Eine protestantische Katholikin

Zur Hoffnung zurückkehren: religiöse Perspektiven bei Nora Bossong
Nora Bossong
Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Nora Bossong

„Entweltlichung“ nennt die Katholikin Nora Bossong den distanzierenden Modus, den sie vor allem in der Religion verortet. Warum die Lektüre ihrer Bücher theologisch so anregend ist, erläutert der evangelische Theologe Karl Tetzlaff, Geschäftsführer der Stiftung Leucorea in Wittenberg.

Literatur, die mich interessiert“, schreibt die Schriftstellerin Nora Bossong, ist „jene, die von der uns eigenen Fähigkeit zur Verletzlichkeit wie zur Verletzung berichtet“. Keine unversehrten Charaktere, die sich im Glanz ihrer moralischen Überlegenheit sonnen, sollten literarische Texte in ihren Augen bevölkern. Bossong interessiert sich vielmehr für ambivalente „Figuren, die auch aus unserem eigenen Dunkel entspringen“, die ebenso verführbar und verwundbar sind wie wir selbst. Zugleich ist bei ihr aber von der „Kraft der Literatur“ die Rede, „uns unser Leben immer wieder anders vorstellen zu lassen, uns aus den festgefahrenen Bahnen unseres Alltags […] herauszuheben und in die Möglichkeit hineinzudenken“. So sehr es der 1982 in Bremen geborenen Bossong also um die ungeschönte Darstellung der an sich zwiespältigen conditio humana geht, so wenig will sie damit schon alles über das Menschenmögliche gesagt haben. Literatur ist bei ihr eben auch ein Medium zur Distanznahme gegenüber jener Welt, von deren kaum abzustreitender Trostlosigkeit ihre Bücher häufig erzählen.

„Entweltlichung“ nennt die Katholikin Bossong diesen distanzierenden Modus, den sie primär im religiösen Bereich verortet sieht. Sie versteht darunter „die Möglichkeit, dass im Glauben oder, aufs Literarische gewendet, in der Imagination, durch den zeitweiligen Rückzug ins Geistige, der Irrsinn aushaltbarer wird, man zur Hoffnung zurückfindet“. Im Rahmen einer Reportage über das monastische Leben heutiger Nonnen hat sich der Schriftstellerin dieser Zusammenhang von Literatur und Religion erschlossen. Nach dem Überschritt in den entweltlichten Ort des Klosters sei es ihr so vorgekommen, als ob „das Beten doch noch hilft“. Analog dazu vermag sich auch im geistigen Rückzugsraum der Literatur ein solch hoffnungsvoller Eindruck einzustellen, wenngleich die Literatur aus Bossongs Sicht explizit nicht zum Religionsersatz taugt, weil sie selbst „die menschliche Verzweiflung […] nicht erlösen“ kann.

Obskure Realität

Schon ihr Debütroman Gegend (2006), der ein geradezu dystopisches Bild familiärer Beziehungen zeichnet, findet in diesem Sinne nicht zu einer heilvollen Schlusswendung. Die jugendliche Ich-Erzählerin reist darin mit ihrem Vater zu einem irgendwo in der osteuropäischen Provinz gelegenen Hof, um dessen Tochter aus einer früheren Beziehung kennenzulernen. Auf dem Weg dorthin passieren sie eine Kirche, an deren Eingang eine Statue der Heiligen Katharina steht, die traditionell als Nothelferin bei Sprachschwierigkeiten gilt. Davon gibt es in der patchworkartigen Familienkonstellation, in die Vater und Tochter schließlich hineingeraten, genug. Doch kommt es nicht zu einer wirklichen Verständigung mit der Halbschwester, die zunächst so tut, als würde sie kein Deutsch sprechen können. Auch bei den anderen auf dem heruntergekommenen Grundstück lebenden Personen, deren Verbindung lange unklar bleibt, stoßen sie eher auf Verschlossenheit und Ablehnung. „Familie. Gibt es das überhaupt noch?“, wird die Protagonistin an einer Stelle des Buches gefragt. Als plötzlich ihr Vater spurlos vom Hof verschwindet, verliert sie ebenfalls den Halt, an dem es allen dort Versammelten mangelt. Sie findet den Vater schließlich in einem baufälligen Wohnwagen wieder, wohin er sich mit seiner früheren Partnerin zurückgezogen hat. Beim Anblick der beiden erneut Vereinten hat sie kurz den Eindruck, dem „Paradies aus einer Kinderzeichnung“ gegenüberzustehen. Doch diese paradiesische Anmutung wird rasch von der obskuren Realität, in der sie ihren Vater kaum mehr erkennt, eingeholt. Die Protagonistin verlässt den fremden Ort, ohne aber außerhalb dessen wieder zu sich zu kommen. „Ich muss meinen Vater finden“, ist einer der letzten Sätze, den Bossong sie sagen lässt.

Eine derart verzweifelte Haltlosigkeit, die hier das endgültige Zerbrechen familiären Geborgenseins bewirkt, artikuliert sich auch in anderen Texten Bossongs. Ihr erster Gedichtband Reglose Jagd (2014) thematisiert mehrmals das Ende der Kindheit als schmerzhaften Bruch. „Hinter den Bergen sang mein Vater […] von der klappernden Mühle“, erinnert sich da ein Ich an ein unrettbar vergangenes Gestern. „Das Spiel ist abgebrochen“, heißt es an anderer Stelle, „wie sollen wir jetzt noch an Märchen glauben“. Darin kommt eine Desillusionierungserfahrung zum Ausdruck, die Bossong auch ins Politische wenden kann.

Schutzzone (2021) erzählt die Geschichte von Mira, einer Mitarbeiterin der Vereinten Nationen, deren idealistische Vorstellung, die Welt friedlicher und gerechter machen zu können, zunehmend erschüttert wird. Als die Verhandlungen im Zypernkonflikt scheitern, an denen Mira im Roman beteiligt ist, verliert sie jede Zuversicht. „Wie alles immer weitergeht. Die Hilfskonvois fahren. Die Diktatoren regieren“, bringt ihre Kollegin Sarah die gemeinsame Verzweiflung auf den Punkt. „Versöhnung ist Unsinn. Das ist ein Wort aus den Berichten. Aus dem Neuen Testament“, fügt sie ernüchtert hinzu. „Du kannst dich nicht mit jemand versöhnen, der dein Leben vernichtet hat.“ Gleiches gilt hier für den „Frieden“, den sie „ein weltfremdes Konstrukt“ nennt: „[W]ir sind nur da, um uns gegenseitig Gewalt anzutun“. Mira erlebt aber nicht nur den Verlust ihrer beruflichen Ideale, auch auf der Beziehungsebene, mit der Bossong die politischen Geschehnisse kunstvoll verwebt, entwickeln sich die Dinge anders als erhofft. In Genf trifft sie zufällig auf Milan, einen Freund aus Kindheitstagen, mit dem sie ein Verhältnis beginnt. Es gibt ihn auch zwischen ihnen, den „Moment, in dem alles gut ist“. Doch Milan ist verheiratet und ihr „kindlicher Wunsch“, dass „alles noch einmal gut gehen wird, so wie man glaubt, dass die Verhandlungen noch einmal gutgehen werden“, bleibt am Ende unerfüllt. Nie wird man, so weiß Mira zu sagen, „das Befremden“ aufheben können, das entsteht, „wenn zwei Menschen aufeinandertreffen“.

Religiöse Haltung

Bei der Arbeit an Schutzzone, wofür sie die wechselvolle Geschichte der Vereinten Nationen eingehend recherchiert hat, büßte auch Bossong zeitweise ihre Hoffnungsfähigkeit ein. Angesichts des „wiederholten Scheitern[s] der UNO im Anblick schlimmster Gräueltaten“, etwa in Ruanda, sei ihre Hoffnung darauf „einfach verbraucht“ gewesen, „dass das menschliche Miteinander nicht vor allem aus dem Zufügen von Leid besteht“. Gleichermaßen verlor sie dadurch „die Hoffnung in die Literatur“ und ihr Glaube wich dem Eindruck, „dass alles, was uns je als Halt versprochen worden ist, […] nur eine Lüge oder Ausrede ist“.

Bossong, die sich selbst als eine „protestantische Katholikin“ bezeichnet, macht es sich also keineswegs zu leicht mit dem Glauben. Was durch ihn an Zuversicht vermittelt wird, vermag sich bei ihr an nichts anderes zu halten als nur an eine „Latenz am Horizont“, die anzeigt, dass es „dennoch, trotz allem, zumindest letzten Endes“ nicht vergebens ist zu hoffen. Keine großspurige Heilsgewissheit spricht aus dieser religiösen Haltung, die der widersprüchlichen Realität immer wieder aufs Neue abgerungen werden muss. Sie ist auch nicht objektiv begründbar, sondern hängt an der subjektiven Evidenz, „dass das Leben – trotz allem, dennoch – triumphiert“. Bossong verweist auf die „Poesie […] mit ihrer Subjektivität“ und „ihrem inhärenten Zweifel gegenüber der Verzweiflung“, die eine solch kontrafaktische Perspektive je individuell freizusetzen vermag. Dann wird sie zu jenem geistigen Rückzugsraum, aus dem heraus Selbst und Welt noch einmal anders, nämlich in ihren Möglichkeiten, in den Blick treten.

Hoffnungsvolle Perspektive

Bossongs Lyrikband Kreuzzug mit Hund (2018) wird von einem Gedicht eröffnet, das mit einem ebensolchen poetischen Widerspruch gegen die Verzweiflung endet. „Ach Europa“, setzt es zunächst wehmütig ein. In den folgenden Versen ist von der Zerrissenheit zwischen den europäischen Staaten die Rede. Statt einer Union sehe man nur „eine Schürze voller Länder über die Ebene geschüttelt“. Sie erwähnt das vielkritisierte „Verwaltungschaos drapiert in / Brüsseler Spitze“ und nennt Europa „[e]in Panoptikum aus Irren und Ehrenbürgern, / Bagatellen und bösen Geistern“. Am Ende des Gedichtes aber findet sie zu einer leicht hoffnungsvollen Perspektive. „Doch irgendetwas“, heißt es da, „liegt uns an ihr, Europa, / dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt. Wir muntern / sie auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr“. Woher diese positive Aussicht rührt, bleibt unklar. Angesichts der zuvor geschilderten Krisenlage, die sich nach der jüngsten Europawahl kaum widerlegen lässt, spricht jedenfalls nicht viel dafür, auf ein gutes Ende zu setzen. Gleichwohl lädt das Gedicht seine Leserinnen und Leser genau dazu ein, ihre Europasehnsucht, die sich im eröffnenden „Ach“ ebenso auszusprechen vermag, nicht aufzugeben.

Mit einer „Mischung aus Skepsis und Hoffnung“ wollte Bossong nach eigenem Bekunden diesen Gedichtband beginnen. Das damit beschriebene Spannungsverhältnis führt einmal mehr vor Augen, zwischen welchen Extremen sie sich als Dichterin und Schriftstellerin bewegt. Ihr skeptischer Blick, der sich am allzumenschlichen Hang zum Bösen festmacht, ist auch das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte. Allein drei ihrer Romane – Webers Protokoll (2009), 36,9° (2015) und der in diesem Sommer erschienene Reichskanzlerplatz (2024) – sind in der Zeit des Nationalsozialismus angesiedelt.

Im Zentrum von Reichskanzlerplatz, ihrem jüngstem Buch, steht die Beziehung einer fiktiven Figur namens Hans Kesselbach mit einer Frau, die im Laufe des Romans zu Magda Goebbels wird. Beide lernen sich am Vorabend der NS-Herrschaft kennen, zu deren Mittätern sie auf unterschiedliche Weise werden. Am Anfang der Erzählung stecken in ihnen aber durchaus noch andere Potenziale. Magda, die vor ihrer Heirat mit dem Reichspropagandaminister die Ehefrau des Großindustriellen Quandt war, ist die Adoptivtochter eines jüdischen Kaufmanns und hatte in der Schulzeit eine intensive Liaison mit einem jüdischen Mitschüler, mit dem sie kurzzeitig gar nach Palästina auswandern wollte. An einer Stelle des Buches trifft sie noch einmal auf diesen Jugendfreund. Hans, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, hat den Eindruck, dass es Magda, die plötzlich „wie verwandelt“ wirkt, „ein letztes Mal in den Sinn“ kommt, „zu ihm zu gehören“. Ohnehin hat er keine Antwort auf die „Frage, wie zwangsläufig es kam, was dann gekommen ist, nicht nur in Magdas Leben. Die Kundgebungen, die Fackeln und Aufmärsche. Und alles danach“. Das gängige „Gerede von Zwangsläufigkeit“ verdankt sich aus seiner Sicht vor allem dem „Wunsch, nicht verantwortlich zu sein für die Wendungen, die unsere Geschichte nimmt“.

Unzerstörbare Sehnsucht

Auch Hans geht schließlich seinen Karriereweg als Beamter im Außenministerium, obwohl ihm die als „albern“ empfundene NS-Ideologie innerlich fremd bleibt. Zu Momenten der Wahrhaftigkeit gelangt er nur dann, wenn er seine von Anfang an zwangsweise verleugnete Homosexualität nicht mehr verbergen muss. Als er im Erwachsenenalter kurzzeitig mit einem früheren Schulkameraden zusammenfindet, dem es genauso ergeht, hat er das Gefühl, dass „Gott mir noch einmal einen Wunsch erfüllt“ hat, „obwohl er um uns herum bereits verschwunden“ ist. Im gleichen Atemzug fällt ihm auf, dass er „nie eine Vorstellung von der Seele gehabt“ hat, „von jenem Teil, der nicht nur körperlich war und zerstört werden kann wie eine Maschine“: „und ich fragte mich, ob es die Seele in unserer Zeit eigentlich noch gab“.

Wenn Hans auf der letzten Seite von Reichskanzlerplatz endlich am Grab von Hellmut, seiner heimlichen Liebe aus Schulzeiten, steht, an einem Ort, den er jahrelang absichtsvoll gemieden hat, dann liegt darin auch ein spätes Zeichen des Widerstands gegen den zwangsläufigen Gang der Dinge. Anstatt sich mit Leib und Seele vereinnahmen zu lassen, hält er daran fest, dass seine Geschichte auch anders hätte verlaufen können. „Ich hätte ihn wohl gern einmal wiedergesehen“, lautet der wehmütige Schlusssatz des Buches, in dem zugleich eine zwar unerfüllte, aber auch unzerstörbare Sehnsucht nach einem anderen Leben zum Ausdruck kommt.

In Bossongs Familienroman Gesellschaft mit beschränkter Haftung (2012) spielt dieser Wunsch nach einem eigenen, nicht nur den äußerlich auferlegten Gesetzen folgenden Leben ebenfalls eine starke Rolle. Eine der Hauptfiguren, Kurt Tietjen, führt ein von seinem Vater ererbtes Unternehmen und entscheidet sich von einem Tag auf den anderen dazu, seinen Aufgaben nicht mehr nachzukommen. Sein Vater hatte ihn auf den „Dreisatz“ einer „protestantischen Ethik“ verpflichtet: „Wer arbeitsam ist, ist ein besserer Mensch, wer ein besserer Mensch ist, verdient mehr vom Leben.“ Und er hatte ihm das Gesetz der Familie klar gemacht: „Die Dinge wiederholen sich nicht. Sie bleiben einfach gleich. Du verhältst dich wie ich. Und ich verhalte mich wie Justus“, wie der Name seines Vaters lautete. Aus diesem aufgezwungenen Leben befreit sich Kurt auf einer Dienstreise in New York. Er taucht einfach im Appartement einer Wildfremden ab und sorgt von dort aus schließlich dafür, dass auch seine Tochter die Firma nicht mehr weiterführen kann.

„Alles würde gut sein, am Ende würde alles gut sein, warum sollte es das nicht“, sind die letzten Worte, die Kurt vor seinem Tod durch den Kopf gehen. Unbeschadet der beeindruckenden Sensibilität, mit der Bossong immer wieder die menschliche Fähigkeit zu verletzen und verletzt zu werden, literarisch herausgearbeitet hat: Ihr Werk ist eben auch von einer trotzigen Hoffnung durchzogen. Erst das spannungsvolle Zugleich beider Aspekte macht die Lektüre ihrer Bücher aber theologisch so anregend.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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