Das 500-jährige Reformationsjubiläum schickt sich an, ein Medienereignis zu werden. Vorboten sind zahlreiche Bücher und Broschüren, die zurzeit den deutschen Buchmarkt überschwemmen. Neben erbaulichen und (vermeintlich) humorvollen Schriften zu Luther, Kinderbüchern, Comics und Lutherbrevieren, kirchenpessimistischen Gegenwartsdiagnosen und protestantischen Selbstfindungsbüchern treten Neueditionen von Schriften und eine Vielzahl an Lutherbiographien. Insbesondere letztere erheben den Anspruch, Martin Luther so zu zeigen, wie er noch nie gesehen worden ist. Dem kann sich auch das Werk von Volker Reinhardt nicht entziehen, wenn auf der Banderole behauptet wird: „Geheimakte Luther. Vatikanische Quellen decken auf, was in der Reformation wirklich geschah.“ Es riecht nach verstaubten Akten, mysteriösen Quellen und sensationellen Funden, die in einem uralten Schrank der römischen Inquisition aufbewahrt und erstmals geöffnet worden sind.
Dem Autor, Historiker in Fribourg und exzellenter Kenner des Renaissance-Papsttums, könnte ein solcher Coup gelungen sein! Diese Begeisterung wechselt allerdings bei der Lektüre schnell in Enttäuschung. Wie das Literaturverzeichnis bestätigt, wird keine einzige neue Quelle erschlossen. Stattdessen arbeitet Reinhardt mit den von Theodor Brieger und Paul Kalkoff seit 1884 publizierten Depeschen des Nuntius Aleander, zieht die seit 1892 edierten Nuntiatur-Berichte aus Deutschland heran und bedient sich der seit 1901 vorliegenden Deutschen Reichstagsakten. Diese und weitere Quellen, die Generationen von Luther- und Reformationsforschern als Grundlage für die wissenschaftlich-differenzierte Sichtweise auf den römischen Prozess um Luther dienten, sind somit alles andere als geheim.
Spannend – besser spannungsreich – ist die sich an Luthers Leben abarbeitende und in glänzendem Stil verfasste Biographie gleichwohl. In aller Deutlichkeit erzählt der Autor die Geschichte aus römischer Perspektive und liest die Reformation als ein deutsch-italienisches Missverständnis. Letztlich – so Reinhardts These – sei die Reformation nicht eine religiöse Angelegenheit (Luthers reformatorischer Erkenntnisprozess wird gänzlich ausgeklammert), sondern eine kulturelle und politische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Italien gewesen. Der Kulturgegensatz mit seinen nationalen Tönen, den die deutschen Humanisten vorweggenommen hatten und den Luther nur aufnehmen musste, habe als „Clash of Cultures“ zu beiderseitigen Vorurteilen, Unverständnis und letztlich zur Kirchenspaltung geführt. Historiographisch erinnert diese Sichtweise an eine Synthese aus nationaler und ultramontaner Lutherdeutung des ausgehenden 19. Jahrhunderts
Zur Stärke des Buches zählen die Darstellungen der Päpste mitsamt ihren politischen Hintergründen zu Luthers Zeit. Beeindruckend ist das Einfühlungsvermögen, mit dem sich der Autor in die päpstlichen Nuntien Cajetan (Augsburg 1518), Aleander (Worms 1521) und Vergerio (Wittenberg 1535) hineinzuversetzen versteht. Demgegenüber bleiben die Versuche, auch Luthers Perspektive auf Begegnungen mit den römischen Vertretern darzustellen, in kritischer Distanz. Überhaupt wird über Luther nicht viel Gutes berichtet, wie bereits die Überschriften der fünf Kapitel verdeutlichen: Von „Luther, de[m] Mönch“ über den „Kritiker“, zum „Barbar“, „Vergessenen“ und „Ketzer“ reichen die Zuschreibungen. Die Theologie Luthers mit ihrer systemsprengenden reformatorischen Botschaft spielt beim Historiker Reinhardt keine Rolle. Stattdessen geht es um Inszenierungen, Selbststilisierung, Intrigen und letztlich um Macht. Lutherkritiker dürften sich durch dieses Buch in ihrer Haltung bestätigt fühlen.
Christopher Spehr
Christopher Spehr
Dr. Christopher Spehr ist Professor am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.