Wege aus dem Unfehlbarkeitskäfig
Die katholische Kirche in Deutschland scheint in ihren Grundfesten zu wanken: Massenaustritte und Konflikte zwischen dem leitenden Klerus und dem engagierten Kirchenvolk en masse. Wie soll es weiter gehen? Und was könnte konkret geschehen? Eine Perspektive von Andreas Krebs, Direktor des Alt-Katholischen Seminars der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Die jüngsten Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche schlagen hohe Wellen. Schon vor einiger Zeit hat Rom die Frage, ob Frauen zu Diakoninnen geweiht werden können, auf die lange Bank geschoben; an Weihen zur Priesterin und Bischöfin ist derzeit gar nicht erst zu denken. Dann kam die Absage an eine eucharistische Gastfreundschaft zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche. Nun hat die Glaubenskongregation klargestellt, dass eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft nicht gesegnet werden kann, weil sie nicht „objektiv auf die geoffenbarten Pläne Gottes“ hingeordnet sei. Gott, so heißt es, „segnet nicht die Sünde und kann sie nicht segnen“.
Seitdem sind viele meiner römisch-katholischen Kolleg:innen und Freund:innen in hellem Aufruhr. Immer häufiger fragen sie, was ich als Alt-Katholik eigentlich darüber denke. Das bringt mich in Verlegenheit. Wir Alt-Katholik:innen haben die Frauenordination, pflegen eucharistische Gastfreundschaft mit evangelischen Christ:innen, segnen gleichgeschlechtliche Paare, denken sogar über eine sakramentale „Ehe für alle“ nach. Kann ich darauf hinweisen, ohne dass es nach alt-katholischer Überheblichkeit aussieht? Kann ich ein offenes Wort wagen, ohne ökumenisches Porzellan zu zerschlagen? Und sollten die Theologien sich nicht vor allem selbstkritisch mit der jeweils eigenen Tradition und Situation auseinandersetzen?
Anderseits ist die römisch-katholische Kirche in Deutschland noch immer ein gesellschaftsprägender Faktor, und was in ihr vorgeht, lässt auch Anders- und Ungläubige nicht unberührt. Zudem kann eine alt-katholische Außenwahrnehmung vielleicht etwas zur Klärung beitragen – gerade weil Alt-Katholik:innen sich ebenfalls als Katholik:innen sehen und doch ein bisschen anders sind. In diesem Sinne will ich hier einige Fragen, die an mich herangetragen werden, zu beantworten versuchen: Welche Probleme der römisch-katholischen Kirche spiegeln sich in den eingangs genannten Entscheidungen wider? Welchen alternativen Weg hat die alt-katholische Kirche eingeschlagen, wo liegen seine Vor- und Nachteile? Und schließlich: Welche alt-katholischen Erfahrungen könnten auch für römisch-katholische Christ:innen von Bedeutung sein?
Vom Zwang zur Selbstbestätigung
Dass sich die Lebenswirklichkeit vieler römischer Katholik:innen in Spannung zur kirchenamtlichen Lehre befindet, ist kein neues Phänomen. Der Brückenschlag, den das Zweite Vatikanische Konzil versucht hat, ist unvollendet geblieben. Dessen Erneuerungspotenziale wurden schon von Paul VI. ausgebremst. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. verteidigten vehement das dogmatisch-juridische Gefüge ihrer Kirche gegen Reformbestrebungen. Das breite Unverständnis und den schleichenden Autoritätsverlust, der damit verbunden war, nahmen sie in Kauf. Demgegenüber versucht Papst Franziskus einen anderen Kurs: Die römisch-katholischen Lehren und Strukturen lässt er unberührt; zugleich bemüht er sich, ihre offenkundigen Härten durch pastorale Barmherzigkeit abzufedern. Inzwischen zeichnet sich ab, dass dieser Kurs scheitert, und zwar zweifach. Zum einen erweisen sich die Grenzen, die Kirchenrecht und Dogma pastoralen Lockerungen setzen, als zu eng. Zum anderen können Frauen, konfessionsverbindende Paare und queere Menschen recht gut darauf verzichten, zu Objekten der Barmherzigkeit gemacht zu werden. Sie fordern Anerkennung. Die aber wird ihnen Franziskus letztlich vorenthalten müssen. Ich fürchte, auch sein Versuch, den hierarchischen Zentralismus nicht anzutasten und dennoch synodale Prozesse zu ermutigen, wird zu Enttäuschungen führen.
Offenbar hat sich die römisch-katholische Kirche mit der Unverrückbarkeit ihrer Lehre und ihrer Kirchenstruktur in eine Sackgasse manövriert. Die Entscheidung fiel mit den Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870: Danach beanspruchen päpstliche „ex cathedra“-Aussagen aus sich heraus unfehlbare Geltung, und zwar ohne sich im Konsens der Kirche noch einmal bewähren zu müssen („ex sese, non ex consensu ecclesiae“). Zudem erhält der Papst durch den Jurisidiktionsprimat eine kirchenrechtliche Machtfülle, die dem politischen Absolutismus gleicht.
Beide Problematiken wurden schon damals von Alt-Katholik:innen erkannt. Ihnen entging jedoch ein wichtiger Punkt: Die Dogmen ermächtigen den Papst nicht nur, sie entmächtigen ihn auch. Jeder Papst bleibt an die Entscheidungen seiner Vorgänger gebunden. Das gilt sogar dann – und hier liegt das eigentliche Problem –, wenn diese Entscheidungen unterhalb der „ex cathedra“-Schwelle liegen. Denn ein Papst, der einem Vorgänger offen widerspräche, würde den Nimbus, der das Papsttum umgibt, zerstören. Damit aber wäre auch die eigene Autorität untergraben. Deshalb ist Franziskus in all seiner Macht so machtlos. Es war ein merkwürdig tautologischer Akt, als am 18. Juli 1870 Papst Pius IX. persönlich das Dogma verkündete, das ihm dabei Unfehlbarkeit zusprach. Seitdem ist das Papsttum im Zwang zur Selbstbestätigung gefangen.
Konflikt und Differenz
Die alt-katholischen Kirchen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sind aus dem Protest gegen das Erste Vatikanische Konzil hervorgegangen. Sie haben sich für Kirchenverfassungen entschieden, die bischöfliche und synodale Strukturen verbinden. Die Utrechter Union, die internationale Gemeinschaft alt-katholischer Kirchen, ist dezentral organisiert; der Erzbischof von Utrecht besitzt lediglich einen Ehrenprimat. Läuft in der alt-katholischen Kirche deshalb alles besser? Ganz so einfach ist es nicht. Als die deutsche alt-katholische Kirche 1985 ein Abkommen unterzeichnete, das eucharistische Gastfreundschaft zunächst mit den lutherischen Kirchen der VELKD, dann mit allen Kirchen der EKD vorsah, führte das in der Utrechter Union zum Eklat. Bis heute wird das Abkommen kontrovers bewertet; die deutsche alt-katholische Kirche hält gleichwohl daran fest.
Auch der Weg zur Frauenordination war steinig. Die alt-katholischen Bischöfe versuchten die Diskussion, die in den 1970er-Jahren hierüber aufkam, zu unterbinden. 1976 erklärten sie mit lehramtlichem Anspruch, es könne keine Priesterweihe für Frauen geben. Befürworter:innen der Frauenordination kam allerdings zugute, dass einer der Bischöfe gegen die Erklärung gestimmt hatte, deren Einmütigkeit also bestritten werden konnte. Doch letztlich kam es auf diese Spitzfindigkeit nicht an. Entscheidend war, dass Anliegen der Laien in den Synoden der alt-katholischen Kirchen ein großes Gewicht zukommt. Die Laien aber blieben unermüdlich darin, die Frauenordination zu fordern. 1996 war es dann so weit: In der deutschen alt-katholischen Kirche wurden die ersten Priesterinnen geweiht. Kurz darauf folgten die Kirchen der Niederlande, Österreichs und der Schweiz. Die nordamerikanische Polish National Catholic Church trat aus der Utrechter Union aus. Die alt-katholischen Kirchen Polens und Tschechiens weihen bis heute keine Frauen zu Priesterinnen, akzeptieren aber die Praxis ihrer Schwesterkirchen.
Was die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare betrifft, waren es die Niederlande und die Schweiz, die mit offiziellen Formularen vorangingen; in Deutschland gibt es seit 2014 eine solche Liturgie. Die niederländische alt-katholische Kirche spricht auch von sakramentalen schwulen und lesbischen Ehen, unterscheidet diese aber ontologisch – nicht jedoch in ihrer Wertigkeit – von heterosexuellen Ehen. Was damit ausgedrückt werden soll, ist den meisten Alt-Katholik:innen nicht klar; mir ergeht es, ehrlich gesagt, nicht besser. Der deutsche alt-katholische Bischof beabsichtigt, einen Ritus für alle Paare erarbeiten zu lassen, der an unterschiedliche Konstellationen angepasst werden kann. Dabei möchte er die Frage, ob auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften im kirchlichen Sinn als Ehen anzusehen sind, der Rezeption der Gläubigen überlassen. Eine beratende Synode der Schweizer alt-katholischen Kirche (die dort christkatholische Kirche heißt) hat sich mit übergroßer Mehrheit dafür ausgesprochen, die kirchliche Ehe zu öffnen, ohne auf das Geschlecht der Beteiligten zu schauen. Der Bischof will sich über dieses Votum jedoch hinwegsetzen und das Modell seines deutschen Kollegen forcieren. Seitdem diskutieren Christkatholik:innen lebhaft über die Kompetenzen der Synode und des Bischofs, mit derzeit offenem Ausgang.
Ziemlich verwirrend? Und ziemlich konfliktgeladen? Ja, beides ist richtig. Dabei habe ich noch gar nicht von den Auseinandersetzungen in der anglikanischen Weltgemeinschaft gesprochen, mit der die alt-katholischen Kirchen seit 1931 in voller Kirchengemeinschaft stehen. – Und was ist aus alledem zu lernen? Wer, wie die Alt-Katholik:innen, eine zentrale Lehr- und Entscheidungsinstanz ablehnt, ist beweglicher und kann besser auf Veränderungen eingehen. Doch zugleich muss man Streit bewältigen und mit Unterschieden leben können.
Wie es weitergehen könnte
Manchmal habe ich den Eindruck, dass genau dies auch für meine „reformorientierten“ römisch-katholischen Freund:innen ein Problem darstellt. Sie fürchten sich, zum Teil unbewusst, vor Konflikt und Differenz – und vor einer Unübersichtlichkeit, wie man sie ja auch im Protestantismus kennt. Von Papst und Weltkirche wollen sie nicht lassen, und das Schreckgespenst der Spaltung lähmt auch sie. Also gibt es bei ihnen wie auch bei den Verteidiger:innen des status quo eine gemeinsame Angst. Vielleicht könnte es helfen – so wäre mein Rat, würde ich danach gefragt –, sich miteinander dieser Angst zu stellen? Vielleicht wären alle Seiten dann weniger von ihr bestimmt? Vielleicht würden auf diese Weise neue, unvorhergesehene Schritte möglich?
Eben weil für die römisch-katholischen Geschwister ohne den Papst nichts geht, werden sie ihn aus dem goldenen Käfig der Unfehlbarkeit allerdings befreien müssen. Zwar können sie sich des Ersten Vatikanums nicht mehr entledigen. Aber womöglich werden sie auf die lange Tradition römisch-katholischer Versuche zurückgreifen, es durch nachträgliche Umdeutung zu entschärfen. Der Theologe Peter Knauer hatte zum Beispiel die Idee, das „ex sese“ strikt auf die Lehraussagen selbst zu beziehen, die natürlich „aus sich heraus“ die Wahrheit treffen möchten und nicht bloß deshalb, weil man ihnen applaudiert – ganz egal, ob ein Papst hinter den Lehraussagen steckt oder nicht. Diese Interpretation ignoriert beherzt, dass es dem Ersten Vatikanum gerade darum ging, wer eine Aussage machen darf, die dann nur zu gerne, scheinbar wie jede andere, „aus sich heraus“ wahr sein will. Doch man muss bewundern, wie gewitzt Peter Knauer einen steilen Anspruch in eine Trivialität verwandelt.
Weitergehende Überlegungen zielen darauf, die Befugnisse, die dem Papst 1870 zugesprochen wurden, als ein Notstandsrecht zu deuten, auf das in außerordentlichen Gefahrensituationen zurückgegriffen werden kann. Mag sein, dass römisch-katholische Theolog:innen bei solch kreativen Interpretationen weiterhin so tun müssen, als dächten sie, die Dogmen seien „schon immer“ so gemeint gewesen; mag auch sein, dass sie von ihrem Kollegen Michael Seewald dazu ermutigt werden, Veränderungen hergebrachter Lehren offen zu benennen. Aber das ist eine akademische Debatte. Entscheidend wäre, dass es nicht bei Gedankenspielen bliebe. Konkret hieße das etwa: Die römisch-katholische Kirche müsste nach über 150 Jahren den Notstand auch einmal für beendet erklären – und der Welt zeigen, wie sie einen Katholizismus gestalten will, der sich nicht im chronischen Belagerungszustand sieht.
Käme es aus dem Unfehlbarkeitskäfig heraus, würde sich das römische Lehramt nicht zuletzt auch selbst entlasten. Es müsste nicht mehr auf alles und jedes eine Antwort haben. Warum sagt Rom nicht: Wir erkennen, dass neue Einsichten zur Sexualität in Frage stellen, was uns lange sicher schien; wir wissen gerade auch nicht weiter; probiert doch einmal, mit dem gebotenen Verantwortungsbewusstsein, verschiedene Wege aus! Oder: Ihr, liebe Ortskirchen, kennt eure ökumenischen Partner am besten; geht euren Weg mit ihnen, wir zählen auf euch! Oder: In etlichen Teilen der Welt trauen Menschen Christus mehr zu als das, was ein Mann „repräsentieren“ kann; lassen wir uns also einmal dort, wo das gewünscht wird, auf weibliche Facetten der Christus-Bildlichkeit ein.
An diesem Punkt kann man noch grundsätzlicher werden: Ist es denn überhaupt richtig, dass Gemeinschaft nur durch Antworten zustande kommt? Ist es im Tiefsten nicht das Geheimnis Gottes, die offene Frage und das Miteinander-Suchen, das uns zusammenbringt? Jedenfalls scheint mir, dass man in Rom gar nicht so viel Angst davor haben müsste, „die Zügel locker zu lassen“. Denn ich sehe, wie innig selbst die kritischsten römisch-katholischen Geschwister den Papst und ihre Kirche lieben. Sie stellen das mit ausdauernder Leidensfähigkeit unter Beweis. Diese Kirchenbindung ist ein starkes Pfund. Sie könnte den zentrifugalen Tendenzen, die mit Pluralität unweigerlich verbunden sind, entgegenwirken – nicht als juridische, sondern als innere Kraft. Mit ihrer Hilfe könnte es sogar gelingen, Einheit und Vielfalt konfliktärmer und glaubwürdiger miteinander zu verbinden, als es orthodoxe, evangelische, anglikanische, alt-katholische und alle anderen Kirchen bislang zustande gebracht haben – wer weiß!
Zum Schluss: die Wahrheitsfrage
Jetzt bin ich ins Träumen geraten, noch dazu nicht für mich, sondern für die römisch-katholischen Geschwister. Ich hoffe, dass sie das nicht als übergriffig empfinden. Sie müssen ja letztlich selbst herausfinden, welche Träume die ihren sind und welche sie umsetzen können. Bis dahin beabsichtige ich, mich weiter den Unvollkommenheiten meiner eigenen Kirche zu widmen. Zuvor will ich aber noch etwas zur Wahrheitsfrage sagen. Das konservative römisch-katholische Lager richtet an Menschen, die sich für offene Diskussionen und Synodalität begeistern, häufig den Vorwurf, sie sprächen nicht gerne über Wahrheit. Also gut, reden wir davon:
Benedikt XVI. hat wiederholt betont, in der Kirche gehe es nicht um Demokratie, sondern um Wahrheit. Dem stimme ich zu. Allerdings verstehe ich Wahrheit anders als der päpstliche Platoniker. Gottes Selbstoffenbarung ist nicht „objektiv“ fassbar, sie ist aber ebenso wenig „bloß subjektiv“. Sie ist ein intersubjektives Beziehungsgeschehen. Deshalb kann sie auch nur intersubjektiv und in gemeinsamer Suche erkannt werden. Der wohl bedeutendste alt-katholische Theologe der jüngeren Zeit, Kurt Stalder, hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Da es in der Erlösung um Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen geht, kann die Intersubjektivität nicht nur eine wünschenswerte Zutat sein; sie muss, ausgesprochen oder nicht, mit zum Inhalt der gewonnenen Einsicht gehören“.
Könnte solch ein kommunikatives Wahrheitsverständnis – das wiederum in einem kommunikativen Offenbarungsverständnis gründet – nicht auch ökumenische Perspektiven eröffnen? Unter anderem in interkonfessionellen Zusammenhängen durfte ich jedenfalls lernen, dass zu den möglichen Orten von Gotteserfahrung gerade nicht der Monolog gehört – sondern das Gespräch.
Andreas Krebs
Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie und Direktor des Alt-Katholischen Seminars an der Universität Bonn