"Judensau" vor Gericht
Am 21. Januar wird vor dem Oberlandesgericht in Naumburg die antijüdische Schmähplastik an der Stadtkirche in Wittenberg wieder Gegenstand einer Gerichtsverhandlung sein. Unabhängig von dem zu erwartenden Urteil mehren sich die Stimmen, die ein Abhängen des Reliefs an Luthers Predigtstätte fordern. Doch die Gemeinde in Wittenberg ist dagegen und verweist auf das bestehende Mahnmal am Fuße der Kirche. Als Kompromissvorschlag steht nun die Verhüllung im Raum.
Die Evangelische Stadtkirche St. Marien in Wittenberg ist in ihrer historischen Bedeutung für den Protestantismus nicht zu überschätzen. Die 95 Thesen wurden der Legende nach zwar ein paar Schritte weiter an die Tür der Schlosskirche genagelt. Aber hier, in der Stadtkirche, predigte Martin Luther, hier wurde erstmalig das Abendmahl in beiderlei Gestalt, also Brot und Wein, an die Gemeinde ausgeteilt. Hier steht der berühmte „Reformationsaltar“ aus der Cranach-Werkstatt. Die Kirche wäre, wenn es nicht ein Widerspruch in sich wäre, eine „heilige Stätte der Reformation“, ist aber ohne Frage ein ikonographischer Ort lutherischer Theologie.
Dies gilt aber auch für ihre Abgründe. Denn seit etwa 1305 hängt an der Außenfassade ein „Judensau“ genanntes Relief. Es stellt ein Schwein dar, an dessen Zitzen Menschenkinder saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden sollen. Eine ebenfalls durch seinen Hut als Rabbiner zu erkennende Figur hebt mit der Hand den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Das Relief wurde um 1570 im Zuge der Neugestaltung der Kirche versetzt und mit den Worten „Rabini Schem Ha Mphoras“ versehen, ein Verweis auf die jüdische Gottesbezeichnung „Ha-Schem Ha-Mephorasch“, aber auch auf Luthers judenfeindliche Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ aus dem Jahr 1543. Das Relief ist somit nicht nur Teil der unseligen Tradition von „Judensauen“, wie sie in etwa dreißig Kirchen im deutschsprachigen Raum zu finden sind, sondern Ausdruck des Antijudaismus, der Luther und anderen Reformatoren zu Eigen war.
Kontrapunkt gesetzt
Im Umfeld der Jubiläumsfeier zu Luthers 500. Geburtstag 1983 wurde die Kirche und mit ihr das Relief saniert. Das sorgte für Diskussionen in der Stadtkirchengemeinde, erinnert sich Gottfried Keller, der von 1985 bis 1998 einer der Pfarrer der Gemeinde war. „Die Junge Gemeinde hat die Meinung vertreten, dass das Relief abgenommen werden müsse, in der Gemeinde gab es dazu unterschiedliche Standpunkte“, sagt er im Gespräch mit zeitzeichen. Am Ende der Diskussion war klar: Das Relief bleibt hängen, sollte aber nicht mehr unkommentiert an der Fassade bleiben.
Seit 1988 setzt vor der Kirchenmauer unterhalb des Reliefs eine Bodenplatte, gestaltet vom Bildhauer Wieland Schmiedel, einen Kontrapunkt. Sie besteht aus Trittplatten, die etwas verdecken sollen, was nicht zu verdrängen ist und das aus den Fugen, die ein Kreuz ergeben, hervorquillt. Umrahmt wird das alles von einem Text des Schriftstellers Jürgen Rennert: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“
Ob damit das Hakenkreuz oder das Kreuz der Christen gemeint ist oder beides, bleibt offen. Gemeinsam mit einer erklärenden Steele und einer Zeder entstand vor gut dreißig Jahren also ein Gedenkort, der reflektierend und distanzierend zu dem kirchlichen Schmährelief Stellung bezieht.Das Engagement der Stadtkirchengemeinde, die in einem kirchenfeindlichen Staat Ende der 1980er-Jahre bereits eine solche Gedenkstätte errichtet hat, sei „nicht hoch genug einzuschätzen“, sagt Hubertus Benecke, Rechtsanwalt aus Hof. Dennoch reicht ihm das seiner Meinung nach zu uneindeutige Mahnmahl nicht aus. Deshalb war er einer der Demonstranten, die in Wittenberg rund um das Reformationsjubiläum 2017 immer wieder die Abnahme des Reliefs forderten. Und deshalb vertritt er auch Michael Düllmann vor Gericht. Düllmann ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Berlin und sieht in der Plastik eine Beleidigung, die er nicht hinnehmen will. Die Stadtkirchengemeinde solle die Plastik abnehmen und ins Museum bringen, forderte er vor dem Landesgericht in Dessau-Roßlau. Das wies im Mai vergangenen Jahres die Klage ab, ließ aber eine Berufung vor dem Oberlandesgericht zu. Die Verhandlung in Naumburg soll am 21. Januar stattfinden. „Der Ausgang ist völlig offen“, meint Düllmanns Anwalt Benecke. Das Landgericht hatte geurteilt, dass „eine Beleidigung in jedem Fall nicht vorliegt“. Denn eine „Beleidigung im Sinne des Paragraph 185 StGB setzt die Kundgabe der eigenen Missachtung, hier also durch die Beklagte, voraus“, heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung. Damit eine Beleidigung eine Beleidigung ist, brauche es also nicht nur jemanden, der beleidigt wird, sondern auch den, der beleidigt. Dies könne aber der Stadtkirchengemeinde nicht vorgeworfen werden. „Die Beklagte selbst hat das Sandsteinrelief weder hergestellt noch selbst angebracht. Das Sandsteinrelief ist Bestandteil eines historischen Gebäudes, welches unter Denkmalschutz steht“, so das Gericht. Zudem befinde sich das Relief auch nicht „unkommentiert“ an der Mauer der Stadtkirche.
Benecke zu Folge hat das Gericht mit seiner Entscheidung der Berufung im Wesentlichen zwei Angriffspunkte geliefert. Zum einen sei die Tatsache, dass es sich um eine Schmähskulptur und damit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch um eine Formalbeleidigung handele, in erster Instanz gar nicht strittig gewesen. Auch die Kirchgemeinde betone wiederholt, dass es sich um eine Schmähskulptur handele. „Etwas, was unstreitig zwischen den Parteien ist, darf durch das Gericht gar nicht anders kommentiert oder gar anders in der Entscheidung berücksichtigt werden“, sagt Benecke.
Die Behauptung schließlich, die Kirchgemeinde habe mit der „Anbringung“ der Judensau nichts zu tun, ist für Benecke „auch nur die halbe Wahrheit“. So sei die Judensau in Wittenberg nur als solche noch bestens zu erkennen, weil sich die Kirchgemeinde zu einer umfassenden, sogar etwas umgestaltenden „Renovierung“ der Schmähskulptur entschieden hat und damit durchaus aktiv geworden sei.
Die juristische Fragestellung ist aber nur ein Aspekt, die gesellschaftliche, kulturelle, kirchengeschichtliche und theologische Debatte ein anderer. Das Gericht hat der Kirche in der Urteilsbegründung dazu noch einen Hinweis mit auf den Weg gegeben. Man möge gesellschaftlich darüber diskutieren, ob eine Kirche, „die sich auf den Glauben an Jesus Christus, einen Juden, gründet, durch das Festhalten an der bildlichen Darstellung einer ‚Judensau‘ an einer ihrer bedeutendsten Kirchen nicht Gefahr läuft, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Diese Diskussion muss aber in der Gesellschaft geführt werden und begründet für sich genommen keinen Beseitigungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten.“
Abnahme gefordert
Und diese Diskussion wird nicht erst seit Kurzem, aber doch mit zunehmender Deutlichkeit geführt. Die Stimmen, die, egal was das Gericht urteilt, für eine Abnahme sprechen, mehren sich. Dazu zählt die des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. An der Stelle des Reliefs sollte eine Hinweistafel angebracht werden, aus der hervorgehe, „dass die evangelische Kirche mit der Entfernung der ‚Judensau‘ einen sichtbaren Beitrag zur Überwindung von Antijudaismus und Antisemitismus leistet“, sagte Klein im Oktober vergangenen Jahres dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Das Relief gehöre seiner Meinung nach „ins Museum“. Dort solle es „mit einem erläuternden Text versehen“ werden.
Auch hochrangige Vertreter der evangelischen Kirche äußerten sich in ähnlicher Weise. Die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, Präses der westfälischen Landeskirche, sagte im Interview mit dem Mittagsmagazin des ZDF zum Reformationstag: Alles, was Antisemitismus befördern könnte, „sollten wir tatsächlich aus der Öffentlichkeit verbannen“. Die Präses der EKD-Synode Irmgard Schwaetzer sagte laut epd auf einer Diskussionsveranstaltung zum Thema im Mai in Wittenberg, die nachträglich hinzugefügte Inschrift sei ein „massiver, alles verändernder Eingriff“ gewesen und drücke „reinen Judenhass“ aus. Zu diesem neu hinzugekommenen Inhalt „müssen wir uns auch heute wieder verhalten“, erklärte Schwaetzer.
Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, sprach sich im Gespräch mit zeitzeichen ebenfalls für eine Abnahme des Reliefs aus, die er bereits mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 vorgeschlagen hatte. Dabei würdigt er ausdrücklich das Denkmal in seiner jetzigen Form und die Stadtkirchengemeinde, die sich „als erste in Europa in großartiger künstlerischer Art und Weise mit einem solchen Relief an ihrer Kirche auseinandergesetzt hat“. Das Denkmal in seiner jetzigen Form sei im klassischen Stil der 1980er-Jahre dialektisch und stelle den tiefwurzelnden Antisemitismus in guter Weise dar. Doch diese Dialektik funktioniere heute nicht mehr, „die Dinge stehen einfach nebeneinander.“ Zudem habe es in den vergangenen Jahrzehnten keine Beschwerden oder Klagen von Juden gegeben. „Das ist nun anders, und das kann uns nicht kalt lassen.“
Außerdem lasse das Mahnmal Fragen offen, bedenke nicht den lutherischen Aspekt der Schmähplastik. Diese sei „Ausdruck einer massiven antijudaistischen Predigt und kein Kulturdenkmal. Deshalb solle die Sau abgenommen werden, aber nicht im Museum verschwinden, sondern vor der Kirche Teil eines weiterentwickelten Mahnmals werden. Die genaue Ausgestaltung müsste in einem längeren Prozess definiert werden, an dem Künstler, Gemeinde und die jüdische Community beteiligt werden. „Das kann ein spannender Prozess werden.“
Wenn aber das Schmähbild unten am Mahnmal in Augenhöhe angebracht werden sollte, dann wäre ihm das „eine gruselige Vorstellung“, sagt der frühere Wittenberger Pfarrer Keller. An seinem jetzigen Platz sei das Schandmal in räumlicher Distanz zum Beobachter, die einer historischen Distanz entspreche. „Würden wir die Sau ins Museum bringen oder auf Augenhöhe zum Betrachter, würde diese Distanz aufgehoben.“ Jedes neue Element würde den jetzigen Gedenkort zerstören. Außerdem gehöre ein solches Erbe in die Verantwortung der Kirche und nicht in ein Museum.
„Das ist in der Gemeinde nicht mehrheitsfähig“, sagt auch Johannes Block, der seit 2011 Pfarrer an der Stadtkirche in Wittenberg ist, zu einer möglichen Abnahme des Reliefs. Und die Klage, die dies fordere, habe diese Haltung bei vielen Gemeindemitgliedern noch verfestigt. Denn sie rücke die Stadtkirchengemeinde in eine Position, als sei sie die Auftraggeberin oder Befürworterin der Plastik. „Dabei leiden wir genauso unter der Plastik wie der Kläger“, sagt Block. Das Relief sei ein schwieriger Teil eines Erbes, der aber nicht verleugnet werden dürfe. „Nach jüdisch-christlichem Verständnis gibt es keine tadellos perfekte Geschichte. Aber es gibt die Kraft der Vergebung und Versöhnung, die selbst aus Bösem Gutes werden lässt.“
Allerdings sieht auch Block den Bedarf der „Weiterentwicklung“, denn in seiner jetzigen Form lenke der Gedenkort den Blick zurück, der Blick nach vorn fehle, hin zur Versöhnung und zum Miteinander. Deshalb wirbt auch Block in der Gemeinde für eine Weiterentwicklung der Gedenkstätte, die die Gegenwart des jüdisch-christlichen Verhältnisses mit in den Blick nimmt.
Verhüllung als Kompromiss?
Auch der Antisemitismusbeauftrage der EKD, Christian Staffa betont im Gespräch mit zeitzeichen: „Es geht bei Debatte um den Umgang mit der Schandplastik auch um so etwas wie die Gegenwart der Vergangenheit, nicht nur um Vergangenheit.“ Die Frage sei zu stellen, ob es eine Verbindung gebe zwischen der „Judensau“ an der Kirche und dem gleichlautenden Schimpfwort auf dem Schulhof. Wie müsste ein Mahnmal aussehen, das auch die Rezeptionsgeschichte solcher antisemitischen Kunstwerke wie Judensau, Bildern von „Ecclesia et synagoga“ oder Darstellungen von Cranach zu Gesetz und Evangelium beinhaltet?
Das Mahnmal von 1988 habe seinerzeit fast überall in kritischen Kreisen Zustimmung gefunden, sagt Staffa. Zudem sei es ein Akt der Unabhängigkeit der Kirche gegenüber staatlichem defizitärem Gedenken und der Bearbeitung von Antisemitismus in der DDR gewesen. Aber: „Beide Rahmungen existieren so nicht mehr.“ Deshalb führe die Tatsache, dass die Skulptur nicht „abgehängt“ wird, zu berechtigten Einsprüchen. „Aus jüdischer Perspektive kann das Schandmal, das von heutiger christlicher Seite in bester Absicht als unhintergehbare Manifestation der eigenen antijüdischen und antisemitischen Gewalttradition und deshalb zur Läuterung der Täternachkommen dienen soll und ihnen die Romantisierung ihrer Gewaltgeschichte versperrt, bleibend als Beleidigung und Schmähung empfunden werden.“
Staffa selber sei vom „Verbleib-Votierer“ zu einem geworden, der eher ein Abhängen befürwortet. Wenn dies aber am Widerstand der Stadtkirchengemeinde scheitert, wie könnte dann eine „Weiterentwicklung“ des Mahnmals aussehen? Staffas Vorschlag erinnert an die Kunst des Verpackungskünstlers Christo: Das an der Kirche befindliche Relief könnte abgedeckt, eine Kopie am Fuße der Kirche aufgestellt und mit anderen künstlerischen Elementen versehen werden und so zu einer oder mehreren „experimentellen“ Lösungen führen, die veränderbar seien. Das würde die geäußerte Angst vor einen möglichen „Bildersturm“ verhindern, wie ihn die Stadtkirche in der Reformation erlebt hat, gleichzeitig aber erstarrte Positionen beweglicher machen und verändern.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".