In der Bundesrepublik Deutschland leben derzeit bei einer Bevölkerung von rund 80 Millionen Einwohnern etwa 120.000 als solche registrierte und bekennende Jüdinnen und Juden; die absolute Zahl dürfte - einer gewissen Dunkelziffer wegen und vieler Ausländer, die nicht Mitglied in Gemeinden wurden, etwa Israelis in Berlin - noch um einige Zehntausende höher liegen. Vor dem Nationalsozialismus, vor 1933, waren es etwa 500.000, von denen es etwa der Hälfte gelang, zu fliehen; die Anderen, Zurückgebliebenen, wurden - bis auf wenige, die sich verstecken konnten - deportiert und ermordet. 1945 kamen sie aus ihren Verstecken und bildeten mit meist polnisch-jüdischen "Displaced Persons" die ersten Gemeinden, von denen damals niemand glaubte, dass sie Bestand haben würden.
Mit der Geschichte der Juden in Nachkriegsdeutschland haben sich schon eine Reihe von Autorinnen und Autoren wie Cilly Kugelmann, Michal Bodemann, Ruth Gay und Michael Brenner beschäftigt - die Aufzählung ist nicht vollständig. Doch erst jetzt, mit der kürzlich erschienenen Studie des französischen Publizisten Olivier Guez dürfte diese Art Literatur zu ihrem End- und Höhepunkt gekommen sein. Damit wird zugleich eine Zäsur markiert: Mit den Jahren nach 2010 wird eine neue Seite der Geschichte der in Deutschland lebenden Juden aufgeschlagen - die Nachkriegszeit ist vorbei, und die Epoche eines neuen deutschen Judentums mit russischen Wurzeln beginnt.
Guez‘ Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 gewinnt ihre eindrucksvolle Stärke durch drei Besonderheiten, die der Autor gekonnt zum Schnitt bringt: Durch eine konsequent durchgehaltene biographische Perspektive, eine höchst kenntnisreiche Einbettung der Geschichte der Juden in die allgemeine Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik sowie durch einen glanzvollen literarischen Stil, den Helmut Reuter gekonnt und textgetreu ins Deutsche übertragen hat.
Indem Olivier Guez wesentliche Repräsentanten des Nachkriegsjudentums in ihren typischen generationellen Erfahrungen biographisch schildert, kann er am Beispiel des aus Polen stammenden Holocaustüberlebenden Arno Lustiger, der in den späten Vierzigerjahren geborenen jüdischen Achtundsechziger, Cilly Kugelmanns oder Dan Diners, oder der in den Achtzigerjahren in Odessa geborenen Irina Mozysina jene Traumata, Hoffnungen, Probleme, Lösungswege und Blockaden anschaulich schildern, denen sich Jüdinnen und Juden in den unterschiedlichen Epochen der deutschen Nachkriegsgeschichte, sei es in West, der Bundesrepublik, oder Ost, der ddr auf unterschiedliche Weise zu stellen hatten. Auch die prekäre Lage der Juden in der ddr, hier an den Lebensläufen von Irene Runge und Vincent von Wroblewsky exemplifiziert, die zwischen Kooperation mit einem israelfeindlichen Parteiregime und sich allmählich entwickelnder Dissidenz oszillierten, wird sensibel und ohne verurteilenden Grundton dargestellt.
Tatsächlich belässt es Olivier Guez nicht bei einem einfühlsamen Nachvollzug dieser ohnehin erschwerten Lebensgeschichten, sondern weitet und unterfüttert sie durch eine genau Analyse jener Zeitläufe, in denen die von ihm befragten Menschen als Juden mit Deutschland zurecht kommen mussten. Damit wird die Geschichte der Juden in Nachkriegsdeutschland unversehens aber umso schlüssiger zugleich zu einer Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands, seiner Verdrängungen, seiner Unfähigkeit zu trauern, seiner allmählichen Annäherung an eine verantwortliche Wahrnehmung der Geschichte der NS-Zeit, seiner Gedenkpolitik und der damit verbundenen politischen Konflikte. Was jüdische Identität in Nachkriegsdeutschland heißen kann, wird erst klar, wenn man sich die Zumutungen klar macht, denen Juden ausgesetzt waren: von ehemaligen Nationalsozialisten in den ersten Regierungen der Bundesrepublik, den ersten NS-Prozessen, dem Streit über die Bewertung des Staates Israel, zwischen dem Antizionismus mancher Teile der linken Studentenbewegung und dem Pro-Zionismus der weit rechts stehenden Springer Presse bis hin zu Martin Walsers neonationalistischer Sonntagsrede oder der israelfeindlichen Politik der sed.
Indem es Guez schließlich gelingt, diese historisch dokumentierten, aber auch von ihm selbst in biographischen Gesprächen erhobenen Lebensläufe mit leichter Hand und zwanglos in die allgemeine Geschichte Nachkriegsdeutschlands zu integrieren, ist ein Werk entstanden, das weit mehr als nur eine Studie zu einer kleinen Minderheit darstellt. Am Ende zeigt sich nämlich, dass die Geschichte Nachkriegsdeutschlands ohne das Faktum der unter Schmerzen, bisweilen hoffnungsvoll, zurückgekehrten Juden weder zu schreiben noch zu verstehen ist. Am Ende lernt man aus diesem Buch sogar mehr über Deutschland als über die verschwindend kleine jüdische Minderheit, die zwischen 1948 und 1989 in Westdeutschland niemals mehr als 30.000 Mitglieder, in der ddr ungefähr 3000 Mitglieder zählte.
Heute aber, so Guez in seinem Resümee, gehe das Leben weiter, beginne ein neues Leben: "Jan Ofmanis, seine Orden aus dem Krieg stolz an die Brust geheftet, feiert den Sieg vom 8. Mai mit seinen Kameraden aus der Roten Armee ... Maxim Biller und Henryk M. Broder spotten und schimpfen ... Shelly Kupferberg erzieht ihren kleinen Aron auf Italienisch und Hebräisch ... Die russischen Jungs an der jüdischen Heinz-Galinski-Schule lesen Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger. Die unmögliche Rückkehr? Sie ist in vollem Gange."
Olivier Guez: Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945. München, Piper 2011, 410 Seiten, Euro 22,95.
Micha Brumlik
Micha Brumlik
Micha Brumlik ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft. Er lebt in Berlin.