Vor der Veränderung steht die Trägheit. Auch vor der Veränderung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems, dessen Notwendigkeit sich immer mehr abzeichnet. Gegen solche Trägheit und Lähmung geht Wolfgang Kessler mit seinem als „Streitschrift“ bezeichneten Buch an. Kessler war lange Jahre Chefredakteur der kirchenunabhängigen katholischen Zeitschrift Publik-Forum und sein Band ist eine Art Vermächtnis (siehe auch Seite 33 – 36). Der Publizist und Ökonom schildert darin in durchgängig gut lesbarem und frischem Stil die großen Herausforderungen, die unsere Zeit an die Bürgerinnen und Bürger der westlichen Wohlstandssphäre stellt.
Am Anfang bekennt Kessler: „Für mich bestehen keine Zweifel: Dieser Kapitalismus muss grundlegend verändert werden. Aber: Dies ist leichter gesagt als getan. Auch Kritiker müssen zugeben, dass es einfach umsetzbare Alternativen nicht gibt“. Damit holt Kessler alle ab, die zweifelsfrei linksangehauchten Reformansätzen per se kritisch gegenüber stehen.
Genau die Hälfte des Buches lang werden unter der großen Überschrift „Abgründe“ die Folgen verhandelt, die die „globale Entfesselung der Marktkräfte“ durch den Neoliberalismus besonders seit 1989 zeitigen. Kessler skizziert mit leichter Hand die Entwicklung, die bis heute den Reichtum weltweit explodieren lässt und durchaus nicht nur bei den Superreichen, sondern auch bei vielen anderen. Dabei identifiziert er eine Gefahr, die diesem Prozess seit jeher innewohnt und die in jüngster Zeit besonders sichtbar wird, nämlich das Prinzip „Wie im Westen so auf Erden“. Dieses Prinzip skizziert er so: „Es ist nicht irgendeine Wirtschaftsweise, die sich über die ganze Erde verbreitet, sondern der American Way of Life, der Lebens- und Wirtschaftsstil von Hunderten Millionen US-Amerikanern und Europäern.“ Und um diesen verhängnisvollen Abgründen zu entfliehen, die Kessler luzide und präzise benennt, muss sich etwas ändern.
Diesem Änderungspotenzial widmet sich der Autor dann in der zweiten Buchhälfte, die mit „Alternativen“ und „Aufbrüche“ überschrieben ist. Dort skizziert er unter anderem Modelle für ein „sozial gerechtes Grundeinkommen“ bei uns und illustriert dies mit in seinen Augen erfolgreichen Experimenten für ein bedingungsloses Grundeinkommen in Afrika.
Neben plastisch geschilderten praktischen Erfahrungen referiert Kessler auch Grundhaltungen und -einstellungen, die einen Wandel befördern könnten. Dabei bleibt er realistisch und benennt auch ganz konkret „Wermutstropfen“, zum Beispiel den, dass der Anteil des fair gehandelten Kaffees am Konsum in Deutschland zwar „rasant gestiegen“ sei und trotzdem heute nur bei „2,5 Prozent“ liege.
Gerade in jüngster Zeit aber könne man wieder eine Ahnung gewinnen, dass sich Politik durchaus von unten und durch Gemeinschaft bewegen lasse, konstatiert Kessler dann gegen Ende des Buches: „Mehr Menschen wagen sich wieder auf die Straße, um dort für soziale und ökologische Ziele zu kämpfen, zeigen Gesicht und Mut. Und dann erleben sie, was lange Zeit niemand glauben wollte: dass die Politik doch reagiert (…).“ Das gibt ihm gegen Ende die Hoffnung, dass „tiefgreifende Veränderungen des Systems“ auch in Demokratien „möglich“ seien.
Zu hoffen sei lediglich, „dass wir nicht für jede grundlegende Veränderungen eine neue Katastrophe brauchen“. Allerdings gelte auch das Wort des kongolesischen Theologen Boniface Mabanza: „Konsum ist für viele die Spiritualität unserer Zeit“.
Insofern kann uns auch Wolfgang Kessler in seiner frischen und sehr anregenden, ja fast fröhlichen Streitschrift am Ende nicht die Einsicht ersparen, dass der Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft nur gelinge, „wenn sich Menschen langsam aber konsequent vom Alten verabschieden und das Neue mit Leben füllen – auch und gerade dann, wenn es unbequem ist.“
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.