Die halbierte Gesellschaft
Die Reichen werden einfach immer reicher! Stimmt das? Nur so halb. Die Vermögenden in Deutschland haben während der vergangenen 120 Jahre fast die Hälfte ihres Besitzanteils am gesamten Kapital des Landes verloren. Der Wirtschaftsjournalist Hannes Koch erzählt die zwiespältige Entwicklung des Reichtums hierzulande – auch anhand seiner Familiengeschichte.
In einer Nacht der frühen 1950er-Jahre türmte mein Großonkel. Im DDR-Dorf Wilsleben, heute Sachsen-Anhalt, stieg er mit Frau und Tochter auf den Pferdewagen. Sie ließen sich bis zum nächsten Bahnhof bringen und fuhren mit dem Zug gen Westen. Die letzten paar hundert Meter über die damals noch weitgehend offene Grenze zur BRD gingen sie zu Fuß. Ihren Hof, etwa 60 Hektar Land, Pferde, Vieh und ihre Heimat sahen sie nie wieder.
Der Bauer, ein Bruder meiner Großmutter, hatte einige Wochen zuvor die Information erhalten, dass ihm Gefängnis drohe, weil er während der Nazizeit Zwangsarbeiter beschäftigt habe. Die Familie begann, Möbel, Besteck und andere Wertgegenstände zu den Verwandten nach Westen zu schicken. Schließlich reiste sie selbst. Der Hof wurde kollektiviert und Teil einer neuen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Ähnlich erging es vielen Wohlhabenden und Reichen, die in den östlichen Gebieten Deutschlands lebten. Sie verloren fast ihren kompletten Besitz. Unter anderem diese Geschehnisse waren kürzlich Gegenstand einer außergewöhnlichen sozialökonomischen Langzeit-Untersuchung. „Wir zeigen, dass der Vermögensanteil des reichsten Prozents der Bevölkerung von fast der Hälfte im Jahr 1895 auf etwa 27 Prozent 2018 gefallen ist“, schreiben die WissenschaftlerInnen Thilo Albers (Humboldt-Uni Berlin), Charlotte Bartels (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW) und Moritz Schularick (Uni Bonn). „Fast die komplette Abnahme war das Resultat von Veränderungen, die zwischen 1914 und 1952 auftraten.“
Die Reichen in Deutschland haben demnach während der vergangenen 120 Jahre fast die Hälfte ihres Besitzanteils am gesamten Kapital des Landes verloren. Das ist ein erstaunlicher Befund, der zumindest in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar im Gegensatz zu verbreiteten Klagen über die Ungerechtigkeit der aktuellen sozialen und ökonomischen Verhältnisse steht. Für Schlagzeilen eignen sich normalerweise eher solche Informationen: 2021 stieg die Zahl der Vermögensmillionäre weltweit auf rund 22,5 Millionen Personen, wie die französische Unternehmensberatung Capgemini im Juni 2022 mitteilte. Deren gemeinsames Kapital habe auf etwa 82.000 Milliarden Euro zugenommen. Die Summe entspricht ungefähr der kompletten Wirtschaftsleistung der Welt eines Jahres. Anderes Beispiel: Vor dem Weltwirtschaftsforum von Davos im Januar 2020 erklärte die Entwicklungsorganisation Oxfam, dass 162 Milliardäre weltweit über so viel Vermögen verfügten wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung.
Vermögensanteil gesunken
Wie kann das sein?, fragt sich dann ein guter Teil der Öffentlichkeit. Vergleichbare Zahlen lassen sich auch für Deutschland finden. Die Polarisierung zwischen Arm und Reich nehme zu, heißt es, die soziale Schere klaffe auseinander, die Balance der sozialen Marktwirtschaft gehe verloren. Was ist da dran – wie hat sich Reichtum entwickelt? Welche Rolle spielt er, und sind die Klagen berechtigt?
Albers, Bartels und Schularick analysieren, dass der Vermögensanteil des reichsten Prozents der deutschen Bevölkerung infolge von Entwicklungen sank, die mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gekoppelt waren. Ende der 1920er-Jahre verloren viele Aktionäre einen Teil ihres Kapitals durch den Börsencrash, wobei die Produktionsstätten und Immobilien erhalten blieben. Zwischen 1939 und 1945 war das anders. Boden- und Bombenkrieg zerstörten viele Werte, verwandelten Fabriken in Ruinen, und wiederum verloren auch die Reichsten. Dann folgten die nächsten Schläge: die Enteignungen in der DDR und der Lastenausgleich in Westdeutschland. Dieser funktionierte so: Wer Unternehmens-, Immobilien- und Finanzkapital trotz des Krieges hatte retten können, musste lange Zeit eine jährliche Vermögenssteuer entrichten, aus deren Einnahmen die Flüchtlinge und Verlierer entschädigt wurden. Davon profitierte auch mein Onkel. Mit dem Leben als selbstständiger Bauer war es zwar vorbei, aber im nordrhein-westfälischen Remscheid konnte er sich dank des Lastenausgleichs eine Eigentumswohnung leisten. Bürgerlicher Wohlstand war immerhin gewährleistet – allerdings eingelagert in eine große soziale Nivellierung, die die ökonomische Elite gigantische Summen kostete.
Man kann es so sagen: Reichtum und Wohlstand wurden demokratisiert. Diese Information wird heute meist als gute Nachricht verstanden. Aber warum eigentlich? „Die Frage nach den Ursachen von Ungleichheit hat sich im Diskurs seit den bürgerlichen Revolutionen grundsätzlich verschoben“, erklärt Jürgen Schmidt. Der Sozialhistoriker leitet das Karl-Marx-Haus in Trier. Die Aufstände in England 1688, Amerika 1776, Frankreich 1789 oder Deutschland 1848 markierten politische, soziale, aber auch weltanschauliche Zäsuren. „Vorher wurden die Natur oder der Wille Gottes als die Ursachen für Ungleichheit betrachtet“, sagt Schmidt, „sie war daher zu akzeptieren.“ Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels änderte sich Schmidt zufolge dieser Blick: „Nun galt es, Ungleichheit zu überwinden.“ Die Konsequenz: „Das Gerechtigkeitsempfinden im Allgemeinen ist seit dem späten 18. Jahrhundert deutlich ausgeprägter als vor dieser Zeit.“
Wir regen uns heute über großen Reichtum viel mehr auf, als es die Menschen des Mittelalters taten. Ein Beispiel: Vom Baron Thomas de Berkeley, einem der reichsten Männer Englands, ist überliefert, dass er in den Jahren 1345/46 für seinen Konsum mehr als das 650-Fache eines damaligen Arbeitereinkommens ausgab. Die Mehrheit der Bevölkerung, so sie es überhaupt wusste, fand das nicht anrüchig. Werden Millionäre oder Milliardäre heute dagegen erwischt, wenn sie teure Villen, Yachten, Inseln oder Unternehmen kaufen, müssen sie mit bösen Schlagzeilen, öffentlicher Kritik und Forderungen nach höheren Steuern rechnen. Der sinkende Vermögensanteil des obersten Prozents der Bevölkerung beschreibt allerdings nur einen Trend von mehreren. Eine zweite, parallele Entwicklung sieht so aus: 1895 lag der Wert des gesamten privaten Besitzes in Deutschland etwa beim Fünffachen des Nationaleinkommens (vereinfachend gesagt: der jährlichen Wirtschaftsleistung). Bis nach dem Zweiten Weltkrieg sank dieses Verhältnis nach Angaben von Albers, Bartels und Schularick auf nur noch das Doppelte, um jedoch bis 2018 auf das Sechsfache anzusteigen. In dieser Hinsicht sind die Verhältnisse heute wieder ähnlich ungerecht wie im 19. Jahrhundert.
Aktienwerte stiegen an
Zwei Ursachen liegen dem zugrunde: Einerseits stiegen seit der Wiedervereinigung die Aktien- und Unternehmenswerte erheblich an. Davon profitierte überwiegend das reichste Zehntel der Bevölkerung. Grundstücke und Häuser verteuerten sich aber ebenfalls. Nutznießerin war hier auch die Mittelschicht. Weil sie gut verdienten und der Staat sie mit Programmen zur Eigentumsbildung unterstützte, wurden breite Schichten zu Immobilienbesitzern. Die wohlhabendere und reiche Hälfte der Bevölkerung konnte ihre Position damit deutlich verbessern. Aber auch in Gestalt des sozialen Aufstiegs von Arbeitern in die Mittelschicht war eine Demokratisierung des Wohlstands zu beobachten. Demgegenüber profitierte die ärmere Hälfte der Bevölkerung nicht von der Kapitalbildung. „Der Vermögensanteil der unteren 50 Prozent hat sich seit 1990 halbiert“, stellen Albers, Bartels und Schularick fest. Diesen Privathaushalten gehören in der Regel nur ein paar tausend Euro auf dem Sparkonto, ihre Wohnungseinrichtung, ein Auto, höchstens noch eine Lebensversicherung. „Der Abstand zwischen den Habenden und denen, die nichts besitzen, hat sich deutlich vergrößert“, schreiben die ÖkonomInnen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam 2013 der französische Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Die Kapitalrendite, so seine These, habe bis etwa 1910 immer über der Wachstumsrate der Ökonomie gelegen. Deshalb seien damals die Einkommen und Vermögen der Reichen schneller gewachsen als die der normalen Leute, deren Verdienste an das Wirtschaftswachstum gekoppelt seien. Durch die beiden Weltkriege und die Etablierung der westlichen Sozialstaaten, schrieb Piketty, habe sich dieses Verhältnis bis in die 1970er-Jahre umgekehrt: Erstmals stiegen die Löhne schneller als die Kapitaleinkommen. Seitdem kämen aber die alten Verhältnisse zurück.
Hier stehen wir an einer Bruchlinie in der modernen Debatte über Armut und Reichtum. Klar ist, dass sich große Vermögen schneller vermehren als kleine. Eine Verzinsung von drei Prozent lässt eine Million Euro beispielsweise um 30 000 Euro wachsen, während 10 000 Euro auf dem Sparkonto einer Durchschnittsfamilie nur um 300 Euro zunehmen. So betrachtet wächst der Abstand zwischen der Elite und der Normalbevölkerung quasi automatisch. Wie groß darf er werden? Wann muss der Staat, die Politik eingreifen? Das ist Gegenstand einer Aushandlung zwischen Bevölkerungs-, Interessen- und Machtgruppen, die in demokratischen Gesellschaften hin- und hergeht. Zwischen etwa 1950 und 1980 gaben nicht nur in Deutschland oft die Interessen der Arbeitnehmer, der Unter- und Mittelschichten den Ausschlag. Danach ging es in die andere Richtung.
In der Phase des sogenannten Neoliberalismus ermöglichten die Regierungen vieler Staaten den Kapitalbesitzern größere Spielräume. Die Steuern auf Vermögen und hohe Einkommen sanken. Hierzulande wird beispielsweise seit 1997 keine Vermögenssteuer mehr erhoben. Parallel wurde an der individuellen sozialen Sicherung gespart. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Abschaffung der relativ auskömmlichen Arbeitslosenhilfe und die Einführung von Hartz IV ab 2004. Als Konsequenz nahm die soziale Polarisierung zu. Mittlerweile allerdings ist ein Schwebezustand eingetreten – seit 2005 steigt zumindest die Ungleichheit der Haushaltseinkommen nicht mehr, wie das DIW Mitte 2022 errechnete.
Ein Schwebezustand
Die Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg lassen sich auch daran ablesen, was aus dem Bauernhof meines Großonkels wurde. Eines Tages nach der Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland bekamen meine Mutter und ihr Cousin Post. Gemäß der Politik „Rückgabe vor Entschädigung“ wurde ihnen angekündigt, dass sie als Erben den Bauernhof in Wilsleben zurückerhielten. In den späten 1990er-Jahren verkauften sie ihn. Ein guter Teil des Erlöses steckt nun in meiner Eigentumswohnung in Berlin-Kreuzberg. Deren Wert ist seit Mitte der 2000er-Jahre um 300 bis 400 Prozent gestiegen. Der geschrumpfte Vermögensanteil der Reichsten, der größere Anteil der Mittelschicht und die zunehmende soziale Spreizung der vergangenen Jahrzehnte – alles steckt in der Vererbungsgeschichte des Bauernhofes. Viele Immobilienbesitzer vor allem in attraktiven Städten profitierten massiv von den steigenden Grundstücks- und Hauspreisen – während die besitzlose Hälfte der Bevölkerung unter Wohnungsknappheit und steigenden Mieten leidet. Auch dies bildet ein Element der verschärften Debatte über Armut und Reichtum.
Wirtschaftshistoriker Piketty plädierte dafür, die steigenden Einkommen und Vermögen der Superreichen durch hohe Steuern einzuebnen. Er forderte progressive Abgaben, die 80 Prozent des jährlichen Zugewinns der Elite konfiszieren sollten. So weit muss man nicht gehen, aber eine etwas höhere Grundsteuer auf die erheblich gestiegenen Immobilienwerte kann man durchaus für angemessen halten. Gleiches gilt für höhere Steuern auf Erbschaften, Vermögen, Kapital, Gewinne und große Einkommen. Plausibel wären sie auch, weil eine eklatante soziale Ungleichheit die politische Gleichberechtigung gefährdet. Wenn öffentliche Schulen wegen Geldmangels so schlecht ausgestattet sind, dass Kinder aus ärmeren Familien keine vernünftige Bildung erhalten, untergräbt das die Demokratie