Die Kirche in Mülheim an der Ruhr, zu deren Gemeinde er gehörte, ist ihm immer fremd geblieben. Seine Predigten hielt er in seinem Haus gegenüber. Doch ist Gerhard Tersteegen der reformierten „Erbreligion“ treu geblieben und hat dieses Erbe auch nie als Last empfunden. Hansgünter Ludewig porträtiert diesen Poeten, Schriftsteller und Laientheologen, dessen 250. Todestag sich in diesem Jahr jährt. Lange nach dem konfessionellen Zeitalter, am 25. November 1697, im damals noch niederländischen Moers geboren, blieb der Kaufmannssohn religiös sehr auf sich gestellt und entwickelte seine Frömmigkeit eher gegen den Widerstand der Familie und der sozialen Umwelt. Der Vater verstarb früh, und die Mutter verwehrte ein Studium der Theologie.
Vor Anfeindungen der etablierten Geistlichkeit und vor obrigkeitlichen Nachstellungen musste er sich auf seinem Weg zum „Erweckungsprediger“ stets in Acht nehmen, doch gab ihm der biblische Satz, wonach viele berufen, aber nur wenige auserwählt sind, das nötige Selbstbewusstsein. So erweckte er zunächst für sich das Herzensgebet der alten Kirche, das in den westlichen Kirchen weitgehend in Vergessenheit geraten war. In der ganz auf den individuellen Beter abgestellten Praxis dieser Gebetsform hat Tersteegen die Gegenwart Gottes so gefunden, wie er sie in dem Lied besingt, das bis heute im evangelischen Gemeindegottesdienst seinen Platz hat: „Gott ist gegenwärtig.Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten.“ Das Herzensgebet führte ihn in den verborgenen Raum, in dem er nicht nur für Augenblicke, sondern ständig in der Gegenwart Gottes leben wollte. Im Beten kannte er weder Zeit noch Stunde. Folglich stellte er seine Existenz ganz auf Beten und Arbeiten ab. In der einträglichen Seidenweberei hatte er eine Arbeit gefunden, deren Rhythmus sich gut mit der Praxis des Gebets verband. Über einige Jahre bildete er mit wenigen Vertrauten eine Kommunität, an deren Ort, Otterbeck, er selbst nie gewohnt hat. Der Prediger kann nicht wirklich zu den Begründern evangelischer Kommunitäten gerechnet werden, da ihn an Otterbeck nicht so sehr das gemeinsame Leben, als vielmehr das auf das religiöse Individuum abzielende Herzensgebet bewegte.
Tersteegen intendierte in seiner religiösen sozialen Praxis keinen neuen klösterlichen Heilstand, um sich damit nun ganz vom Erbe der Reformation zu lösen, sondern wollte mit seiner religiösen Praxis die Individualisierung des Glaubens ernst nehmen. Ludewig stellt ihn mit dieser ausführlichen Biographie deswegen auch in die moderne Auseinandersetzung zwischen Emanzipation und überlieferter Bindung. Tersteegen lebt in diesem Konflikt keinen programmatischen Konservativismus, sondern die individuelle Befindlichkeit dessen, der sich an die Gegenwart Gottes halten möchte. Keineswegs ist ihm das Herzensgebet eine methodisch gesicherte Form der Heilsmitteilung, sondern es bleibt ganz im Horizont der asymmetrischen Struktur der Rechtfertigung.
Wie die Reformatoren folgt der Laientheologe bei der Strukturierung der Gottesbegegnung dem christologischen Inhalt der Bibel. Im Prozess von Rechtfertigung und Heiligung vollzieht sich der Subjektwechsel zum Christus in mir. Mit dieser Betonung begegnet Tersteegen ohne kritischen Eifer der Angst vor der „Unbehaustheit“, in die das moderne Denken führen kann. Sein Glaube lebt mit Gott, der auf Golgatha sogar seine Gottverlassenheit mit den Menschen teilen wollte.
Somit ist es gar nicht verwunderlich, dass Tersteegen vor der Bedrohung, die der Siebenjährige Krieg für die westlichen Provinzen Preußens bedeutete, nicht in die Obhut niederländischer Freunde ausgewichen ist, sondern seiner Gemeinde und vielen Mitmenschen mit Seelsorge und praktischer Hilfe beistand.
Friedrich Seven
Dr. Friedrich Seven ist Pastor. Er lebt in Scharzfeld.