„Expecto Patronum!“

Eine Antwort auf Angela Rinns „Dementoren im Pfarrhaus“
Werbung für die "Warner Bros. Studio Tour Tokyo - The Making of Harry Potter", die am 16. Juni 2023 in Tokio eröffnet wurde.
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Am vergangenen Freitag schrieb unsere Kolumnistin Angela Rinn über ältere Pfarrer, die, ähnlich wie die „Dementoren“ aus Harry Potter, jüngeren Pfarrkolleg:innen Motivation und Energie rauben. Ihr widerspricht Henriette Crüwell, Pröpstin in der Hessen-Naussauischen Landeskirche, deutlich und erinnert an ein anderes Moment aus Harry Potters Saga.

Immer wieder sagen mir Menschen, dass sie sonntags oft nur wegen des Segens in der Kirchenbank sitzen. Weil sie sich da persönlich angesprochen und gesehen fühlen. Erst im Laufe der vielen Jahre als Gemeindepfarrerin habe ich zunehmend verstanden, was für eine Kraft diese Segensworte haben, die wir uns ja nur ausleihen, um sie weiterzugeben. Von Generation zu Generation. Und ich finde es großartig, dass wir als Kirchen endlich anfangen, diesen Zuspruch nicht nur feiertags in der Kirche, sondern auch in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen an alle weiterzugeben, die ihn sich wünschen. Ich bin beeindruckt, mit wieviel Herzblut meine Kolleg:innen – die jungen wie die alten – ihr Amt ausfüllen. Aber ich spüre auch überall dort, wo ich hinkomme, durch alle Generationen hindurch eine große Müdigkeit und Erschöpfung.

Und deswegen ging mir folgende Begebenheit ganz besonders nahe: Ein Kollege, der vor 37 Jahren als Pfarrer in einer Gemeinde mit knapp 3000 Menschen und 60 Konfis angefangen hatte und der jetzt aus eben dieser Gemeinde, die heute beinahe nur noch halb so groß ist, von mir in den Ruhestand verabschiedet wird, sagte beklommen: „Ich frag mich ja manchmal schon in meinen dunkelsten Momenten: Was habe ich eigentlich falsch gemacht, wenn doch so viele gehen? Liegt denn kein Segen mehr auf unserer Arbeit?“  Er spricht damit aus, was vielen anderen, die am Ende ihres Pfarramts stehen, auch das Herz schwer sein lässt. Für alle im Gottesdienst gibt es den Zuspruch. Aber: Wo ist der Segen für die Segnenden?  Liegt nicht jener Segen, den wir anderen erteilen, auch auf uns, die wir ihn aussprechen?

Nicht genug bemüht?

Wir verabschieden eine Generation in den Ruhestand, die in der eigenen Berufsbiografie den kirchlichen Traditionsabbruch hautnah erlebt hat. Statt am Ende ihres Dienstes die Ernte einfahren zu dürfen, scheint ihnen nun alles, wofür sie sich mit viel Leidenschaft und Herzblut viele Jahre und Jahrzehnte eingesetzt haben, zwischen den Finger zu zerrinnen. Und auch wenn dieser Abbruch vor allem mit dem demografischen Wandel, einer fortschreitenden Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft zu tun hat, machen sich nicht wenige der Kolleg:innen den Vorwurf der ewig Neunmalklugen zu Eigen: „Ihr habt Euch einfach nicht genug bemüht!“

Wen wundert es, dass manche darüber müde und mürbe geworden sind? Wen wundert es, dass dann die Kraft und manchmal auch der Wille fehlen für die ohne Zweifel notwendigen Veränderungen? Wen wundert es, dass dann die Frage, wo sie nach dem Auszug aus dem Pfarrhaus wohnen werden, zu einer existenziellen Frage wird?

Aus der Depressionsforschung weiß man, dass auch psychisch stabile Menschen krank werden können, wenn mehr als zwei Lebensveränderungen auf einmal zusammenkommen. Für Pfarrer:innen, die aus dem Pfarrdienst verabschiedet werden, sind es oft sogar drei: Es verändern sich mit dem Eintritt in den Ruhestand nicht nur das Berufsleben, sondern auch der Wohnort und das Beziehungsnetzwerk, in das sie als Pfarrer:innen eingebunden waren. Und wenn man dann noch nicht mal zufrieden auf die Jahre und Jahrzehnte zurückschauen darf, wird der Schritt nach vorne noch unsicherer.

Segen für die Segnenden

Wir Pröpst:innen ordinieren in der EKHN die Berufsanfänger:innen und verabschieden die Altgedienten in den Ruhestand. Der Segen für die Segnenden ist also unsere Aufgabe. Und dafür liebe ich mein Amt. Es ist schön, diesen Segen von Generation zu Generation weitergeben zu dürfen. Und zu diesem Segen gehört auch das Wohlwollen, mit dem wir einander begegnen.

Deswegen versprechen wir bei der Ordination den Kolleg:innen, dass die Kirche sich verpflichtet, ihnen in ihrem Dienst beizustehen. Und mit „Kirche“ sind alle gemeint, die sich dazu zählen, von der Kirchenleitung bis hin zu den Professor:innen für die Ausbildung der Vikar:innen.

Worin dieser Beistand besteht, verändert sich im Laufe der Berufs- und Lebensjahre und muss auch immer wieder ausgehandelt werden, weil es ja darum geht - übrigens nicht nur bei den Hauptamtlichen - die unterschiedlichen Bedürfnisse und Gaben, die verschiedenen Perspektiven und Berufserfahrungen wahrzunehmen, miteinander ins Spiel zu bringen und allen dabei im positiven Sinn zu unterstellen, dass sie mit gutem Willen und im bestem Wissen und Gewissen handeln. Eins aber braucht niemand, nämlich jene polemischen Zuspitzungen, die von „Dementoren im Pfarrhaus“ sprechen und die einen zu Täter:innen und die anderen zu Opfern machen. So etwas treibt den Keil nur noch weiter zwischen die Generationen. Das raubt Energie und Lebensglück. Hier lauern meines Erachtens die eigentlichen Dementoren in Form von Polarisierung und Defizitorientierung, beides so überflüssig wie ein Kropf!

Schutz und Schirm

Im Erzählkosmos von Harry Potter ist der Patronus jene Schutzgestalt, die diese Dementoren vertreibt. Der Zauberspruch „Expecto Patronum!“ bedeutet frei übersetzt: „Ich erwarte Schutz und Schirm.“  Ein Patronus kann also nicht einfach herbeigezaubert werden. Diese Gestalt gewinnt ihre Kraft erst aus der Vergegenwärtigung einer besonders glücklichen und tragfähigen Erinnerung.

Auf unsere Situation übertragen, bedeutet das:  Wir brauchen sie, diese tragfähigen Erinnerungen. Und wir brauchen den Austausch darüber zwischen den Generationen der Pfarrer:innen, also über das, was sie im Dienst trägt, was sie begeistert hat und immer noch und immer wieder begeistert.

In einer Dekanatskonferenz von Hauptamtlichen durfte ich miterleben, was für eine Energie aus einem solchen Austausch entstehen kann. Da gab es unter anderem eine Runde, wo die Kolleg:innen erstmal einfach nur von einem besonderen Highlight am Anfang ihres Dienstes berichten sollten. Und es war berührend, mit wie viel Freude alle etwas zu erzählen hatten: vom Gottesdienst auf der Startbahn West in den 1980ern, vom Glück, in den 1990ern überhaupt eine Pfarrstelle ergattert zu haben, von der Familienfreizeit oder vom großen Tauffest am See in den Coronajahren. Es wurde spürbar: Hier sind Menschen verschiedener Generationen, Prägungen und Herkünften mit Leidenschaft und Berufung unterwegs. Alle auf ihre besondere Weise.

Und in einem solchen Austausch verschwinden dann die Dementoren, jene also, die - wie es so schön heißt - auf jeden Fall dagegen sind, egal worum es sich handelt, von ganz allein. Da ist Gott mit seinem Segen, mit seinem Schutz und Schirm mittendrin. Pfarrkonvente und Dekanatskonferenzen können solche Austauschräume sein, in denen wir zusammen Wege finden, wie wir einander jenen Beistand geben können, der uns allen bei der Ordination versprochen wurde und den wir brauchen, damit unser Dienst zum Segen der Gemeinden werden kann. 

Immer nach dem Warum fragen

Es gibt aber leider auch unter uns Kolleg:innen, die sich gegen jede Veränderungen stemmen und damit jede Zusammenarbeit gefährden. Und die gibt es nicht nur bei den Altgedienten, sondern auch unter den Berufsanfänger:innen. Es lohnt sich jedoch immer, erstmal zu fragen und wahrzunehmen, warum sie sich so verhalten, anstatt sie gleich als Dementor:innen zu verteufeln. Ein wohlwollendes Verständnis unter- und füreinander kann da sehr hilfreich sein. Und vielleicht finden sich dann überraschend Lösungen, die allen das Leben leichter machen.

So geschehen bei einem Kollegen, der am Ende seines Dienstes vor lauter Müdigkeit und Mürbheit jede weitergehende Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden blockierte. Als ihn die Dekanin fragte, ob er die Inhaberschaft nicht aufgeben und stattdessen die Beerdigungen in der Region übernehmen wolle, griff er dankbar zu.  „Um Seelsorger zu sein, bin ich doch mal Pfarrer geworden,“ sagt er. Und indem er sich in seinen letzten Amtsjahren darauf konzentrieren kann, wofür sein Herz schlägt, hält er den Kolleg:innen den Rücken für die anstehenden Transformationsprozesse frei.

„Expecto Patronum“, das bekommt dann eine ganz neue Wendung. Zum Segen für die Segnenden. Und ein Gewinn für beide Seiten.

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Henriette Crüwell

Henriette Crüwell (geboren 1971) ist Pfarrerin und seit 2022 Pröpstin für Rheinhessen und Nassauer Land in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN).


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