich kürzlich den Science-Fiction-Roman „Ministerium der Zukunft“ gelesen habe, bin ich etwas milder gestimmt. Darin beschreibt der US-Autor Kim Stanley Robinson eine nahe Zukunft, in der die Menschheit es schafft, die Klimakatastrophe haarscharf noch abzuwenden. Allerdings erst nach vielen Katastrophen, Millionen von Toten und unvorstellbarem Leid. Das Buch ist fast so etwas wie ein Sachbuch zum Klimawandel, denn es beschreibt die unterschiedlichsten politischen und ökologischen Handlungsoptionen im Detail - von riskanten Gletscherbohrungen in der Antarktis über Geo-Engineering durch Manipulationen der Stratosphäre bis hin zu Terror-Attentaten auf Menschen, die zu viel CO2 verbrauchen, und Sozialexperimenten mit neuen Währungen.

Nur eher beiläufig erwähnt Robinson in seinem Buch einen Aspekt, der vielleicht dem ganzen Dilemma zugrunde liegt: das Problem der kognitiven Verzerrungen, denen das menschliche Gehirn unweigerlich ausgesetzt ist. Ebenso wie wir zwangsläufig optischen Täuschungen auf den Leim gehen - also mit entsprechenden Tricks Dinge wahrnehmen, die faktisch gar nicht vorhanden sind - erliegen wir auch kognitiven Täuschungen: Wir meinen, Dinge zu verstehen, obwohl die Wahrheit völlig anders aussieht. 

Falsch gedacht

Was optische Täuschungen betrifft, so wird niemand leugnen, dass es sie gibt. Allen, die etwas Zeit übrig haben, empfehle ich eine Google-Suche zum Thema „optische Täuschung“ - schnell ist dann eine Stunde auf sehr unterhaltsame Weise verdaddelt, ich habe es soeben ausprobiert. 

Aber während das Spiel mit optischen Täuschungen Spaß macht, gehen kognitive Täuschungen an unser Ego. Wir glauben doch gerne, dass wir rational und vernünftig sind. Trotzdem ist die Wahrheit leider folgende: Wir sehen nicht nur falsch, wir denken auch falsch. Natürlich nicht alle von uns gleichermaßen und auch nicht alle in jeder Situation, aber statistisch gesehen, also in Bezug auf eine große Menge von Menschen, ist die Studienlage eindeutig.

Da wäre zum Beispiel die so genannte Ankerheuristik: Wir neigen dazu, bei unserer ersten Einschätzung einer Sache zu bleiben beziehungsweise die erste Information, die wir über etwas bekommen, für wahr zu halten, ganz egal, was wir später noch darüber hören. Das ist natürlich komplett irrational. 

Nützlich für Populisten

Wir halten auch verständliche Erklärungen für wahrscheinlicher als andere, nach dem Motto: Wenn es für mich zu kompliziert wird, muss es falsch sein. Das ist ein wesentlicher Grund, warum Populisten so erfolgreich sind: Sie behaupten simple Zusammenhänge, die viele Menschen allein schon deshalb für richtig halten, weil sie sie verstehen.

Ein weiteres Problem sind sehr große Zahlen, die Menschen nicht wirklich „fühlen“ können. Zum Beispiel tendieren wir dazu, Millionäre und Milliardäre für mehr oder weniger dasselbe zu halten. Dabei sind Millionäre uns Normalsterblichen ziemlich ähnlich, nur eben reicher. Milliardäre hingegen leben praktisch in einer anderen Galaxie. Ein Millionär kann sich mehrere Luxusurlaube im Jahr leisten, fette Autos oder Nachthemden für 300 Euro das Stück. Milliardäre hingegen haben nicht einfach sehr viel Geld. Für sie ist Geld überhaupt keine Kategorie mehr. 

Eine andere wichtige kognitive Täuschung betrifft die Abschätzung von Risiken. Darin sind wir Menschen ganz besonders schlecht. Wir haben eine irrationale Angst vor Gefahren, deren Eintreten ganz unwahrscheinlich ist, während wir umgekehrt vollkommen ungerührt bleiben bei tatsächlich vorhandenen Gefährdungslagen. Sowieso ist Statistik insgesamt nicht grade unsere Stärke.

Ritual gesucht

Leider hilft das Wissen um kognitive Verzerrungen nicht, sie zu vermeiden. Dieselben Fehler werden, statistisch gesehen, von allen Testpersonen gemacht, und zwar unabhängig von persönlichen Voraussetzungen. Zu rationalem Denken sind wir Menschen als Spezies nur so mittelgut in der Lage. Wir machen konstant viele Fehler bei der Beurteilung von Situationen, und wir vertrauen unserem Urteilsvermögen mehr, als es der Situation angemessen ist. Das lässt sich im Grundsatz auch nicht ändern. Wir müssen damit leben. 

Allerdings können wir uns selbst und uns gegenseitig immer wieder an diese Schwäche erinnern. Vor allem dann, wenn es komplexe Sachverhalte zu verstehen und Entscheidungen zu treffen gilt. Also praktisch jeden Tag.

Vielleicht bräuchten wir dazu irgendeine Art Ritual. Eine Gewohnheit, die uns regelmäßig daran erinnert, dass das, was wir für wahr und selbstverständlich und sonnenklar halten, höchstwahrscheinlich verzerrt ist. Weil eben der „Friede Gottes höher ist als alle Vernunft“. 

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