Reflexen und Relaxen

Tag 3 in Nürnberg: Interessante Talks auf dem Roten Sofa
Stand des Roten Sofas in Nürnberg, 9. Juni 2023
Foto: Reinhard Mawick
Blick aufs Rote Sofa auf vor Halle 6 auf dem 38. Kirchentag in Nürnberg, 9. Juni 2023.

Oops, da ist es passiert: Acht Menschen haben sich festgeklebt! Direkt vorm Nürnberger Hauptbahnhof: sechs Personen auf der Fahrbahn Richtung Plärrer, zwei in Richtung Wöhrder See – um kurz vor Zehn geht nichts mehr. Da muss man von Berlin nach Nürnberg fahren, um endlich mal Klimakleber in "echt" zu erleben. Später ist zu lesen, dass sechs der Blockierer:innen straßenbelagsschonend von der Polizei vom Asphalt gelöst werden können, aber bei zweien Trennschleifer und Abbruchhammer zum Einsatz kommen müssen. Die Fahrbahn, meldet BILD, konnten Aktivist:innen des Servicebetriebs Öffentlicher Raum – kurz SÖR, sofort reparieren. Nach zwei Stunden fließt der Verkehr wieder.

Leider sind bei der Aktion auch Sätze wie dieser zu hören: „Sie wissen schon, dass das Gewalt ist, wenn sie mich hier entfernen " verkündet der ältesten Geklebte links außen keck der genervten jungen Polizistin, die höchstens halb so alt wie er ist. Die Beamtin repliziert stoisch: "Ich tue nur meine Arbeit..." Giftiger wird eine erregte Passantin, die daneben steht: "Ihr gehört alle überfahren!" Und eine andere tönt: "Ihr gehört alle hingerichtet!" Nürnberger Prozesse heute. O Welt, schnell weiter …

… zur Messe mit der U-Bahn, die ja freundlicher Weise von der Letzten Generation nicht blockiert wird. Dort steht vor Halle 6 in diesem Jahr das Rote Sofa der Kirchenpresse - etwas, das man zweifellos erfinden müsste, wenn es es noch nicht gäbe. Auch in Nürnberg ist es wieder am Start und geht am heutigen Samstag ab 11 Uhr in seine dritte und letzte Runde auf diesem Kirchentag. Zu erleben sind Interviews, die Kirchenjournalist:innen mit interessanten Gästen führen und dies nicht im stressigen Takt weniger Minuten wie im Fernsehen oder Radio, sondern als entspannte Gespräche zu zweit von 30 Minuten Länge. Dazwischen gibt’s jeweils ein Viertelstündchen Live-Musik, in diesem Jahr mit dem Trio Swinging Soul aus Frankfurt/Main. Insofern ideal zum relaxen und reflexen …

„Alles aufgeboten, was geht“

Prominent begann der Freitag mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der sich gleich im Stolz über seine Heimatstadt Nürnberg ergeht, nicht ohne dies mit einer der vergifteten Sottise zu versehen: man habe in Nürnberg „alles aufgeboten, was geht – wenn der Kirchentag es gewollt hätte, auch Nürnberger Bratwürschte …“. Zack, gleich mal einen ausgeteilt in Richtung Grüne, Veggies und ähnliche Kreaturen – ja, so isser halt, der Söder-Markus. Applaus belohnt dann seine Sätze zum gesellschaftlichen Stellenwert der Kirche: Interviewer Roland Gertz, der Direktor des Evangelischen Presseverbands für Bayern, hatte ihn nach dem Thema Staatsleistungen gefragt. Söder antwortete: Die Ministerpräsidenten der Länder, egal welcher Partei, würden die Leistungen der Kirche im öffentlichen Raum „enorm schätzen“. Diese Leitungen waren dann das Argument des Ministerpräsidenten, um die zurzeit verstärkten Bemühungen um Ablösung der Staatsleistungen abzuräumen – immerhin ein Verfassungsauftrag bereits der Weimarer Reichsverfassung und jetzt des Grundgesetzes. Für Söder nur vorgeschobene „rechtstheoretische Argumente“. Bereits vor der Eröffnung des Kirchentages am Mittwoch hatte er sich in dieser Richtung geäußert. (Das ganze Gespräch mit Markus Söder finden Sie hier)

„In schlimmsten Alpträumen nicht ausgemalt“

Auch die zeitzeichen-Redaktion war vertreten: Redakteur Philipp Gessler führte ein Gespräch mit Joseph Schuster, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland. Gessler fragte ihn eingangs nach den vielfältigen Facetten des jüdischen Lebens fragte, aber zum anderen auch über die Vorfälle bei der Eröffnung des Gesangswettbewerbes Jewrovision, bei der Kulturstaatsministerin Claudia Roth ziemlich derbe ausgepfiffen worden war. „Nein, das habe er so nicht erwartet“, sagte Schuster. Dann kam ausführlich  der Hintergrund der Proteste zur Sprache. Er liegt in der schwierigen Rolle von Roth, sie sie im Zusammenhang mit den antisemitischen Ausartungen der letztjährigen Documenta 15 in Kassel spielte. Schuster beklagte, dass der Zentralrat die Verantwortlichen lange zuvor gewarnt hatten – leider vergeblich. Was sich dann an antisemitischen Darstellungen in Kassel angefunden habe, hätte er sich „in seinen schlimmsten Alpträumen“ nicht ausgemalt, sagte Schuster. Und natürlich sei er für Kunstfreiheit und für Meinungsfreiheit, aber die Frage sei doch: „Ist Antisemitismus überhaupt eine Meinung!“ (Das ganze Interview mit Joseph Schuster finden Sie hier).

Heiterer ging es in anderen Talks auf der Bühne zu. Beispielsweise als Tilmann Baier, Chefredakteur der Mecklenburgischen & Vorpommerschen Kirchenzeitung“, die EKD-Bevollmächtigte bei der Bundesregierung und der EU, Prälatin Anne Gidion, fragte, was denn eine EKD-Bevollmächtige so den ganzen Tag mache. Sie antwortete augenzwinkernd mit dem Stichwort „Buchsbaum“. Buchsbaum?!? Nun, Buchsbaum einfach stehe im internen Code für Veranstaltungen, wo sie und ihr katholisches Pendant Prälat Karl Jüsten „nur“ dekorativ herumstehen müssten und Buchsbaum sprechend stehe für Termine, wo auch ein paar kirchentypische Worte des Grußes erwartet würden. Lustig… Dass das nicht ganz ernst gemeint war, wurde dem lachenden Publikum schnell klar, als Gidion dann von den vielfältigen Aufgaben vor und hinter den Kulissen bundespolitischer Gesetzesvorhaben berichtete und dem dazu gehörenden Seelsorgeauftrag an den Politiker:innen in der Bundeshauptstadt.

„Gal 3,28“

Interessant war es auch, von der konfessionellen Herkunft des bekannte YouTubers Michael Sommer zu erfahren. Der reichweitenstärkste Creator des 2021 vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik geschaffenen Content-Netzwerkes YEET, der mit seinen „Bibel-to-go“-Geschichten mit Playmobilfiguren großen Erfolg hat, offenbarte, dass er Mitglied der konservativen Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sei, kurz „SELK“ genannt. Sommer trug auf der Bühne ein T-Shirt mit dem Bibelkürzel „Gal 3,28“. Da konnte man erahnen, dass er den Oberen seiner konservativen Freikirche nicht nur Freude macht, noch bevor ihn Stefan Seidel, Chefredakteur des Sonntag aus Leipzig, danach befragte. Denn was steht unter Galater 3,28? Bekanntlich der berühmte Vers: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.(Das ganze Gespräch mit Michael Sommer finden Sie hier)

Ebenfalls zum Netzwerk YEET gehört Sarah Vecera, die zeitzeichen-Redakteur Philipp Gessler zum Abschluss des Roten-Sofa-Freitags sprach. Die hauptamtlich als Referentin der Vereinten Evangelischen Mission tätige Theologin hat durch ihr 2022 erschienenes Buch Wie ist Jesus weiß geworden?  nachhaltig auf das Thema Rassismus in der evangelischen Kirche aufmerksam gemacht und auch auf die Frage nach dem sogenannten Klassismus, also dem Gefälle zwischen sozial und bildungsbiografisch verschiedenen Milieus im Raum unserer Kirche. Ein Thema, das zeitzeichen im Mai als Schwerpunkt entfaltete und auch da schon Vecera befragt hatte. Auf dem Roten Sofa betonte Sarah Vecera, es ginge ihr wirklich nicht darum, Schuldanteile zu verteilen, sondern vielmehr darum, das Bewusstsein aller zu schärfen, um gemeinsam zu einem besseren und gerechteren Miteinander zu kommen. Viel Applaus zum Abschluss eines intensiven Tages. (Das ganze Gespräch mit Sarah Vecera finden Sie hier).

Am heutigen Samstag beginnt das Rote Sofa um 11:00 mit einem Gespräch, von GEP-Direktor Jörg Bollmann mit dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Zeitzeichen-Redakteur Stephan Kosch interviewt um 15 Uhr Dagmar Pruin, die Präsidentin von Brot für die Welt. (Bühne vor Halle 6, Messe)

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