Auf der Suche nach Einheit

Berichte von der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau
Taschenlampen formieren das Wort "One" auf der Bühne der LWB-Vollversammung
Foto: Stephan Kosch
Taschenlampenaktion auf der LWB-Vollversammlung

Vom 13. bis zum 19. September trafen sich die Delegierten des Lutherischen Weltbundes (LWB) aus aller Welt zur Vollversammlung in Krakau. "zeitzeichen" war dabei und berichtete aktuell in der Rublik "z(w)eitzeichen" von der Veranstaltung. Im folgenden finden sie die Texte nochmal gesammelt in der Reihenfolge ihres Erscheinens.

Familientreffen in Krakau

Am ersten Tag der Vollversammlung in Krakau ermahnte der scheidende Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB) die Delegierten aus allen Ländern zur Einheit. Denn die Last der Welt drückt derzeit besonders schwer. Eine junge Frau aus Surinam sorgte für Aufbruchstimmung. Und ein Unbekannter für eine ungeplante Unterbrechung.

Eva Christina Nilsson von der schwedischen Kirche und Danielle Dokman von der lutherischen Kirche in Surinam.
Foto: LWF/Marie Renaux

Eva Christina Nilsson von der schwedischen Kirche und Danielle Dokman von der lutherischen Kirche in Surinam, die Predigerin des Eröffnungsgottesdienstes.

Irgendjemand hat den „falschen Knopf gedrückt“, so hieß es hinterher offiziell – und alle mussten vor die Tür. Für einige Minuten stand das schicke Kongresszentrum an der Weichsel leer. Feueralarm? Bombendrohung? Doch drinnen blieb alles ruhig und die Delegierten aus aller Welt, die sich zur 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Krakau trafen, konnten entspannt zum Mittagessen gehen. Man plauschte, lachte, wie bei einem Familientreffen nach langer Zeit, offenbar froh, sich nach all den pandemiebedingten Reisebeschränkungen wieder leibhaftig zu sehen.

Das Bild der Familie und die Ermahnung zur Einheit prägte den ersten Tag, der mit einem, dem Anlass angemessen, internationalen und musikalisch jazzig gestalteten Gottesdienst begann. „Seid ihr da, meine Familie?“, fragte die junge Pastorin Danielle Dokman aus Surinam zu Beginn ihrer Predigt. Ermunternde Zurufe aus dem Publikum, und los ging es mit einer sehr bewegenden Rede über Matthäus 2, 1-12, die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland, die neugeborenen Jesus suchten und bei König Herodes nach ihm fragen. Die Weisen hätten nach einem Kind gesucht, das bereits zur Welt gekommen war, sagte Dokman. „Gott war bereits in ihre Welt eingebrochen, sogar in eine Welt, die durch römische Vorherrschaft, Kolonialisierung und Imperialismus gekennzeichnet war.“

Und dann schlug sie den Bogen zur Gegenwart: „Die Gewalt, die wir während des Zeitalters der Sklaverei und besonders des transatlantischen Sklavenhandels erlebt haben, dauert an. Selbst heute wird noch mit Menschen gehandelt, und ihre Körper werden als Ware oder Kriegsbeute behandelt. Einige werden sogar aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Religion oder einfach aufgrund ihrer Verletzlichkeit getötet und ausgegrenzt. Es mag den Anschein haben, dass Gott an diesen Orten nicht zugegen ist, aber gerade hier in der Zerbrechlichkeit wird Gott Mensch.“

Denn Menschwerdung sei kein abgehobenes theologisches Konzept. „Wenn die ganze Welt in endlosen Kämpfen und Polarisierung zu versinken droht und andere die Flucht ergreifen, taucht Gott in unsere Welt ein. Ich weiß, dass es sich so anfühlt, als stehe unsere Welt in Flammen ohne einen Ausweg aus diesen sinnlosen Kriegen und aus der Klimaungerechtigkeit. Aber gebt nicht auf, denn auch Gott hat diese Welt nicht aufgegeben!“

"Erhebt Euch!"  

Dokman schloss mit einem Appell an die LWB-Familie: „Die Sonne geht über vielen Imperien dieser Welt unter. Einige erkennen das an, andere führen deswegen Krieg. Ich aber sage euch heute: Wann immer die Sonne über einem der Imperien dieser Welt untergeht, so ist es Zeit für euch, meine Familie in Christus, euch zu erheben! Wenn falsche Versprechen gegeben werden, um etwas gegen unsere Klimaungerechtigkeit zu unternehmen, dann, ihr 150 Kirchen, erhebt euch als Kirchengemeinschaft! Steigt auf wie der Stern in jener schicksalhaften Nacht, erhebt eure Stimmen und verkündet der Welt: Es gibt einen anderen Weg! Gott ist hier!“

Ein ungewohnter Predigtsound für europäische Ohren, aber hier kam er an. Die Delegierten feierten die junge Pastorin und dankten ihr mit langem Applaus. Denn natürlich stand ihnen nicht nur die Situation in vielen Ländern des globalen Südens vor Augen, sondern auch die in der Ukraine, räumlich recht nah am Versammlungsort. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ein Krieg in Europa ausbricht“, sagte der noch amtierende Präsident des Weltbundes, der nigerianische Erzbischof Panti Filibus Musa, in einer Pressekonferenz am Mittag. Dies zeige die Verwundbarkeit der Welt, aber auch dass Frieden ein Prozess sei, an dem immer wieder gearbeitet werden müsse.

Hier liege eine wichtige Aufgabe für die Kirchen, sagte die aus Estland stammende LWB-Generalsekretärin Anne Burghardt. Der LWB habe den Krieg gegen die Ukraine immer klar verurteilt und leiste humanitäre Hilfe. Doch besonders wichtig würden die Kirchen in der Versöhnungsarbeit, wenn der Krieg einmal vorüber ist, sagte Burghardt und verwies auf die Rolle der Kirchen nach dem II. Weltkrieg in Europa. Möglicherweise könnten die lutherischen Kirchen in Russland, die den Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützen würden, an dieser Stelle sehr wichtig werden.

Frauen stärken

Doch bereits jetzt sah LWB-Präsident Musa die Stärkung der Einheit innerhalb der lutherischen Kirchen als wichtiges Ziel der kommenden Tage in Krakau. Er betonte, dass die Kirchen in einer Welt, die „erfüllt ist von den unterschiedlichsten Meinungen und der Gefahr der Spaltung“, „respektvolles Zuhören“ praktizieren müssten, um als „Hoffnungsstrahlen inmitten von Verworrenheit, Unsicherheit und sich wandelnder Ideologien“ zu fungieren. Tatsächlich sind die lutherischen Kirchen weltweit nicht einer Meinung, wenn es um den Umgang mit Homosexualität oder der Ordinierung von Frauen geht. Zum letzten Punkt äußerte sich der sonst sehr diplomatisch sprechende Musa vergleichsweise deutlich in seiner Rede vor den Delegierten: „Im Laufe der Jahre haben wir gesehen, dass sich immer mehr Mitgliedskirchen für die Ordination von Frauen in das Pfarramt und ihre aktive Mitgestaltung der kirchlichen Gemeinschaften entschieden haben. Aber wir müssen noch besser werden.“ Vielen Frauen würden in ihrem Dienst immer wieder Hürden in den Weg gelegt. „Dagegen müssen wir gemeinsam etwas tun. Ich rufe den LWB und seine Mitgliedskirchen daher auf, in Bezug auf die Zurüstung von Frauen zu mehr Selbstbestimmung und die Einbindung von Frauen in die Führungsverantwortung nicht weiter zu zögern und zu zaudern oder in ihrem Engagement nachzulassen.“

Ob es so weit kommt, dass nach der Versammlung eine Frau als Präsidentin an der Spitze des LWB steht? Noch ist das nicht abzusehen. Bislang einziger Kandidat für die Wahl zur Nachfolge Musas ist der Däne Henrik Stubkjær, Bischof des Bistums Viborg. Nach zwei LWB-Präsidenten aus dem globalen Süden und mit Blick auf die Bedeutung der skandinavischen Kirchen in der lutherischen Welt ein ohne Frage veritabler Kandidat. Doch gewählt wird erst am Samstag, die Delegierten können noch Kandidaten oder Kandidatinnen nominieren. Mal sehen, welche Knöpfe noch gedrückt werden. 
 

Vor einer neuen Reformation

Mit einer anspruchsvollen und fulminanten Rede forderte der katholische Intellektuelle Tomáš Halík grundlegende Änderungen im Selbstverständnis der Kirchen im 21. Jahrhundert. Diese seien nötig, auch um den Populisten und Fundamentalisten etwas entgegenzusetzen.

 
Tomáš Halík
Foto: Stephan Kosch

Tomáš Halík vor der Pressekonferenz nach seiner Rede 

Schon der erste Satz seiner Rede lässt aufhorchen: „Die Christenheit steht an der Schwelle zu einer neuen Reformation.“ Und das sagt nicht einer von den vielen Menschen aus der weltweiten lutherischen Kirche, die sich in diesen Tagen in Krakau zur Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes treffen. Sondern ein katholischer Geistlicher, der offenbar weiß, wie man das Publikum in den Bann zieht. Tomáš Halík ist ein renommierter katholischer Intellektueller und Schriftsteller aus der Tschechischen Republik und war Berater von Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie und Leiter der Fakultät für Religionswissenschaften an der Prager Karlsuniversität und hat zahlreiche Auszeichnungen für sein Engagement für Menschenrechte, Religionsfreiheit und interreligiösen Dialog erhalten. Ein intellektuelles Schwergewicht also, der mit sanfter hoher Stimme über die notwendige Veränderung der Kirche spricht.

 

An der Schwelle zu einer neuen Reformation also, nicht die erste, nicht die zweite, nicht die letzte, sagt Halík. Schließlich sei Kirche immer im Wandel, „semper reformanda“. Aber: „Gerade in Zeiten großer Veränderungen und Krisen in unserer gemeinsamen Welt“ sei es die prophetische Aufgabe der Kirche, „Gottes Ruf zu erkennen und darauf mit Bezug auf die Zeichen der Zeit zu reagieren.“ Reformation sei notwendig, sagte er, „wo die Form den Inhalt behindert, wo sie die Dynamik des lebendigen Kerns hemmt.”

Scharfe Kurven

Solche Sätze wecken Erwartungen. Was konkret fordert Halík? Zunächst eine Vertiefung der Ökumene, die im 21. Jahrhundert viel weiter reichen müsse, als die des vergangenen Jahrhunderts. Es gehe nicht nur um die Einheit der Christen, die nur ein Nebenprodukt von etwas Größerem sein könne, nämlich „der Anstrengung, die ganze Menschenfamilie zusammenzubringen und die gemeinsame Verantwortung zu übernehmen für die Umwelt, die ganze Schöpfung.“  Werden die Glaubensgemeinschaften also ein Teil der Lösung all der Schwierigkeiten sein, mit denen wir es zu tun haben, oder Teil des Problems?

Und wer jetzt Überheblichkeit oder Selbstgerechtigkeit wittert, wird sofort eines Besseren belehrt. Denn Halík beschreibt die Haltung, mit der diese neue Ökumene angegangen werden soll mit dem lutherischen „simul justus et pecator“, jeder Mensch sei Gerechter und Sünder zugleich. Heute würden viele Menschen gleichzeitig glauben und zweifeln, was aber einander bedinge und zu reifem Glauben führe. Und dann folgen scharfe schnelle Kurven durch die Geschichte, das Zweite Vatikanische Konzil, die Religionskritik von Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche (der tote Gott der Illusionen) und Bonhoeffer, für den die einzig authentische christliche Transzendenz in der Selbst-Transzendenz hin zu anderen gelegen habe, in Solidarität und opfernder Liebe. Und damit ist er bei einem weiteren konkreten Schritt der anstehenden Reformation: „Heute sind es nicht nur die individuellen Christen, sondern auch unsere Kirchen, die ganze Christenheit, die zu dieser Selbst-Transzendenz aufgerufen sind.“

Kirche als Feldlazarett

Aber was genau bedeutet Selbst-Transzendenz in der anstehenden Reformation der Kirchen? Halík erinnert an ein Bild, das Jorge Mario Bergoglio noch vor seiner Wahl zum Papst genutzt hat. Jesus steht an der Tür und klopft, aber nicht von außen, er steht in der Kirche und möchte hinausgehen – und wir sollen ihm folgen zu den Armen, Marginalisierten, den Ausgebeuteten. „Kirche muss ein Feldlazarett sein, wo die Wunden – körperliche, soziale, psychologische und spirituelle – verbunden und geheilt werden.“ Und sie müsse zu denen gehen, die außerhalb der Grenzen der Religion leben, die Welt der „Nones“, die nicht als „Atheisten“ oder „Ungläubige“ gesehen werden sollte. Auch denjenigen, die eine bestimmte Form von Theismus ablehnten, sei das Geheimnis, das wir mit dem Wort Gott bezeichneten, nicht verschlossen. Deshalb müsse die „neue Reformation“ und die Ökumene des 21. Jahrhunderts auch eine neue Form der Mission beinhalten. Deren Ziel sei nicht, neue Kirchenmitglieder zu rekrutieren und sie „in bestehende mentale und institutionelle Grenzen unserer Kirchen zu pressen, sondern gemeinsam über diese Grenzen hinaus zu gehen.“

Aber droht dabei nicht der Verlust der Identität des Christentums? Halík geht auch auf diese mögliche Sorge ein. Populisten, Nationalisten und religiöse Fundamentalisten nutzten diese Angst vor Identitätsverlust für ihre jeweiligen Macht- und Wirtschaftsinteressen aus. Sie böten als Ersatz für „Seele“ verschiedene Formen von kollektiver Identität an, etwa Nationalismus oder politisches und religiöses Sektierertum. Und sie machten aus Christentum eine identitäre politische Ideologie. Dem gegenüber stellte Halík das Osterereignis, die Auferstehung Christi, die die Geschichte der Welt weiterhin verändere. „Christus kommt zu uns in vielen neuen, überraschenden, ambivalenten Formen.“

Kritik an Russland und russisch-orthodoxer Kirche

Selbstverständlich äußerte sich Halík auch zum Krieg gegen die Ukraine und verurteilte „Russlands Angriff“ und Präsident Putins „nationalen Messianismus“ ebenso wie die Führer der russisch-orthodoxen Kirche, die den Schritt zur „Wiedererrichtung ihres expandierenden Reiches“ mitgetragen hätten. Kirchen, die von einem politischen Regime korrumpiert werden, so warnte er, berauben sich selbst einer Zukunft. „Wenn die Kirche mit ihrer säkularen Umgebung in einen Kulturkampf eintritt, geht sie daraus immer besiegt und deformiert hervor.”  Die Alternative zu den Kulturkämpfen sei „nicht etwa Konformität und billiges Anpassen, sondern eine Kultur der geistlichen Urteilskraft“. In Bezug auf den Aufruf von Papst Franziskus zu einer synodalen Reform sagte er: „Ich bin überzeugt, dass wir es hier mit einem möglichen Beginn einer neuen Reformation des Christentums zu tun haben, die sowohl auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil als auch auf der pfingstlichen Neubelebung des weltweiten Christentums aufbaut.“ Eine erneuerte und neu verstandene christliche Spiritualität, so schloss er, „kann einen bedeutenden Beitrag zur geistlichen Kultur der heutigen Menschheit leisten. Und das auch weit über die Kirchen hinaus“. Alles in allem eine gewichtige Keynote, die Halík den Delegierten präsentierte. Sie honorierten dies mit langanhaltendem Applaus. 

Die Rede von Tomáš Halík ist hier als pdf erhältlich:

Keynote speech at the 13. General Assembly of the LWF - Tomas Halik.pdf (lwfassembly.org)

 

"Man darf keine Angst haben"

Der 97jährige Marian Turski sorgte für einen bewegenden Moment bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau. Diese hatten am Vortage das Konzentrationslager Auschwitz/Birkenau besucht, das Turski als junger Mann überlebt hatte

Der Auschwitz-Überlebende Marian Turski vor der LWF-Vollversammlung
Foto: LWF/Albin Hillert

Der Auschwitz-Überlebende Marian Turski vor der LWB-Vollversammlung

Marian Turski hat in den 97 Jahren seines Lebens ohne Frage viele apokalyptische Momente erlebt. Er wurde 1940 wurde er mit seiner Familie ins jüdische Ghetto in Lodz eingewiesen. Von dort aus wurde er im August 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz eingesperrt. Das überlebte er ebenso wie die anschließenden Todesmärsche nach Buchenwald und Theresienstadt.

Doch den 300 Delegierten aus aller Welt, die sich derzeit zur Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Krakau versammelt haben, führt er nicht die Vergangenheit vor Augen. Er sprach über eine Gegenwart, in der die vier apokalyptischen Reiter aufzutauchen scheinen, die Krieg, Krankheit, Tod und Hunger über die Welt bringen. „Haben wir das nicht in jüngster Zeit gesehen? Besonders nach der Pandemie? Die Dürren und Fluten? Krieg? Menschen, die zur Flucht gezwungen sind?“

Solche Ereignisse machten den Menschen Angst, und diese Angst werde ausgenutzt von populistischen Regierungen, die Hass gegen Fremde schürten. In der Pressekonferenz im Anschluss an die Rede verwies Turski konkret auf die AfD in Deutschland, aber auch auf die entsprechenden Entwicklungen in Polen, Ungarn und vielen anderen Ländern Europas. In diesen Zeiten seien die Vertreter der Religion besonders gefordert, sagte Turski, der auch Präsident des internationalen Auschwitz-Komitees ist. „Die Welt ist nur eine schmale Brücke, aber man darf keine Angst haben,“ zitierte er aus einem jüdischen Lied, das in den Synagogen gesungen werde. „Also lasst uns keine Angst haben vor den Fremden, vor dem Anderen.“

Besuch in Auschwitz

Die Delegierten dankten dem Historiker und Journalisten für seine Worte mit langanhaltendem Beifall. Am Tag davor hatten sie den Ort besucht, in dem Turski inhaftiert war, das Konzentrationslager Auschwitz/Birkenau. Dort haben die Nazis über eine Million Menschen umgebracht, die meisten von ihnen waren jüdischen Glaubens. In kleinen Gruppen gingen die Delegierten durch Ausstellung, die noch existierende Gaskammer und das Krematorium im Lager Auschwitz. Vor der sogenannten „Todeswand“, an der zahlreiche Inhaftierte erschossen worden waren, legten LWB-Präsident Panti Filibus Musa und Generalsekretärin Anne Burghardt einen Kranz nieder.Im benachbarten Lager Birkenau ging jeder Besucher zwischen den Ruinen der beiden großen Krematorien einen kurzen Stationenweg mit stillen Gebetsritualen, der mit einem gesungenen „Kyrie“ beendet wurde. Begleitet wurden die Delegierten auch von Bischof Adrian Korczago von der Krakauer Diozöse der Evangelischen-Augsburgischen Kirche in Polen. „Man kann nicht passiv bleiben oder sich indifferent verhalten dazu, wenn Menschen gefoltert und verfolgt werden wegen ihrer Religion, ihres Geschlechtes oder anderer Aspekte ihres menschlichen Daseins“, sagte der Bischof. Er hoffe, dass die Erfahrung die Besucher und Besucherinnen zu weiteren Reflektionen über die Verfolgungen unterschiedlicher Art weltweit anregt.
 

"Daran müssen wir arbeiten"

Der Lutherische Weltbund hat einen neuen Präsidenten gewählt. Nach zwei Amtsinhabern aus dem Süden entschied sich die Vollversammlung in Krakau für den Bischof aus Viborg, der als einziger Kandidat antrat. Der Experte für Entwicklungszusammenarbeit weiß, dass viele Herausforderungen auf ihn warten. 

Der neue LWB-Präsident Henrik Stubkjaer
Foto: Stephan Kosch

 LWB-Präsident Henrik Stubkjaer auf der Pressekonferenz nach seiner Wahl

Der Neue tritt bescheiden auf, spricht mit ruhiger Stimme und freundlichem dänischem Akzent. Und er setzt – zumindest in seinen ersten Statements nach der Wahl zum Präsidenten des Lutherischen Weltbundes (LWB), auf Kontinuität: Henrik Stubkjær, 61, Bischof von Viborg, sagte, die Arbeit des LWB unter seiner Führung werde weiterhin auf den vier Säulen basieren, auf denen die Organisation gegründet wurde, „nämlich die Arbeit für die Bedürftigen und Unterdrückten, gemeinsame Initiativen in der Mission, gemeinsame Bemühungen in der Theologie und eine gemeinsame Antwort zur ökumenischen Herausforderung.“

Dem Tenor der gesamten Tagung entsprechend betonte der neue gewählte Präsident die Verbindung und Einheit im Weltbund, die er durch gemeinsame Arbeit stärken möchte und ein wenig klingt sein erst vor wenigen Jahren auf der Kopenhagener Business School erworbener Master in den Formulierungen an: „Meine Vision für den LWB ist, dass wir einen Mehrwert erzielen, indem wir als Gemeinschaft zusammenarbeiten und danach streben, den christlichen Glauben durch humanitäre und Entwicklungsarbeit, Interessenvertretung, gemeinsames Zeugnis und Dialog in die Tat umzusetzen.“

Für Vielfalt sorgen

Uniform soll es aber bei aller Einheitssuche nicht zugehen. Stubjaer wies darauf hin, dass „Lutheraner sein heißt, kontextualisiert zu sein“, und sagte, die Vielfalt, die in verschiedenen Kontexten zu finden sei, sei ein Zeichen dafür, wie „Gott uns durch seinen Sohn Jesus Christus als Mitgliedskirchen pflegt, um das Evangelium auf relevante Weise predigen.“ Daher fügte er hinzu: „Ich sehe es als meine Verantwortung an, für Vielfalt zu sorgen und dafür zu sorgen, dass alle Stimmen gehört werden.“

Soweit, so angemessen für einen neugewählten Präsidenten. Ob ihm der Spagat zwischen Vielfalt und Einheit gelingt, bleibt abzuwarten. Erfahrung im LWB hat er natürlich. Seit der zwölften Vollversammlung in Namibia war Stubkjaer auch Mitglied im Rat und leitete dort das World Service Komitee.

Wichtig in einer Zeit, in der die Herausforderungen des Klimawandels und die Auswirkungen vor allem auf den globalen Süden immer deutlicher werden: Der neue LWB-Präsident kennt sich aus in der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit. Bevor Stubkjær vor neun Jahren Bischof von Viborg wurde, arbeitete er für knapp zehn Jahre als Generalsekretär der Dänisch Hilfsorganisation DanChuchAid (DCA). Diese ist auch Mitglied der ACT Alliance, der weltweiten Vereinigen von kirchlichen Hilfswerken, in deren Leitung Stubkjaer vertreten ist. Doch auch die sozialdiakonische Arbeit im eigenen Land ist ihm offenbar ein Anliegen. Er arbeitet in der Leitung von UNICEF Dänemark und in einer Hilfsorganisation für wohnungslose Männer.

Konflikt mit dänischer Regierung

Doch bei aller Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Stubkjaer vor der Vollversammlung an den Tag legte, konfliktscheu ist er nicht. Man darf man von ihm ein – in einer immer vielstimmigeren Welt dringend benötigtes - profiliertes Verhalten als „oberster Lutheraner“ erwarten. Immerhin ist er nach 40 Jahren Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Dänemarks zu Beginn des Jahres ausgetreten, weil er gegen die Abschaffung des „ Großen Bet-Tages“ als gesetzliche Feiertages war. Die Regierung begründet dies mit einer notwendigen Erhöhung der Ausgaben für das dänische Militär. Stubkjaer warnte davor, den großen Bet-Tag durch einen "großen Bombentag" zu ersetzen. Ihm sei es wichtig, dass die dänische Kirche keine Staatskirche sei, sagte er auf der Pressekonferenz nach der Wahl, sondern eine Volkskirche, die auch eine prophetische Stimme sein müsse. „Dafür kämpfe ich.“

Dass er dabei einen langen Atem hat, darf man voraussetzen. Stubkjaer hät sich mit Triathlon fit und scheut die Herausforderungen nicht. „Wir müssen daran arbeiten“ ist ein Satz, der in der Presskonferenz gleich mehrmals fällt. Dabei ist der Kern seines lutherischen Glaubens, dass die Menschen befreit sind durch Gottes Gnade. „Das steht am Anfang von allem“, sagte Stubkjaer. Und was ist mit der – zumindest in Europa – immer größer werdenden Zahl von Menschen, die gar nicht das Bedürfnis haben, befreit werden zu müssen? Viele von Ihnen seien gefangen, ohne es zu merken, im Leistungsdenken und Stress unserer Gesellschaft. Die Botschaft, dass der Mensch geliebt sei bevor er irgendetwas tue, sei eine wichtige, gerade auch für die moderne, säkulare Gesellschaft.      Gemeinsam mit dem Präsidenten wählte die Vollversammlung 48 Personen in den Rat des LWB gewählt, davon sechs aus Deutschland: Tim Götz (Bayern), Vikarin Charlotte Horn (Württemberg), Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt (Nordkirche), OKR Michael Martin (Bayern), OKR Dirk Stelter (Hannover), Synodalpräsidentin Bettina Westfeld (Sachsen). Der Rat ist das höchste Leitungsgremium zwischen den alle sechs bis sieben Jahre stattfindenden Vollversammlungen. Er wird geleitet durch den LWB-Präsidenten.  

Die Schönheit der Diaspora

Am Sonntag tagte die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau nicht, stattdessen brachen die Delegierten aus aller Welt auf, um kleine Gemeinden überall in Polen kennenzulernen. Und um gemeinsam mit ihnen einen Gottesdienst zu feiern. Eine Reportage von Philipp Gessler über gequetschte Lutheraner, eine ziemlich lange Reise im Minibus und den Charme der Vielfalt christlicher Frömmigkeit.

Die lutherische Kirche von Częstochowa
Foto: Philipp Gessler

Die lutherische Kirche von Częstochowa.

Wenn das Volk Gottes im 21. Jahrhundert aufbricht, ist zunächst ein Piepen zu hören. Dann teilt sich nicht wirklich das Meer, vielmehr schwenkt auf einem Parkplatz zwischen Plattenbauten eine ganze Kolonne von Reisebussen rückwärts mit nervigem Warnpiepen auf einen großen Parkplatz ein. Die Busarmada soll die bunte Christenheit lutherischer Prägung aus aller Welt aufnehmen. So geschehen zur eher unchristlichen Zeit kurz vor sieben Uhr am Sonntagmorgen im noch sozialistisch angehauchten Areal der Wissenschaftlich-Technischen Universität AGH am Stadtrand von Krakau, in der die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) untergebracht sind. Ungefähr 300 Delegierte aus fast allen Ländern rund um den Globus, seit Mittwoch vergangener Woche in der polnischen Königsstadt vereint, verteilten sich an diesem Tag des Herrn auf rund ein Dutzend Reisebusse. Mit ihnen ging es in kleineren Gruppen meist in die polnische Provinz: zum evangelischen Sonntagsgottesdienst natürlich, eingeladen von örtlichen lutherischen Gemeinden.

In den kleinsten Bus mit der Nummer 10, einen schwarzen Minibus japanischer Bauart, quetschten sich neben den Reporter zwei Bischöfe, Joseph Bvumbwe von der evangelisch-lutherischen Kirche im afrikanischen Malawi und Vijaya Bhaskar Entrapati der South Andhra Lutheran Church in Südindien. Zu ihnen gesellten sich in prächtig-bunten Kleidern mit Sari-Anklängen die nicht ordinierte Delegierte Elizabeth Dhinagar und die Pastorin Sosirite Kandulna, beide ebenfalls aus Indien, sowie der dänische Intellektuelle und Kirchenexperte Søren Abildgaard und Pastor Hakan Nilsson aus dem schwedischen Uppsala – eine angemessen bunte Truppe, kann man sagen.

Unweit der Schwarzen Madonna

Fast zwei Stunden lang ging es übers platte Land ins südpolnische Częstochowa (auf Deutsch: Tschenstochau). Und wenn es für Lutheraner überhaupt so etwas gibt wie Diaspora, dann ist sie dort zu finden, mitten in dieser Großstadt mit rund 220.000 Einwohnern, gelegen in der Woiwodschaft Schlesien. Denn Częstochowa ist unbestritten das Herz des katholischen Polen: Die Ikone der Schwarzen Madonnaim Kloster Jasna Góra (Heller Berg)ist in Częstochowa seit Jahrhunderten ein Symbol von überaus großer nationaler Bedeutung. Das Marienbildnis gilt als wundertätig und wird jedes Jahr von mehreren Millionen Pilgern aufgesucht. Es braucht schon einiges an Gottvertrauen und protestantischer Zuversicht, um in einer solch tiefkatholischen Umgebung ausgerechnet eine lutherische Kirche zu leiten.

Lutherischer Gottesdienst in Tschenstochau mit Predigt aus Indien.

Bischof Entrapati aus Südindien predigt in dem liebevoll gestalteten Gottesdienst in der polnischen Diaspora. 

Der Gottesdienst ist sehr liebevoll gestaltet, es werden Bach und Händel an der Orgel und mit der Violine gespielt. Alle machen tapfer mit, die lutherische Frömmigkeit funktioniert eben auch weltweit. Aufhorchen lässt ein Satz aus der in Englisch gehaltenen Predigt von Bischof Entrapati aus Südindien. Er erwähnt knapp die derzeitige Verfolgung, ja sogar Folter und Morde, die seine Gläubigen, darunter Priester seiner Kirche, zu erleiden hätten. Pastorin Kandulna bestätigt eine zunehmend feindselige Stimmung gegenüber Christinnen und Christen in Indien. Die Hetze wird angefacht und verstärkt durch einen ausgrenzenden Hindu-Nationalismus, für den auch der indische Premier Narendra Modi seit zehn Jahren Verantwortung trägt.Wie friedlich und respektvoll sind dagegen das religiöse Zusammenleben und das Staat-Kirche-Verhältnis in Polen, überhaupt in Europa! Das wird auch nach dem Gottesdienst deutlich beim Austausch mit anderen Gläubigen im schlichten Gemeindesaal der lutherischen Kirche von Częstochowa. Mit Händen und Füßen, in Polnisch, Englisch und auch etwas Deutsch finden einige intensive Gespräche statt, die das eifrig bemühte Schlagwort vom gegenseitigen Lernen plötzlich gar nicht mehr als eine Plattitüde erscheinen lassen.

Gespräch im Gemeinderaum

Gespräch im Gemeinderaum. 

Beim nach polnischer Vorliebe überaus fleischlastigen Mittagessen mit dem Bürgermeister von Częstochowa, Krzysztof Matyjaszczyk von der sozialdemokratischen SLD, mittlerweile in der „Nowa Lewica“ (Neue Linke) aufgegangen ist,  geht es danach in einem Restaurant ein paar Straßen weiter an einer Ecke des langen Tisches um die protestantischen Kirchen in Dänemark, Deutschland und Schweden. Aber deren Probleme sind, auch wenn sie natürlich drücken, am Ende lächerlich im Vergleich zu denen der lutherischen Gemeinschaften etwa in Indien oder in Afrika. Und das gilt, auch wenn diese Kirchen im globalen Süden im Gegensatz zum europäischen Luthertum wachsen. Aber deren kirchliches Leben, das wird im Laufe des Tages an den Erzählungen der bunten Truppe im Minibus deutlich, ist in der Regel ungleich härter. Wenn es in den Schriften des Neuen Testaments um die Bedrängung, Verleumdung und Verfolgung der jungen Christenheit geht, wird dies etwa in Indien ganz anders und viel unmittelbarer gelesen und verstanden als in Europa. Und die Bitte um Gebete für diese eher jungen Kirchen in großer Not haben vor allem eines: eine viel größere Dringlichkeit.

Am Sonntagnachmittag ergibt sich anschließend für die gequetschten Lutheranerinnen und Lutheraner im Minibus noch die Möglichkeit, einer Führung zur berühmten Schwarzen Madonna im Kloster Jasna Góra beizuwohnen. Die barocke Pracht, die hemmungslose Heiligenverehrung und die demonstrative katholische Frömmigkeit vor der braunen Ikone mit dem Narbengesicht sind so ziemlich das Gegenteil zur eher zurückhaltenden lutherischen Spiritualität, zumindest in ihrer europäischen Tradition. Aber ein guter Lutheraner der Reisegruppe lässt sich ob der besonderen Atmosphäre auf dem Hellen Berg dann doch zu einer kurzen Kniebeuge vor der Ikone hinreißen … wer, wird nicht verraten.

So ist das an diesem Tag im südpolnischen Częstochowa. Pastor Glajcar hat noch einen kurzen Besuch in der polnisch-orthodoxen Kirche organisiert, die genau gegenüber seiner lutherischen Kirche deutscher Herkunft steht. Der dortige Pope erläutert mit großer Freundlichkeit und Humor einige grundlegende architektonische und theologische Prinzipien seiner Kirche. Und so, wie er sich mit Pastor Glajcar gleich mehrmals und herzlich umarmt, nimmt man den beiden sofort ab, dass hier in den vergangenen Jahren nicht nur eine fruchtbare ökumenische Zusammenarbeit gewachsen ist, sondern auch eine tiefe Freundschaft. So schön, vielfältig, respektvoll und bunt kann das Christentum eben sein, sei es lutherisch, katholisch oder polnisch-orthodox. Auch das war an diesem Sonntag in Częstochowa, in der tiefen protestantischen Diaspora, zu lernen.

In der Konsensmaschine

Erklärungen, die niemandem weh tun. Nachwirkungen des gemeinsamen Gangs durch das Konzentrationslager Auschwitz/Birkenau. Eine Demonstration für mehr Klimaschutz, jedoch nicht auf der Straße, sondern innerhalb des Kongresszentrums, in dem man tagt. Das prägte die Schlusstage der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau.

Blick ins Plenum der Vollversammlung des LWB in Krakau
Foto: LWB/Albin Hillert

Blick ins Plenum der Vollversammlung des LWB in Krakau

Zum Schluss wurde die Diskussion noch einmal lebhaft – wenn auch an einer Stelle, an der dies nicht unbedingt zu erwarten war. Nein, es war nicht der Vorschlag, eine Zeile in der Abschlusserklärung des Lutherischen Weltbundes (LWB) mit der Aussage, man sei als Christinnen und Christen gesandt zu den Nachbarn, mit dem Nebensatz zu ergänzen „zu denen wir gesandt sind“. Das wäre nun wirklich totale Banane gewesen (gleichwohl wurde im Plenum der großen Kirchenversammlung darüber nicht gelacht).

Etwas Leben, gar Beifall brandete unter den gut 300 Delegierten in Krakow vielmehr erst auf, als es vor allem um Sexualität beziehungsweise die Würdigung traditioneller Formen von Sexualität ging. In der fast eine Woche lang diskutierten Abschlusserklärung heißt es nun in der inoffiziellen deutschen Übersetzung: „Wir lehnen alle Formen von Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Sexualität, Klasse, Alter, Behinderung, Fremdenfeindlichkeit, Kaste oder sozialer Herkunft ab.“ Kein schlimmer Satz. Aber eine Gruppe von vor allem mittelosteuropäischen Delegierter wollte an dieser Stelle eher bibelnahe Formen der Sexualität und Partnerschaft mit einem zusätzlichen Satz gewürdigt sehen. Das aber wurde, nach kurzer und fast leidenschaftlicher Debatte, abgebügelt. Knapp und überspitzt gesagt: Die „Gendergaga“-Fraktion konnte sich gegen die „woke“ Mehrheit nicht durchsetzen.

Ein besserer Ort

Zugleich ist diese kurze Szene am gestrigen Schlusstag der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, die seit Mittwoch vergangener Woche in der früheren polnischen Königsstadt tagte, typisch für die Stimmung und die Erklärungen, die verabschiedet wurden. Es sind Resolutionen und „Öffentliche Stellungnahmen“, die einerseits in der Regel niemandem wehtun, andererseits aber auch außerhalb der Kirchenblase kaum wahrgenommen werden. Wenn ein Papier mit ziemlich viele Bibelzitaten eben etwas verkündet, von dem alle sowieso denken, dass das richtig ist und zudem niemand provoziert werden soll, kommen Texte heraus, die nur wenig öffentliche Resonanz erfahren. Die Welt soll mit Gottes Hilfe und das weltweite Luthertum ein besserer Ort werden, ja, das ist richtig – aber lockt eine solche Message wirklich viele Leute hinter dem Ofen hervor?

Man sollte also, um die Knackpunkte zu finden, zwischen den Zeilen lesen bei dem, was mit viel Mühe und plenumweiter Textarbeit formuliert wurde. So ist oft interessanter, was nicht im Abschlusstext gelandet ist, als das, was darin am Ende zu finden ist. Nach einem Besuch der 300 Delegierten im früheren Konzentrationslager Auschwitz am Freitag vergangener Woche fand beispielsweise eine Art Gedicht über diese Erfahrung seinen Weg in die Abschlusserklärung. Darin heißt, wieder in nichtoffizieller deutscher Übersetzung: „Durch Auschwitz-Birkenau gehend. / Erinnern wir uns auch an andere Orte des unaussprechlichen Bösen.“ An dieser Stelle folgte dann in einer Entwurfsfassung die Erinnerung an andere Völkermorde, etwa in Ruanda. Aber ist dieser Massenmord wirklich mit dem Holocaust vergleichbar? Eher nicht, weshalb alle Beispiele anderer Genozide schließlich gekürzt wurden. Damit konnten alle Delegierten leben. Denn nun können sich alle ihren Teil denken.

Wirkung nach außen?

So ist das eben, der LWB und vor allem seine alle sechs bis sieben Jahre stattfindenden Vollversammlungen sind große Konsensmaschinen, die jeweils ein paar Millionen Euro kosten, ohne dass die öffentliche Wirkung grandios wäre, um es sehr zurückhaltend zu formulieren. Es geht eher um das Zusammenkommen der Christenmenschen lutherischer Prägung, um das gegenseitige Bestärken, weniger um harte Beschlüsse oder Entscheidungen. Bezeichnend war am Montag eine Demonstration von LWB- Jugend-Delegierten samt Sprechchören, Gesängen und Plakaten für Klimaschutz und mehr Anstrengungen dafür innerhalb des Kongressgebäudes an der Weichsel, das der Kongress in diesen Tagen nutzte. Klar, so eine Indoor-Demo mag erhebend sein, stärkt das Gemeinschaftsgefühl und macht Spaß – aber die Wirkung nach außen ist gleich: null.

Naja, aber vielleicht sollte man da gnädig sein. Der LWB ist eben keine römisch-katholische Kirche, in der von oben nach unten runterregiert werden kann – und in den letzten Jahren sieht man ja fast jeden Tag, dass das auch nicht mehr funktioniert und Schreckliches dabei vertuscht werden kann, und zwar seit langem. Nein, der Kirchenverbund LWB ist gottseidank streng demokratisch, mit allen Mühen und Kompromissen, die das zwangsläufig zur Folge hat. Es dauert eine Weile, aber irgendwann hat man das verstanden und schraubt seine Erwartungen an die Vollversammlungen zurück. Besser so.

Anklage an israelische Regierung

Dennoch, zwei „Öffentliche Stellungnahmen“ sind in der Flut des geduldigen Papiers dann doch erwähnenswert. Zum einen ein Papier zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, das diesen Krieg mitten in Europa klar verurteilt. Dass nicht zugleich Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert werden, war auch nicht wirklich von dieser Versammlung zu erwarten. (Selbst Pawlo Schwarz, Bischof der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine, forderte dies auf einer Pressekonferenz am Montag nicht, obwohl darauf angesprochen).Zum zweiten wurde ein Papier zur Lage der Christinnen und Christen im Heiligen Land verabschiedet, das bemerkenswert ist und viel über die Stimmung auf dieser Versammlung in Krakau erzählt: Denn es geht darin zwar auch um die Christen in Israel und Palästina. Vor allem aber ist der Text eine große Anklage gegen die israelische Regierung, dass sie mit ihrer Politik der Besatzung unter anderem des Westjordanlandes der palästinensischen Bevölkerung viel Unheil antue. Warum gerade palästinensische und arabische Delegierten auf internationalen Kirchenversammlungen dieser Art mit ihrer Sicht der Dinge immer wieder so immens viel Einfluss haben, ja der israelisch-palästinensische Konflikt fast nur aus ihrer Perspektive gewürdigt wird, das ist ein Geheimnis ganz eigener Art und keinesfalls ein Segen. In solchen Fällen ist es dann auch ganz gut, wenn solche Interpretationen in einem Wust an verabschiedeten Papieren öffentlich mehr oder weniger untergehen. Und dieses segensreiche Vergessen gilt bis zur nächsten Generalversammlung des Lutherischen Weltbundes irgendwo auf der Welt. In sechs oder sieben Jahren.
 

„Der Preis der Demokratie“

Er ist der fast machtlose Kopf einer sehr vielfältigen weltweiten Organisation: Der dänische Bischof Henrik Stubkjær hat als neuer Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB) wenig mehr als sein Wort, um die säkularen Gesellschaften Europas, aber auch die wachsenden Kirchen des Südens zu überzeugen, etwa von der Frauenordination, der Homosexuellenehe – oder davon, doch Beiträge für den Kirchenbund zu zahlen. zeitzeichen-Redakteur Philipp Gessler hatte die Möglichkeit, Henrik Stubkjær kurz nach seiner Wahl zu interviewen.

zeitzeichen: Herr Stubkjær, was ist der Zweck des Lutherischen Weltbundes (LWB)?

HENRIK STUBKJÆR: Der Zweck ist, als eine Gemeinschaft sich gegenseitig zu inspirieren und die lutherischen Kirchen auf der ganzen Welt zu vereinen. Von Anfang an, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, arbeiteten die lutherischen Kirche im LWB für die Bedürftigen zusammen, ebenso in der Mission, bei der wir uns gegenseitig inspiriert haben. Ein Zweck war auch, dass sich die Schwesterkirchen in der lutherischen Theologie bestärken und neue Ideen von Lutheranern von überall aus der Welt bekommen. Schließlich wollen die Lutheraner im ökumenischen Feld eine Rolle zu spielen, was ja auch seit Martin Luther der Fall war.

Aber ist der LWB wirklich noch nötig in einer Zeit, in der, geschätzt, ungefähr 99 Prozent der Bevölkerung in Europa nicht mehr den Unterschied erklären kann zwischen, sagen wir,  Luthertum und Calvinismus?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, das stimmt. Aber ich glaube, der LWB ist nach wie vor wichtig. Bei uns in Dänemark zum Beispiel sind wir zwar eine Mehrheitskirche, aber wir schrumpfen. Das ist ähnlich bei allen Kirchen im globalen Norden, während die Kirchen im Süden der Welt derzeit wachsen. Wir brauchen den LWB, um dieser dieser inspirierende Körper zu sein, der den Kirchen hilft, die vielleicht nicht viel Geld haben. Es gibt etwas ausdrücklich Lutherisches in unserer Theologie. Für Luther war es zentral, dass der Mensch befreit ist durch die Gnade Gottes. Das zu hören, ist genau das, was die Menschen überall auf der Welt heute zu hören nötig haben.

Aber ist das neu?

HENRIK STUBKJÆR: Wir sind zugleich gegen neue Arten der Theologie, die uns heute wieder weismachen wollen, dass wir für die Erlösung zahlen müssen. Luthers Idee war, dass jedes menschliche Wesen durch die Liebe Gottes freigesetzt wird. Das bedeutet, dass wir nicht nur frei sind, auf uns zu achten, auf uns und unser Tun, etwa ob wir gut genug sind, sondern wir können uns aufrichten, können in die Augen unserer Nachbarn und auf ihre Nöte schauen.

77 Millionen Gläubige 

Das kann auch von Organisationen wie dem Weltkirchenrat geleistet werden. Warum brauchen wir eine spezifisch lutherische Weltorganisation?

HENRIK STUBKJÆR: Weil Luthers Gedanken noch heute relevant sind, und wir müssen sie weiter ergründen. Nun profitieren wir von den verschiedenen Kontexten, in denen es lutherische Kirchen gibt. Bei unseren gemeinsamen Gottesdiensten inspirieren uns die unterschiedlichen Lieder, Gebete und Interpretationen des Evangeliums.

Aber ist das dann anders als bei anderen evangelischen Konfessionen?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, es gibt schon Besonderheiten, die uns verbinden. Aber zugleich arbeiten wir ökumenisch an dem einen Leib, dem einen Geist und der einen Hoffnung. In der Ökumene sind wir weiter aktiv. Und wenn Sie die Mennoniten oder Methodisten fragen würden, würden die das Gleiche sagen.

Jetzt haben rund 300 Delegierte rund sieben Tage an der Abschlusserklärung der LWB-Vollversammlung vergangene Woche in Krakau gearbeitet. Aber diese Erklärung ist so vorsichtig geworden, dass sie niemandem mehr weh tut, aber auch nicht mehr wirklich interessant ist für viele. Ist das nicht ein Widerspruch?

HENRIK STUBKJÆR: Da würde ich Ihnen widersprechen. Ich glaube, die Menschen sind daran interessiert. Wenn Sie in den globalen Süden gehen, wächst die Kirche dort schnell. Im LWB sind nun 77 Millionen Gläubige, das sind rund vier Millionen Menschen mehr als bei der letzten Generalversammlung. Ein Beispiel ist auch Dänemark, das als eines der säkularsten Länder der Welt gilt: Wir haben gerade in meiner Landeskirche mehr als zwei Millionen Euro erhalten, da eine der führenden Reedereien der Welt, Maersk, die Kooperation zwischen den Kirchen und den Kommunalverwaltungen stärken wollte, gerade weil wir als Kirchen an der Basis, in jedem Ort präsent sind, während die Verwaltungen das nicht mehr leisten können. Sie sind jetzt entfernter von den Leuten, wir dagegen sind bei den Menschen auf lokaler Ebene. Wir helfen Kindern mit speziellen Problemen, auch einsamen und alten Menschen. Das wird mittlerweile anerkannt von Stiftungen und der Zivilgesellschaft.

Sollte diese Arbeit nicht vom Staat geleistet werden, nicht von der Kirche?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, aber es macht einen Unterschied, ob Sie als ein Freiwilliger zur Stelle sind oder als jemand, der bezahlt wird. Ich bin sehr für die Verantwortung des Staates und der ganzen Gesellschaft, aber es ist dennoch viel besser, wenn wir zusammenarbeiten. Der Bürgermeister meiner Stadt kam neulich zu mir und sagte zu mir: „Ist Ihnen klar, dass Kliniken ihre Patienten um zehn Uhr abends nach Hause schicken?“ Wie sollen wir damit umgehen? Und warum erzählt er mir das? Wahrscheinlich, weil sich in unseren Gemeinden Freiwillige finden, die bereit sind, solchen Menschen etwas Milch und Butter zu kaufen, bevor sie nachts nach Hause kommen.

Von unten nach oben

Aber war es nicht ein schlechtes Zeichen, dass nur wenige nicht-kirchennahe Medien von der Versammlung in Krakau berichtet haben?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, das stimmt. Daran müssen wir arbeiten. Immerhin, die dänischen Medien waren dieses Mal sehr aktiv.

Weil Sie als Präsident des LWB gewählt wurden.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, das war für sie eine Story. Sie als Journalist wissen: Wir müssen da schon was auf den Tisch bringen.

Genau, und wenn die Abschlusserklärung so vorsichtig ist und vor allem sagt, alles sollte gut sein, dann ist das etwas schwierig, oder?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, aber der LWB ist eben keine Organisation, die von oben nach unten organisiert ist. Als lutherische Kirchen arbeiten wir von unten nach oben. Wir treffen hier nicht im Namen unserer Kirchen Entscheidungen und stecken sie dann in die Köpfe unserer Kirchen und Gesellschaften. Aber wir diskutieren miteinander, wir geben diesen Raum. Ich weiß, dass es zum Beispiel für unsere weiblichen Delegierten in Afrika wichtig ist, dass wir eine klare Aussage treffen in Sachen Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit. Das können sie dann in ihren Gemeinden sehr gut nutzen.

Es scheint mir dennoch so, dass mit diesem Papier einfach jeder zufrieden sein kann – aber es fehlt die klare Botschaft.

HENRIK STUBKJÆR: Aber wenn Sie zum Beispiel unsere Stellungnahme zum Ukrainekrieg anschauen, dann wird es eine Seite geben, die darüber nicht so glücklich ist.

Lassen Sie mich raten, welche das sein könnte.

HENRIK STUBKJÆR: Das ist ziemlich klar.

Gegen das Völkerrecht

Es wurden hier in Krakau über 20 Papiere und Stellungnahmen veröffentlicht. Aber sind diese Erklärungen nicht vor allem nur in der Kirchenblase wichtig, wobei angesichts der hohen Kosten die Wirkung außerhalb etwas schwach ist?

HENRIK STUBKJÆR: Gleichzeitig hatte ja auch die UN in New York ihr Treffen. Wir haben hier vier öffentliche Stellungnahmen veröffentlicht, etwa eine zum Krieg in der Ukraine, eine zum Thema Israel-Palästina, eine zum Thema Gewalt gegen Minderheiten in Asien. Diese gingen als eine Nachricht von uns an die UN, und wir bringen diese Stellungnahmen auch in unsere Heimatländer, um sie dort den Medien mitzuteilen. Und die 18 Resolutionen aus Krakau werden die Arbeitsfelder des LWB in den kommenden Jahren sein. Das ist die Aufgabe des neuen LWB-Rates und von mir: Wie können wir dies in den Kirchen und Gesellschaften implementieren? Wie können wir die prophetische Stimme in den Gesellschaften sein?

Es gab eine Resolution über die Lage der Christen im Heiligen Land, aber das Papier war vor allem ein Appell gegen die Besetzung des Westjordanlandes durch Israel. Warum haben die palästinensischen Delegierten mit ihrer Sicht der Lage immer so viel Einfluss auf die Papiere? Missbrauchen sie die LWB-Versammlungen für ihre Zwecke?

HENRIK STUBKJÆR: Nein, das glaube ich nicht. Das ist eben ihre Plattform, um zu äußern, was sie jeden Tag erfahren müssen. Es ist schwierig für sie, sie leben unter Besatzung. Es ist schwer für sie, das zu äußern, was wirklich passiert. Wir sind aktiv im Heiligen Land seit 1947, seit unserer Gründung. Wir wurden auch gegründet, um in den damaligen Flüchtlingslagern zu helfen. Ich war in Israel und Palästina, auch im Auguste-Viktoria-Hospital in Jerusalem. Es ist das mordernste Krankenhaus für Krebschirurgie in der palästinensischen Gesellschaft. Und es ist gegen alle internationalen Übereinkünfte, was derzeit in Israel passiert.

Sie meinen, was die israelische Regierung derzeit tut?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, sie bauen neue jüdische Siedlungen auf palästinensischem Gebiet, was gegen das Völkerrecht verstößt. Aber sie machen weiter. Und wer will für die Palästinenser die Stimme erheben?

Also brauchen die Palästinenser eine Kirchenversammlung, um zu bestärken, was sie die ganze Zeit schon denken?

HENRIK STUBKJÆR: Ja, sie brauchen eine öffentliche Stimme, und wir können sie ihnen geben. Aber wir geben auch eine Stimme für die Menschen in Israel, die in dieser Frage genau unserer Meinung sind.

Streitthema Homosexualität

Wenn man in Krakau durch die Straßen ging, hat man kaum realisiert, dass hier die große LWB-Versammlung stattfand. War es nicht ein seltsames Zeichen, dass es nur eine Demonstration von Jugenddelegierten innerhalb des Kongresszentrums gab, nicht außerhalb? Das war ein wenig absurd.

HENRIK STUBKJÆR: Da haben Sie in gewisser Weise recht. Aber ich war gleichwohl froh, dass diese Kundgebung stattgefunden hat, wenn auch nur innerhalb der Kongresshalle. Ich war 2009 verantwortlich für die Aufnahme von Kirchengästen beim COP 15 in Kopenhagen. Das waren damals 2.000 Delegierte. Zur nächsten Konferenz haben wir als LWB dann Jugenddelegierte entsandt. Ich hoffe, dass wir die Zahl der Jugenddelegierten bei Klimaaktionsplänen erhöhen und alle Kirchen um dieses Thema vereinen können, um dann eine öffentliche Demonstration machen zu können.

Hatten die Jugenddelegierten Angst vor der Welt da draußen? Warum demonstrierten sie nicht auf der Straße?

HENRIK STUBKJÆR: Das müssten Sie die jungen Leute fragen. Man muss ja die Demonstrationen im öffentlichen Raum anmelden, und vielleicht ist das nicht so einfach in Polen. Aber die Jugenddelegierten haben ja Maßnahmen zum Klimaschutz eingefordert, ebenso Raum in den Gremien, in denen Entscheidungen getroffen werden. Immerhin haben wir in den LWB-Entscheidungsgremien eine Jugendquote von 20 Prozent. Das haben wir weder in Dänemark, noch haben Sie es in Deutschland. Es wäre also der erste Schritt für uns, auf unsere Realität zuhause zu schauen.

Es gibt im LWB keinen Konsens zur Frage der Ehe für alle. Manche LWB-Kirchen praktizieren die so genannte Homosexuellenehe, andere nicht. Warum schließt der LWB die Kirchen nicht aus, die gegen die Homoehe sind?

HENRIK STUBKJÆR: Weil wir eben keine Von-oben-nach-unten-Organisation sind, im Gegenteil. Wir kommen aus so verschiedenen Kontexten, auch bei der Konferenz in Krakau. In manchen Ländern ist Homosexualität gesetzlich verboten.

In manchen Staaten kann es sogar mit der Todesstrafe bestraft werden.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, man kann dafür ins Gefängnis kommen, sogar die Todesstrafe erhalten. Wir können als Kirchengemeinschaft gemeinsam festhalten, dass die Würde aller Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, immer gewahrt werden muss. Wir verurteilen jegliche Form von Gewalt, unabhängig davon, wie wir als Kirchen oder als Einzelpersonen über die Themen Familie, Ehe und Sexualität denken. Aber es ist natürlich ganz einfach für uns, wenn man zum Beispiel aus den nordischen Staaten kommt, zu fordern, dass sich der LWB in seiner Abschlusserklärung klar für die Rechte von Homosexuellen aussprechen sollte. Aber wie sollen sich die Delegierten aus den Ländern verhalten, wo das verboten ist, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren? In Ländern, wo man ins Gefängnis oder getötet werden kann, wenn man darüber redet. Das wäre kontraproduktiv.

Es wäre wohl auch gefährlich.

HENRIK STUBKJÆR: In Malaysia gab es vor kurzem auf einem Festival ein großes Konzert mit einer westlichen Band. Als ein öffentliches Statement für Homosexualität hat der Frontsänger dabei den Gitarristen auf der Bühne auf den Mund geküsst. Daraufhin wurde das Festival aufgelöst. Und wer das am meisten bedauert hat, das war die LGBTQ-Community in Malaysia. Denn dieser Vorfall wurde von den islamistischen Parteien in Malaysia sofort für ihre Zwecke genutzt. Es gab Wahlplakate mit einem dezenten muslimischen Ehepaar auf der einen Seite und dem Bild des Kusses auf der anderen Seite. Mit der Aussage: Welches Malaysia wollen Sie in der Zukunft?

Fortschritte bei Frauenordination

Das Argument dagegen ist aber, dass der LWB in manchen Situationen auch prophetisch sein muss.

HENRIK STUBKJÆR: Wir haben als LWB die so genannte „Emmaus-Methode“ entwickelt, was bedeutet: Wie gehen zusammen und sprechen miteinander. Und übrigens war es noch vor wenigen Jahren unmöglich, in Deutschland über homosexuelle Partnerschaften zu sprechen. Aber das machen wir heute. Wir müssen geduldig sein. Wir müssen miteinander sprechen und zuhören.

Doch die Emmaus-Apostel der Bibel gingen und sprachen nicht nur miteinander, sie kamen am Ende auch an ein Ziel.

HENRIK STUBKJÆR: Ja. Aber es gab Fortschritte etwa bei der Frauenordination, in den letzten 20 Jahren. Es ist meine Aufgabe, als LWB-Präsident sicherzustellen, dass jede Stimme gehört wird.

Hier in Europa, in Riga, hat die Lutherische Kirche von Lettland die Frauenordination sogar wieder rückgängig gemacht.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, und das bedauere ich.

Die Mitgliedschaft dieser Kirche im LWB könnte suspendiert werden, ohne Gefahr für die Christen dort.

HENRIK STUBKJÆR: Wenn Sie theologisch arbeiten, wissen Sie, dass das nicht so einfach ist. Es gibt nicht nur einen Weg und eine Wahrheit. Wir müssen auch auf den Kontext und unsere jeweiligen Gesellschaften schauen. Ich bedauere die Entscheidung der Letten, aber wir behalten sie im LWB und reden weiter mit ihnen. Wir reden mit ihnen über Gleichheit, über den Segen, den Pastorinnen für unsere Kirchen gebracht haben.

Glauben Sie, die Letten werden ihre Meinung in dieser Frage erneut ändern, obwohl sie doch die Frauenordination erst vor wenigen Jahren wieder abgeschafft haben?

HENRIK STUBKJÆR: Ich bin nicht die Person, die den Letten zu sagen hat, dass sie ihre Position ändern sollen. Änderungen finden nicht statt, während wir sprechen, sondern zwischendrin, also in den Momenten, wenn wir nach Gesprächen wieder allein sind und über das Gehörte nachdenken. Dann kommen wir vielleicht zu neuen Gedanken.

Fehlende Mitgliedsbeiträge

Wie viele Mitgliedskirchen zahlen ihre Beiträge nicht an den LWB?

HENRIK STUBKJÆR: Ich glaube, es sind etwa 40 Prozent.

Und ist das in Ordnung?

HENRIK STUBKJÆR: Nein, nein. Ich finde das nicht in Ordnung. Natürlich müssen wir darüber reden. Es geht hier auch um das Engagement, das Commitment. Wir sind in der gleichen Gemeinschaft. Wer in einer Gemeinschaft ist, muss sich einbringen. Die Beiträge werden nach einem fairen Mitgliedsbeitragsprinzip berechnet und berücksichtigen das Vermögen jeder Kirche im Verhältnis zu anderen Mitgliedskirchen sowie Faktoren wie ihre Größe und den Wohlstandsindex des Landes. Wir müssen mit den nicht zahlenden Kirchen sprechen und sie fragen, warum sie nicht zahlen. Ist der Beitrag zu hoch, können sie ihn nicht zahlen? Dann sollten wir den Beitrag senken. Denn es ist auch eine Frage der Würde: Ihr seid hier mit dem gleichen Recht wie wir. Wir haben unseren Beitrag geleistet.

Den Beitrag zu zahlen ist einfacher für die dänische Kirche, weil bei ihr doch das Parlament in Kopenhagen einen Großteil des LWB-Beitrags zahlt, oder?

HENRIK STUBKJÆR: Nein, das Parlament glaubt nur, es sei sein Geld. Das liegt am dänischen Kontext: Die dänische Kirche erhält etwa 100 Millionen Euro vom Staat, und das Geld wird vor allem verwendet zur Finanzierung der Gehälter der Pastoren in Dänemark. Aber dafür kümmern wir uns um alle Kirchen im Land, nicht zuletzt um die historischen. Die Kirche organisiert auch die staatliche Anmeldung von Zugezogenen. Die Kirche bringt etwa so viel Geld selbst auf, wie sie vom Staat erhält.

Natürlich ist es für die armen Kirchen im Süden schwerer, ihre Beiträge aufzubringen.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, uns fällt das natürlich als reiche Kirche des Nordens leichter. Einige der nicht zahlenden Kirchen im Süden sind junge, kleine Kirchen und neue LWB-Mitglieder. Viele von ihnen leben unter harten Bedingungen, zum Teil im Krieg. Das ist schwer.

Manche von diesen Kirchen werden auch in ihrem Land diskriminiert.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, wir müssen also da genau hinschauen und mit ihnen reden: Wie können wir euch helfen? Könnt ihr vielleicht zu euren Partnerkirchen im Norden gehen? Oder zu den Missionswerken, die sie unterstützen? Wenn ich gleich viel zahle, kann ich in den Versammlungen mit dem gleichen Recht aufstehen und meine Stimme erheben.

Das ist recht logisch.

HENRIK STUBKJÆR: Ja, das ist es. Wir wollen diese Kirchen ja an Bord haben. Ich gebe Ihnen gleichwohl Recht, wir müssen mit diesen Kirchen reden.

Es könnte ja auch eine postkoloniale Attitüde sein, für diese Kirchen des Südens einfach zu zahlen.

HENRIK STUBKJÆR: Genau. Wir halten diese Kirchen in der alten Tradition, dass wir diejenigen sind, die zahlen und sie empfangen. Das ist nicht angemessen. Wir müssen die Sache auf den Kopf stellen. Sie haben die gleichen Rechte wie wir.

Die Vollversammlung in Krakau und die Vortreffen verschiedener Gruppen zuvor, etwa der weiblichen Delegierten, haben rund 3,2 Millionen Euro gekostet. Das ist viel Geld. Hat sich das gelohnt?

HENRIK STUBKJÆR: Das ist viel Geld. Aber man kann das auch anders betrachten und sagen: Das ist der Preis für Demokratie. Natürlich sollten wir das so billig wie möglich machen, aber wenn wir wirklich Demokratie wollen, dann müssen wir alle hier sein, Auge in Auge. Das ist heute teuer, aber ich bin bereit, dafür zu zahlen.

Das Interview führte Philipp Gessler am 19. September in Krakau auf Englisch.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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