Sommer verheißt über Land doppelte Lebendigkeit – Weite und Gelassenheit der Zeit locken in anderer Geschwindigkeit und mit anderem Blick in die Dorfkirchen, die vielerorts ihre Türen öffnen, Kühlung verheißen und besondere Erlebnisse ermöglichen. Um aller Vorfreude darauf begegnen und sie beflügeln zu können, hatten das Kulturbüro des Rates der EKD, Pfarrehepaar Jette und Carsten Altschwager und Prof. Nike Bätzner vom Freundeskreis Kinokirche Lansen gemeinsam mit zwölf Studentinnen und Studenten der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (Saale) in sieben der zwölf Kirchen des Gemeindesprengels Rittermannshagen nördlich der Müritz eingeladen. Sie starteten dort ein Pilotprojekt für Kirchen als Dritte Orte (der Gemeinschaft) und Vierte Orte (transformativer Erfahrung) in Vorbereitung auf den 31. Evangelischen Kirchbautag, der vom 11. bis 13. September 2025 in Berlin stattfinden wird.
Überschrieben waren die Tage als generationsübergreifende künstlerische Begegnung – mit den Kirchen, mit den Menschen, mit der Geschichte – in Groß Gievitz, Lansen, Alt Schönau, Rittermannshagen, Schwinkendorf, Duckow und Zettemin. Ziel war die Transformation von Vertrautem in Ungewohntes, das neues Sehen und Wahrnehmen ermöglicht. Zum Auftakt hatte Matthias Hartig vom Freundeskreis Kinokirche Lansen den Wunsch der Menschen vor Ort gebündelt: „Unsere Kirchen wurden vor gut 700 Jahren gebaut als heiliger Raum, als Schutzraum, als Raum für Gottesdienst und Gespräch. Diese Funktion verkümmert. Aber der Raum ist dafür gebaut worden. Dieses Projekt gibt den Kirchenräumen die Möglichkeit zurück, sich in dieser Funktion zu zeigen und lebendiger Ort der Begegnung zu sein.“
Mundgeblasene Glaskugel
Alle sieben Kirchen warten sehr unterschiedlich auf und zeigen ihre künstlerischen Korrespondenzen bis zum Tag des offenen Denkmals am 9. September. Geführte Touren ermöglichen vertiefende Einblicke. Luise von Cossart beschäftigte sich in Groß Gievitz mit Ritual und Wahrnehmung. Zentral hat sie auf dem Taufstein eine mundgeblasene Glaskugel platziert. Durch ein kleines Loch tropft stetig Wasser in das darunterliegende, jahrhundertealte Becken. Das Tropfgeräusch stiftet ein verändertes Zeitgefühl. Es offenbart das Wasser des Lebens in fortwährender Lebendigkeit im wechselnden Licht. In Alt Schönau hat Joshua Raasch den Dachstuhl in den Blick genommen. Bezugnehmend auf vorhandenes Baumaterial und historische Architekturmodelle verbindet er in seiner aus Seilen und Ziegelsteinen bestehenden Spiegelung des Dachstuhls die beiden durch die Decke getrennten Räume miteinander. Mit Fragen nach Raumwirkung, Atmosphäre, Farben, Formen und Figuren hat sich Paula-Rahel Cyriaks auseinandergesetzt und malend die vorgefundene Motivvielfalt neu inszeniert.
In Schwinkendorf, wo auch Runa Lisa Vieira Sandig vor Ort gegossene Papierarbeiten zeigt, sind anhand der vorhandenen ikonischen Tiere in den Glasfenstern neue Bilder entstanden, die Pelikan, Lamm und Löwe aus ihrem Bedeutungsfeld lösen, neue Geschichten erzählen und Spielraum für eigene Deutungen zulassen. In Duckow hat sie zwei Großformate angelegt, die wie Mosaike flächendeckend den Boden einnehmen. Dabei greift sie die Bildsprache und Farbigkeit des Innenraums der Kirche auf und setzt sich thematisch mit Neuanfängen und Kreisläufen auseinander. Spannend ist es auch in Lansen, wo das schlichte Tuch „Goldene Äpfel“ von Sofia Simeth und vor einem vermauerten Chorfenster im Größenverhältnis 1:1 das Modell eines neuen, lichtdurchwirkten Fensters von Martin Nielebock zu sehen sind. Gemeinsam mit Constantin Carstens und Berit Bührmann hat er in Rittermannshagen außerdem die Klang-Licht-Installation „Sog Richtung Osten“ geschaffen.
Alle Orte eröffnen neue Perspektiven, erweitern das Sichtfeld und machen deutlich, wie wertvoll jede einzelne Kirche ist: als Dritte und Vierte Orte für alle, die kommen und gehen – oder bleiben.
Kontakt für geführte Touren durch alle genannten Kirchen: rittermannshagen@elkm.de
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.