Tiefe Brüche

Zerbrechliche Menschlichkeit

Zwischen Du und Ich, dort liegt der Ort, den Mirna Funk in ihrem neuen Roman erkundet. Wie bereits im ersten Werk der Berliner Autorin steht die Lebens- und Liebesbeziehung zwischen einer Frau aus Berlin und einem Mann aus Tel Aviv im Zentrum der Erzählung. Nike ist Mitte Dreißig. Wenn sie ihre Berliner Wohnung verlässt, kommt sie an einem Stolperstein vorbei, der an eine frühere Bewohnerin des Hauses erinnert, ihre Urgroßmutter Dora. Schnell ist klar: Die Vergangenheit ist in Nikes Großstadtalltag immer präsent, sei es beim Besuch ihrer kettenrauchenden Oma in Pankow, im DAAD-Büro am Gendarmenmarkt oder bei ihren Eltern in der Uckermark. Eine Wendung in ihrem sorgfältig austarierten und kontrollierten Leben bahnt sich an, als sie die Möglichkeit erhält, aus beruflichen Gründen für ein Jahr nach Tel Aviv zu gehen. Dort soll sie einen Kongress organisieren, der sich jüdischem Leben in der DDR widmet. Sie ergreift die Chance – gegen ihre bisherige Haltung, nichts im Leben dem Zufall zu überlassen – und wagt das Abenteuer.

In Tel Aviv lebt auch die zweite Hauptfigur: Noam, ein vierzigjähriger Israeli, der dort seinem wenig geregelten Alltag nachgeht und sich vor allem von Zigaretten und Kaffee ernährt. Alle paar Tage zwingt er sich dazu, Falafel zu essen. Sein karges Leben finanziert er mit einer Kolumne in der israelischen Tageszeitung Haaretz. Zwischendurch trifft er seinen verrohten Onkel Asher. Er hat sich in seiner prekären Lage eingerichtet, obwohl der Lohn seiner Arbeit eigentlich „zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben“ ist.

Mit wachsender Spannung verfolgt man nun die Wege von Nike und Noam durch die israelische Partymetropole und fragt sich, wie genau sie sich begegnen werden.

Als es dann – Instagram sei Dank – so weit ist, entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte zwischen beiden. „Mit Nike war es anders, als es ihm sonst mit Menschen ging. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart, verlor keine Kraft. Ihm wurde nicht langweilig, und er musste sich nicht in Fantasien flüchten (...).“

Doch damit ist das (happy) Ende der Erzählung nicht erreicht. Mirna Funk schildert den gemeinsamen Weg nach dem zärtlichen Beginn, und bald wird deutlich, wie schwer es ist, die aufgebaute Vertrautheit aufrechtzuerhalten.

Denn Noam und Nike leben beide mit tiefen Brüchen und Verletzungen, deren Ursprünge weit in ihre eigenen Geschichten und die ihrer jüdischen Familien zurückreichen.

Was steht zwischen ihnen? Was verhindert, dass diese Beziehung mit dem hoffnungsvollen Auftakt wachsen kann?
Es geht um die Folgen von erlittener Gewalt, vor allem sexueller Gewalt. Immer wieder verhandeln sie, wie viel Nähe und Fremdheit ihre Beziehung braucht und aushält. Und hinter all dem liegt die Frage, was es bedeutet, ein Trauma zu erben.

Mirna Funk ergründet in ihrem Roman den immer gefährdeten Raum „zwischen Du und Ich“. Dabei bleibt sie – zwischen den beiden Perspektiven wechselnd – nah an ihren Protagonisten und deren Biografien. Sie beschreibt in auf den Punkt formulierten Dialogen und temporeich die komplexen Lebenssituationen und Widersprüchlichkeiten ihrer Hauptfiguren: Noam und Nike versuchen beide, ihrer eigenen Geschichte Herr zu werden. Sie wissen, dass die Vergangenheit nicht einfach so vergangen ist. Manchmal keimt Hoffnung auf, öfter haben aber Zweifel die Oberhand. Am Ende stehen unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob es einen Ausweg aus den Verletzungen und Traumata der Vorfahren geben kann. Nicht jede Marotte der Protagonisten erscheint nachvollziehbar, und manches Gespräch wirkt wie zur Erläuterung historischer Sachverhalte zweckentfremdet. Insgesamt kommt der Roman aber trotz seiner tiefschürfenden Themen beeindruckend leichtfüßig daher.

Wer beim Titel des Buches auch an das berühmte „Ich und Du“ des Religionsphilosophen Martin Buber denkt, der liegt sicherlich nicht falsch. Buber schreibt, dass alles wirkliche Leben Begegnung ist, Mirna Funk aber fragt sich: Wie gelingt diese Begegnung? Wie kann Einsamkeit überwunden werden und eine wirkliche Beziehung entstehen?

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