Ideologische Selbstzerstörung

An den Universitäten der USA greife ein gefährliches Denken um sich – so die Meinung des renommierten Systematischen Theologen und Religionsphilosophen Ingolf Dalferth, der bis März 2020 als Professor an der Claremont Graduate University in Kalifornien lehrte. Er sieht verhängnisvolle neue Ideologien auf dem Feld der Identitätspolitik heraufziehen, die auch in Europa mehr und mehr an Einfluss gewinnen.
Eigentlich müssten wir es wissen. Wir haben es im 20. Jahrhundert in mehr als einer Version erlebt. Aber wir scheinen nichts daraus gelernt zu haben. Inzwischen beginnen wir zu begreifen, was Viren anrichten können. Aber wir unterschätzen immer noch die Gefahr von Ideen, die zu Ideologien werden und sich ungehemmt ausbreiten, weil wir ihren scheinmoralischen Rechtfertigungen nicht widersprechen.
Ideologien sind Weltanschauungen, die Machtverhältnisse stabilisieren oder in Frage stellen, ohne sich durch die Wirklichkeit stören zu lassen, weil sie vorgeben, wie man diese zu verstehen und in ihr zu leben hat. Scheinmoralisch sind Rechtfertigungen, die Klugheitsargumente als moralische Anklagen vortragen und Moral als Mittel für einen von ihr verschiedenen Zweck gebrauchen. Wer das Richtige tut, um die Welt, das Klima, die Umwelt zu retten, handelt nicht moralisch, sondern klug. Moralische Argumente richten sich an das Gewissen und sprechen uns auf unsere gemeinsame Menschlichkeit an. Klugheitserwägungen bestehen im Abwägen von Gründen, Mitteln, Zielen und Zwecken und bewegen sich immer in der Sphäre des Mehr oder Weniger. Sie erfordern kritische Urteilskraft, keine Gesinnung wie die Moral. Wer Moral zum Schmiermittel der Politik macht, versucht die Gewissen in Haft zu nehmen, anstatt sich für die Erkenntnisse und Einsichten einzusetzen, ohne die es keine nachhaltigen Änderungen geben wird. Doch informiertes Urteil durch Gesinnung ersetzen zu wollen, schadet der Moral und löst keine Probleme.[1]
Tribales Denken, schlechte Karten
Erkenntnis und Einsicht bezieht sich auf Wissen, und für die kritische Arbeit am Wissen sind jenseits der Lebenswelt die Wissenschaften und ihre institutionellen Einrichtungen wie Forschungslabore, Hochschulen und Universitäten zuständig. Gerade die aber stecken in einer tiefgreifenden Krise. Universitäten sollten der Ort sein, an dem man nach Erkenntnis strebt, kritisch Fragen durchdenkt und Antworten prüft, um das Wissen voranzutreiben und mit den Herausforderungen der Zeit verantwortlich umgehen zu können. "Ob jemand rote oder blonde Haare hat, schwarz oder weiß ist, hetero-, bi-, trans- oder homosexuell, Jude, Christ, Muslim oder Freidenkerin ist, ein Kopftuch trägt oder zerlöcherte Hosen, Vegetarier oder Anhänger/in sonstiger weltanschaulicher Ismen ist, darf dabei keine Rolle spielen. Das sollte das Selbstverständlichste vom Selbstverständlichen sein."[2] Aber leider ist es das schon lange nicht mehr. Tribales Denken, die Ideologisierung von Auseinandersetzungen und das Verdrängen fallibler Erkenntnisse durch infallibles Besserwissen greifen überall um sich. Gehört man nicht zur richtigen community, hat man schlechte Karten.
Wer dazu gehört, definieren millionenfach im Netz verbreitete Ideologien wie der "Kult der Diversity"[3], die Gerechtigkeitsvision der Critical Race Theory[4] oder die "Woke-Glaubenslehre"[5], die aus wirklichen oder vermeintlichen Benachteiligungen Machtansprüche ableiten und nur bekennende Gute und uneinsichtige Böse kennen. Wer ihre Sicht nicht unterstützt, wird geächtet. Ihnen gehört in der Öffentlichkeit das Wort verboten, sie sollen nicht mehr publizieren dürfen, wie derzeit in den USA prominent in den Altertumswissenschaften gefordert wird. „Weiße Männer werden das Privileg aufgeben müssen, dass ihre Worte gedruckt und verbreitet werden.“[6]
Aus dem Kampf gegen Diskriminierung ist an den Universitäten durch affirmative action, Quotenregelungen und Diversitätsmanagement längst ein Großprojekt der Gegendiskriminierung geworden. Man hält es für moralisch gerechtfertigt, die Diskriminierer zu diskriminieren, weil es ja um gute Diskriminierung geht.[7] Betroffen sind vor allem die weißen akademischen Eliten in den USA. "Wir erleben durch einen Teil der Gesellschaft gerade die Dämonisierung des weißen Mannes. In jedem weißen Mann – so das hyperradikale linke Narrativ, das in den USA längst etabliert ist und in Europa auch immer weitere Kreise zieht – steckt ein Unterdrücker, ein Täter, ein Patriarch. Er vereinigt auf sich alles Geld und alle Macht der Welt. Was immer er sagt, steht deshalb unter Verdacht – er will damit bloß seine Machtstellung, seine Privilegien, seine Dominanz verschleiern oder rechtfertigen. Und ich frage mich tatsächlich, warum viele diesen Blödsinn einfach so hinnehmen. Wo bleibt der Widerstand?"[8]
Fehlender Widerstand und ökonomische Gründe
Ayaan Hirsi Ali beantwortet ihre Frage psychologisch: Die privilegierten Träger der neuen akademischen Systemkritik in den USA und in Europa suchen ihr schlechtes Gewissen über die ungleiche Verteilung von Wohlstand, Macht und Bildung durch überzogene Selbstkritik zu beruhigen. Sie kämpfen vor allem gegen sich selbst, nicht für andere.
Doch der fehlende Widerstand hat auch ökonomische Gründe. Man kann sich mit dieser Sichtweise auf dem Bildungsmarkt profilieren. Die Claremont Graduate University (CGU) in Kalifornien, an der ich über eine Dekade lehrte, belegt das exemplarisch. Weil sie infolge von Finanzkrise und Missmanagement keine Mittel mehr hat, mit den Spitzenuniversitäten um die Besten zu konkurrieren, sucht sie mit ihrem Einsatz für diversity im südkalifornischen Umfeld Studierende mit lateinamerikanischen, indigenen und afroamerikanischen Wurzeln zu gewinnen. Der Kampf gegen die white supremacy und das Werben um Latinxs und People of Color wird zum Geschäftsmodell. Man versucht, mit dieser Ausrichtung lokal zu punkten, weil man national und international nicht mehr mitspielen kann.
Das funktioniert, weil die Auseinandersetzung um diese Fragen längst zum Glaubenskrieg geworden ist. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wo diese Denkweise um sich greift, wo Lehrende und Lernende sich primär der Rettung der Welt verschreiben, wo wissenschaftliche Arbeit zum Forum von Gerechtigkeitskämpfen wird, da werden Macht-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen zum Dauerthema. Das beflügelt vor allem die Verwaltungen. Werte lassen sich nicht verbindlich machen, Verordnungen schon. An der CGU kann man sich auf keine akademische Stelle bewerben, ohne ein diversity statement abzugeben und seine richtige Gesinnung zu dokumentieren. Wer eine Stelle hat, muss regelmäßig ein sexual harassment training absolvieren, das gesetzlich vorgeschrieben ist. Der mehrstündige interaktive online-Kurs lässt sich nur zu Ende bringen, wenn man die festgesetzten 'richtigen' Antworten gibt. Enthaltung wird nicht akzeptiert. Jeder ist ein potenzieller Übeltäter, und alle müssen ihre richtige Einstellung jederzeit unter Beweis stellen. Dabei ist man nicht nur für sich, sondern auch für andere verantwortlich. Sollte ich – so eines der Beispiele des Kurses – zufällig in einem Café in Kairo einen Kollegen am Nebentisch sexistische Bemerkungen machen hören, dann habe ich die Pflicht, das in Claremont der vorgesetzten Stelle zu melden und ein Verfahren gegen den Kollegen anzustrengen.
Kein Wunder, dass die Schere im Kopf allgegenwärtig ist. Überall lauern die Gefahren von Sexismus, Kolonialismus und Rassismus, Ausdrucksweisen werden gerechtigkeitsideologisch reguliert und es wird immer häufiger in Frage gestellt, dass jeder über jedes Thema sprechen darf. Wer nicht zu meinesgleichen gehört, hat kein Recht, meine Ansichten oder Anliegen zu vertreten oder gar über diese zu urteilen. Wer es dennoch tut, handelt übergriffig, weil er meinen Standpunkt einzunehmen, seinen Standpunkt mir aufzudrängen und mich meiner Erfahrung und Sichtweise zu berauben sucht.
Von kritischer Korrektur zu kritikimmuner Ideologie
Die Gesinnungskontrolle im Namen einer Widergutmachungsgerechtigkeit zerstört die Universität. Wer schon den Versuch, die Perspektive anderer einzunehmen, als Machtanmaßung kritisiert, entzieht sich dem kritischen Gespräch. Es geht nicht mehr um wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern um die Durchsetzung von Wertorientierungen mit dem Ziel, Machtverhältnisse zu ändern. Das geschieht immer wieder auf ähnliche Weise.
Es beginnt mit konkreten Ereignissen, die zu Recht Empörung auslösen und Kritik und Korrektur unumgänglich machen. Die Me Too- und Black Lives Matter-Bewegungen belegen es. Aber dann löst sich die Kritikbewegung von ihren Anlässen, wird auf alles mögliche andere ausgeweitet, etabliert sich an den Universitäten als progressive Neuorientierung ganzer Fachgebiete bis schließlich jede Anfrage an sie zur moralischen Untat erklärt wird. Die Entwicklung erkenntnistheoretischer Debatten über epistemic injustice[9], white ignorance[10] und die epistemology of resistance[11] bis zur Forderung einer „reparative epistemic justice" (Dan-el Padilla Peralta)[12], die den endemischen Rassismus in den USA an den Universitäten dadurch bekämpfen will, dass man Veröffentlichungen von Weißen in wissenschaftlichen Journalen zu verhindern sucht, zeigt das deutlich. Aus einer kritischen Korrektur wird so eine kritikimmune Ideologie, die als Spiegelbild des von ihr Bekämpften ihre Weltsicht und Wertorientierung überall bestätigt sieht und für moralisch gerechtfertigt, kulturell fortschrittlich und wissenschaftlich verbindlich erklärt.
Der entscheidende Punkt ist dort, wo das Eintreten für neue und interessante Fragestellungen in eine ideologische Haltung umschlägt, der es nicht mehr um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um die Fortsetzung des politischen Kampfs mit den Mitteln der Wissenschaft geht. Das öffnet Tor und Tür für den Missbrauch der Universität durch politische Aktivisten. Doch ein als Wiedergutmachungsprojekt[13] betriebener wissenschaftlicher Antirassismus oder Antikolonialismus ist nicht weniger ideologisch als ein wissenschaftlicher Marxismus. Man zielt nicht auf Erkenntnis, sondern auf Veränderung. An den Universitäten besteht diese vor allem darin, immer weiteren Gruppierungen eine eigene institutionelle Plattform zu geben. Neben die Cultural Studies und Religious Studies treten Black Studies, Women Studies, Feminist Studies, Queer Studies, Gender Studies, Postcolonial Studies, Critical Race Theory, Critical Whiteness Studies, Africana Studies, Latinxs Studies, Secular Studies, Diversity Studies und so fort. Aus wissenschaftlicher Neugier wird eine kulturpolitische Agenda, der es um die Durchsetzung politischer Interessen und die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse geht.[14]
Unfähig und unwillig zu unterscheiden
Kennzeichen des Umschlags von wissenschaftlicher Forschung in gesellschaftspolitische Ideologie ist die Unfähigkeit und Unwilligkeit zu unterscheiden. Man hat einen Schlüssel, der für alles passt. Phänomene in ganz verschiedenen Zusammenhängen (Kolonialisierung; Rassismus) werden in immer gleicher Weise gedeutet. Doch die spanische Kolonialgeschichte in Lateinamerika ist nicht der Schlüssel zum Verständnis der Beziehungen zwischen Japan und Korea. Und die Geschichte des Rassismus in den USA bietet nicht das Erklärungsmuster für binnenafrikanischen Rassismus, die Versklavung afrikanischer Menschen in arabischen Kulturen oder die Geschichte der Versklavung christlicher Europäer in muslimischen Ländern des Maghreb und der heutigen Balkanstaaten.[15] All das wirkt politisch bis in die Gegenwart nach. Aber Ähnlichkeiten sind keine Identitäten. Anstatt die Geschichten von Völkern in verschiedenen Kulturtraditionen in ihrer historischen Eigentümlichkeit zu würdigen, werden sie der Sichtweise eines Paradigmas unterworfen. Doch es erschwert den politischen Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus, wenn man nicht auf belastbare Erkenntnisse baut, sondern an das schlechte Gewissen appelliert und auf politischen Aktivismus setzt.
Das gilt nicht nur für den Umgang mit historischen Fakten, sondern auch mit Menschen. Wer sie nur als Mitglieder abstrakter Gruppen behandelt, die durch Kriterien wie Herkunft, Ethnie oder Geschlecht definiert sind, ohne ihre gemeinsame Menschheit zu würdigen und ihre individuelle Selbstsicht zu beachten, der handelt ideologisch. Und wer meint, die Welt dadurch bessern zu können, dass man Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit und Diskriminierung mit Diskriminierung bekämpft, der erreicht aller Erfahrung nach nur das Gegenteil.
Der Umschlag von wissenschaftlicher Forschung in pseudowissenschaftliche Ideologie findet immer dort statt, wo man nicht konkret, sondern in -ismen denkt, wo es nicht um Wissen und Erkenntnis geht, sondern um moralische Haltung und politische Gesinnung. Kolonialismus, Kapitalismus, Sexismus und Rassismus werden dann auch in ihren strukturellen Gestalten als moralisches Versagen begriffen und bekämpft. Es genügt nicht, die Fehler der Vergangenheit zu beenden und zu korrigieren. Die Entrechter sollen zugestehen, dass es das Recht der Entrechteten ist, die Entrechter zu entrechten. Fast immer ist diese alteuropäische Ressentiment-Argumentation mit einer Ablehnung europäischer Denktraditionen verknüpft. Kant, Nietzsche, Heidegger und Foucault werden als Sexisten und Rassisten diffamiert, ihr Denken als moralisch fragwürdig, eurozentrisch, gewalttradierend und überholt abgetan. Wer sich mit ihnen befasst, trägt dazu bei, die europäische Kolonialisierungsgeschichte an den Universitäten fortzusetzen.
Mormonen als zukunftsfähige amerikanische Synthese?
Diese Sichtweise findet vor allem in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Zustimmung. Das Erbe der toten weißen Männer Europas an den Universitäten soll durch dekolonialisierende Ansätze überwunden werden, die den lokalen Bedürfnissen und den Anliegen indigener Traditionen Amerikas Rechnung tragen. Am Department of Religion an der CGU zeigt sich das daran, dass innerhalb einer Dekade alle Programme christlicher Provenienz eingestellt oder umdefiniert wurden: Das Alte Testament wurde zu Critical Comparative Scriptures (Hebrew Bible, Koran, Buch Mormon), das Neue Testament zu Latina/o Religious History spanischsprechender Pfingstgemeinden, Patristik zu Women's and Gender Studies in Religion, Kirchengeschichte zu einem Programm der Mormonen über nordamerikanische Religionen und Religionsphilosophie und Theologie zu Political Theory und African American Studies. Die Mormonen beanspruchen, die originale nordamerikanische Religion zu sein, in der sich das religiöse Erbe des indigenen Amerikas und die christlichen Traditionen Europas zu einer zukunftsfähigen amerikanischen Synthese verbinden. Nicht von ungefähr sind sie eine der am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften der USA.
Doch nicht nur dem Department of Religion, sondern den humanities insgesamt wird an der CGU nur dann eine Zukunft eingeräumt, wenn sie sich nicht mehr mit Textarbeit und Klassikerlektüre befassen, sondern transdisziplinär als ethnic studies betrieben werden oder sich zu applied humanities nach dem Modell der Kultur- und Museumswissenschaften umgestalten. Das Philosophiedepartment wurde geschlossen und alle Professoren entlassen – pikan–terweise von einer Philosophin, die als Provost in die Universitätsleitung wechselte und so als einzige eine Stelle behielt. Stattdessen wurde der Kampf für Diversitätsgerechtigkeit ins Zentrum gestellt und Berufungsverfahren und Studienprogramme darauf ausgerichtet, die universitären core values von diversity, equity, and inclusion zur Geltung zu bringen. Das Ziel ist, die white supremacy zu brechen. Doch die Steigerung ethnischer Diversität und die Gewährung von Sonderrechten für Minderheiten helfen nicht, Diskriminierung abzubauen, sondern verstärken die Diskriminierungsneigung zwischen konkurrierenden Benachteiligtengruppen. Die Probleme, die man lösen will, werden so immer wieder neu geschaffen.
Die Rassenunruhen im vergangenen Frühjahr gaben einer wissenschaftlich orientierungslos gewordenen Universität die Chance, ihr Profil zu stärken. Alle Fachbereiche, Abteilungen und Programme wurden angehalten, Solidaritätsadressen zu veröffentlichen. Die Kulturwissenschaften etwa erklärten: "Wir verpflichten uns, unsere Programressourcen zu nutzen, um Teil des Kampfes zur Beendigung der Unterdrückung und zur Schaffung eines antirassistischen Strukturwandels zu sein. Wir versprechen, bei uns zu beginnen, in unserem eigenen Lernen und Lehren, unserer Einstellungspolitik und der Gestaltung der Studienprogramme." Die anderen Fachbereiche legten ähnliche Gelöbnisse ab. Die ganze Universität wurde auf den Kampf gegen den Rassismus und die Trump-Administration eingeschworen. Niemand hat gegen diese politische Instrumentalisierung der Universität seine Stimme erhoben, weil es ja um eine gerechte Sache ging.
Zweifellos müssen sich Universitäten den Herausforderungen der wachsenden ethnischen, kulturellen und religiösen Diversität der Gesellschaft stellen. Aber alle Richtungen gleich würdigen zu wollen, ist kein gangbarer Weg. Jedes Semester wird allen Lehrenden an der CGU der Interfaith Calender mitgeteilt, der alle religiösen Fest- und Feiertage auflistet, die für Studierende relevant sein können und bei Lehrveranstaltungen und Prüfungsplanungen berücksichtigt werden sollten. Kaum ein Tag im Semester ist davon nicht betroffen. Zu berücksichtigen sind nicht nur Religionen wie „Judaism, Islam, Buddhist, Hindu, Christian, Baha’i, Zoroastrian, Sikh, Shinto, Jain, Confucian, Daoist, Native American, Materialism, Secular Humanism“, sondern auch Mandean, Yezidi, Kemetic Federation, Wicca, Scientology, Caodai, Society of Humankind, Eckankar, Theosophy, New Age, Temple Zagduku, Qigong/T’ai chi, Raelian Church, Asatru, Hellenismos, Yoruba, Rastafari, Unitarian Universalist. Und seit kurzem sind auch The Church of Satan und die Pastafarians (The Church of the Flying Spagghetti Monster) rechtlich zur „family of religions“ zu rechnen. Die universitäre Bemühung um gleichgewichtige Berücksichtigung aller wird zur Farce. Man hofft, dass sich das Problem konkret nicht stellt. Die Berufung auf Gerechtigkeitsgründe kaschiert nur, dass man nicht weiß, was man sonst tun soll.
Die Bemühung, allen gerecht zu werden, wirft nicht nur organisatorische Probleme auf. Die Universitäten sollen nicht nur niemanden diskriminieren, sondern in Forschung und Lehre die Anliegen der verschiedenen Identitätsgruppen berücksichtigen. Das führt zunehmend zur Ablehnung der universalisierenden westlichen Wissenschaftskultur. Die einfachste Lösung ist, sich mit ihr nicht mehr zu befassen. Europäisches Denken und die Wissenschaft weißer Männer sollen nicht länger das Feld bestimmen, die kulturell und gesellschaftlich Marginalisierten beanspruchen das Recht, in eigenem Namen Wissenschaft so zu treiben, wie sie es wollen. Das eröffnet interessante Perspektiven. Doch es führt über die Differenzen unterschiedlicher Gruppen nicht hinaus, sondern verstärkt sie. Wie man konstruktiv mit der sich ständig steigernden Vielfalt umgehen soll, weiß keiner. Dass es trotz allem, was zu kritisieren ist, gerade die europäische Tradition war, die mit der Betonung von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität einen Ausweg aus den religiösen, kulturellen und nationalen Gruppenkonflikten Europas gefunden hat, indem sie das gemeinsam Menschliche ins Zentrum stellte, wird geflissentlich ausgeblendet.[16]
Nur ein Nebeneinander und Miteinander
Damit wird ein Potenzial verspielt, das angesichts der Tribalisierungstendenzen in der Gegenwartskultur dringend benötigt wird. Was sich an den Universitäten abspielt, ist kein Zufall oder Unfall, sondern spiegelt die kulturellen Umbrüche unseres technologischen Zeitalters. Auf vielen Feldern wird das – als 'europäisch' chiffrierte – Denken in Begriffshierarchien, das Suchen nach Gemeinsamem und das Zielen auf Einheit durch ein Denken in Alternativen, das Aufbrechen von Dualen, das Ermöglichen von Vielfalt verdrängt. Nicht die Metapher von Teil und Ganzem, sondern die von Standpunkt und Horizont charakterisiert unsere Situation. In einem Horizont kann vieles nebeneinander stehen, ohne sich zu einem Ganzen zu verknüpfen. Jeder Standpunkt hat seinen eigenen Horizont. Es gibt nur ein Nebeneinander und Miteinander, aber keinen 'Horizont der Horizonte', der alles umfasst.
Um sich in dieser polyzentrischen Welt erfolgreich zurecht zu finden, braucht man technologische Hilfsmittel, aber keine Einheitsmetaphysik. Technologien optimieren Prozesse, indem sie lokale Lösungen miteinander vernetzen, ohne ein umfassendes Ganzes vorauszusetzen. Sie denken modular und über Schnittstellen schrittweise nach vorne, nicht einlinig von oben nach unten oder von unten nach oben. Das Internet ist die perfekte Plattform für solches Denken. Wir können im Netz global Informationen austauschen und in Sekundenbruchteilen über Kontinente hinweg mit Menschen in anderen Kulturen kommunizieren. Aber wir kennen oft kaum noch die Nachbarn, mit denen wir Tür an Tür leben.
Die Krise der Universitäten reflektiert diese Situation. Nicht erst seit der Covid-19 Pandemie, sondern schon lange verschieben sich ihre Aktivitäten vom lokalen Interagieren mit konkreten Personen auf digitale Kommunikation in virtuellen Gemeinschaften weit zerstreuter Akteure, die online Datenpakete austauschen. Doch die globale Internet-Mikropolis (Steve Jones) ist mehr als nur eine technische Ausweitung unserer Kommunikationsradien. Anders als die lokalen Interaktionen zwischen Personen kennt sie nicht die Bedürfnisse und Erwartungen, aber auch Kontrollen und Korrekturen, die mit diesen einhergehen. Wir kommunizieren digital mit allen möglichen Menschen, die wir nicht oder kaum kennen. Wir schließen uns zu virtuellen Gemeinschaften zusammen, an denen wir digital partizipieren. Aber die ethische Ursituation, durch die schiere physische Präsenz des anderen zur moralischen Verantwortung genötigt zu sein, findet im Netz nicht statt. Die Anonymität des Internet macht es vielmehr vielen leicht, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen. Man sagt, was man denkt, ohne darüber nachzudenken, was man sagt, weil man im Netz fast risikofrei äußern kann, was einem bei einer direkten Begegnung nicht über die Lippen käme.
Allerdings verhalten wir uns auch im Internet oft wie in der analogen Welt. Wir vertrauen unseren Kommunikationspartnern bis zum Erweis des Gegenteils, anstatt ihnen nicht zu vertrauen bis es gute Gründe dafür gibt. Wir meinen, in #-communities für die gleichen Interessen zu streiten, auch wenn wir nicht wirklich wissen, ob wir dieselben Ziele verfolgen. Um statistische Informationen zu generieren, genügt es, Menschen anhand äußerer Merkmale wie Geschlecht, Ethnizität, Sprache, Religion, Herkunft und so fort in abstrakte Gemeinschaften zu gruppieren. Aber diese Merkmale sind keine realen Gemeinsamkeiten, aus denen sich gemeinsame Überzeugungen, Interessen, Verpflichtungen oder Verantwortlichkeiten ableiten ließen. Keiner hat nur eine Identität. Nicht alle Weißen sind Kolonialisten, nicht alle PoCs Antirassisten, nicht jede marginalisierte Gruppe ist schon deshalb solidarisch mit allen anderen Marginalisierten, und nicht jeder, der für Vielfalt eintritt und gegen Diskriminierung kämpft, streitet für dieselbe Sache.
Weil man in diesen abstrakten communities mit niemand wirklich etwas teilt, ist man auch niemandem konkret verantwortlich. Verantwortung wird damit zur Leerformel und Solidarität zur unverbindlichen Zugehörigkeit zu einer abstrakten Gruppe. Man empört sich, ohne selbst wirklich betroffen zu sein. Und man wird zum Vertreter virtueller Gruppeninteressen, für die man sich nie entschieden hat. Das Wir dieser Gruppen definiert sich durch Abgrenzung gegen andere. Und weil das stets mit Wertungen verbunden ist, gehört man zu Opfer- oder Tätergruppen, ohne dafür Verantwortung zu tragen.
Wissenschaftlich unglaubwürdig
Selten war eine Kommunikationskonstellation so anfällig für Ideologien. Das Bemühen der Universitäten um lokale und regionale Wissenschaft ist ein Versuch, der Fragmentierung der Gesellschaft, der Orientierungslosigkeit der Internetkommunikation und der Entfremdungsdynamik globalisierter Wissenschaft durch Erdung in den Problemlagen einer konkreten Situation entgegenzuwirken. Gemeinsame Probleme und Projekte am selben Ort helfen, divergierende Interessen zu bündeln und reale Gemeinsamkeiten auszubilden.
Doch das kann nicht gelingen, wenn man die Steigerung von Diversität als solche zum Programm macht. Ist das einzige Gemeinsame das Eintreten für mehr Diversität, gibt es keine defensible differences mehr, sondern nur noch konkurrierende Gruppeninteressen. Eine Universität, die das befördert, zerstört sich selbst. Wenn bei Stellenbesetzungen nicht die wissenschaftliche Qualifikation der Bewerber für die ausgeschriebene Stelle, sondern ihr Geschlecht, ihre Religion oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe ausschlaggebend sind, verstößt eine Universität nicht nur gegen Recht und Gesetz, sondern macht sich wissenschaftlich unglaubwürdig. Es kann auch nicht selbstdefinierten Gruppen überlassen bleiben, darüber zu entscheiden, was in Forschung und Lehre möglich ist und was nicht.
Wo aus ideologischen Gründen Druck ausgeübt wird, bestimmte Fragen verfolgen zu müssen und andere nicht verfolgen zu dürfen, wo diesseits der Grenzen von Recht und Gesetz vorgeschrieben wird, wie man zu reden und zu denken und was man in Forschung und Lehre zu vertreten hat, da steht die verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Forschung und Lehre zur Disposition. Das gilt auch für Verwaltungen, die sich dem Druck bestimmter Gruppen beugen und Verordnungen erlassen, die Forschung und Lehre ideologisch einschränken. Die Begründung dafür mag noch so hehr sein: Auch eine Ideologie, die für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen vorgibt, wenn sie Freiheiten einzuschränken fordert, bleibt eine Ideologie, die niemandem vorgeschrieben werden kann. Nur wo es Freiheit gibt, kann es auch Gerechtigkeit geben. Wo dagegen im Namen von Diversitätsgerechtigkeit die Freiheit von Forschung und Lehre in Frage gestellt werden, ist eine Universität dabei, sich ideologisch selbst zu zerstören.
[1] Vgl Hermann Lübbe, Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster: Lit Verlag, 2019.
[2] Florian Coulmas, Wozu sind Universitäten da? - Für Erkenntnis und Wissen und nicht für den Kult der Diversity, NZZ 26.6.2019 (https://www.nzz.ch/meinung/wozu-sind-universitaeten-da-nicht-fuer-den-kult-der-diversity-ld.1489464)
[3] Ebd.
[4] Vgl.Sandra Kostner, Wer den strukturellen Rassismus leugnet, muss selbst ein Rassist sein – Analyse eines äusserst gefährlichen Denkfehlers, NZZ 1.12.2020 (https://www.nzz.ch/feuilleton/struktureller-rassismus-analyse-eines-gefaehrlichen-denkfehlers-ld.1589216).
[5] René Scheu, Interview, NZZ 24.11.2020 (https://www.nzz.ch/feuilleton/ayaan-hirsi-ali-ueber-freiheit-religion-und-identitaetspolitik-ld.1587611).
[6] Stefan Rebenich, Weiße Gelehrte unerwünscht, FAZ 26.11.2020 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/debatte-um-us-altertumswissenschaften-weisse-gelehrte-unerwuenscht-17070600.html); vgl. Dan-el Padilla Peralta, Some thoughts on AIA-SCS 2019 (https://medium.com/@danelpadillaperalta/some-thoughts-on-aia-scs-2019-d6a480a1812a).
[7] Ibram X. Kendi, How to Be An Antiracist, New York: One World, 2019.
[8] https://www.nzz.ch/feuilleton/ayaan-hirsi-ali-ueber-freiheit-religion-und-identitaetspolitik-ld.1587611; vgl. Robin DiAngelo, White Fragility: Why It's So Hard for White People to Talk About Racism, London: Pinguin, 2019
[9] Miranda Fricker, Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford: Oxford University Press, 2007; Ian James Kidd/José Medina/Gaile Pohlhaus Jr. (eds.), The Routledge Handbook of Epistemic Injustice. Abingdon: Routledge 2017.
[10] Charles Mills, White Ignorance, in: Shannon Sullivan/Nancy Tuana (eds.), Race and Epistemologies of Ignorance, Albany, NY: SUNY Press, 2007, 13-38.
[11] José Medina, The Epistemology of Resistance: Gender and Racial Oppression, Epistemic Injustice, and Resistant imaginations. Oxford: Oxford University Press, 2013.
[12] Stefan Rebenich, Weiße Gelehrte unerwünscht, aaO.
[13] Vgl. Maria-Sibylla Lotter, Allzu oft wird Wissenschaft als Wiedergutmachungsprojekt betrieben (https://www.nzz.ch/feuilleton/wissenschaft-wird-zum-wiedergutmachungsprojekt-ld.1561543)
[14] Vgl. Helen Pluckrose/James Lindsay, Cynical Theories: How Universities Made Everything about Race, Gender, and Identity - And Why this Harms Everybody, Pitchstone Publishing 2020.
[15] https://www.nzz.ch/feuilleton/christliche-sklaven-muslimische-herren-ld.1581245
[16] Man kann und muss die Pointe von Alexander Popes Essay on Man (1733-34) ("Know then thyself, presume not God to scan, // The proper study of mankind is Man." auch so lesen. Vgl. Peter Strasser, Lob des Eurozentrismus, NZZ 10.10.2016 (https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/es-gibt-nur-eine-menschheit-lob-des-eurozentrismus-ld.120890).
Ingolf Dalferth
Ingolf Dalferth, geboren 1948, war unter anderem von 1995 bis 2013 Professor für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich und von 2007 bis 2020 Professor für Philosophie und Religion an der Claremont Graduate University in Kalifornien.