Illusionäre Hoffnung
Vor zehn Tagen fand der diesjährige Weltgebetstag statt, dessen Liturgie im Vorfeld in Deutschland große Konflikte hervorgerufen hatte. Der Bochumer Professor für Systematische Theologe, Günter Thomas, erneuert in seinem Beitrag seine Kritik und zeigt auf, warum, realpolitisch betrachtet,die Zweistaatenlösung keine Chance haben wird.
Das Leid der Menschen, der Frauen und Kinder in Gaza ist ungeheuerlich. Die in Echtzeit übertragenen Bilder des Elends bewegen die Menschen. Dass ein Krieg am Ende immer auch unmenschlich ist, ist offensichtlich.
Inmitten dieses täglich vor Augen geführten Leids fand am Freitag der Weltgebetstag der Frauen statt. Die deutsche Liturgie wurde nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 durch die palästinensische Hamas auf öffentlichen Druck hin und zur großen Enttäuschung des palästinensischen Komitees in Deutschland zwar verändert, aber noch immer steht die Erfahrung der Vertreibung (Nakba) und deren Folgen im Zentrum der Liturgie. Die Liturgien anderer Länder blieben unverändert, mit dem Bild der palästinensischen Künstlerin Halima Aziz als visuelles Motto (https://wicc.org/world-day-of-prayer-2024-artist-statement/). Der Anspruch der ursprünglichen wie auch der veränderten Liturgie ist, in Gebeten und Zeugnissen die Hoffnung auf Frieden zu artikulieren.
Doch ich fürchte, etwas anderes war der Fall. Der Weltgebetstag ebnete den Weg zu weiterem Unfrieden und weiterer Gewalt, denn die christlichen Friedenswünsche unterstützen spirituell auf palästinensischer Seite Hoffnungen, die in einer realpolitischen Betrachtung illusionär und gewaltfördernd sind. Es ist die im Zentrum der Liturgie stehenden Erzählung der Nakba, die, ganz unabhängig davon, was ihr Wahrheitsgehalt ist, eine friedliche Zukunft verbaut.
Unterschiedlicher Blick
Auf den unheilvollen Konflikt im Nahen Osten kann man und muß man verschieden blicken. Das Leid unmittelbar betroffener Palästinenser oder Israelis kann zu Sprache kommen. Der Konflikt kann religiös und interreligiös perspektiviert werden. Er kann ökonomisch oder rechtlich betrachtet werden. Die Gewaltgeschichte kann ohne Zweifel mit religiösen, christlichen wie muslimischen und jüdischen Hoffnungsbildern betrachtet werden.
Der Konflikt kann und muss aber auch realpolitisch betrachtet werden. Eine realpolitische Betrachtung fragt nach den realisierbaren politischen Möglichkeiten und nach den voraussehbaren politischen Unmöglichkeiten. Sie fragt dies angesichts der Geschichte und Narrative, der politischen Kräfte und nicht zuletzt der Auffassungen und Interessen der Akteure. Sie orientiert sich nicht an dem prinzipiell Möglichen und an Wünschen, sondern an dem tatsächlich Möglichen und den wirklichen politischen Spielräumen.
So manches, was für einen politischen Idealisten und religiös Hoffenden zynisch erscheint, ist für den hoffenden Realisten ein Anerkennen bitterer Realitäten in der Suche nach tatsächlich bestehenden politischen Möglichkeiten. Der Realist weiß, dass illusionäre Hoffnungen Unheil anrichten können. Und religiöse Akteure wie der Weltgebetstag sind Teil dieser realpolitischen Betrachtung. Darum soll es gehen. In einer unerlösten Welt lebend, ist es auch Aufgabe von Christen, illusionäre und destruktiv gewaltbefördernde Hoffnung zu hinterfragen.
Angriffskriege immer verloren
Hierzu ist ein Blick auf die Geschichte notwendig. Diese Geschichte ist komplex und selbst die Ereignisse Gegenstand heftiger Deutungskonflikte innerhalb der Historiker (unter anderem Benny Morris, Tom Segev, Michael B. Oren): Der für den jüdischen Staat mit vielen Restriktionen versehene UNO-Teilungsplan vom 29. November 1947 wurden von den Palästinensern abgelehnt und schon einen Tag später kriegerisch beantwortet. Diesen auf die Beseitigung des neuen Judenstaates zielende Krieg haben die arabischen Staaten verloren. Dass es in diesem Kontext zu Vertreibungen kam, ist unstrittig. Unstrittig ist, dass 1967 Israel einen Krieg gewonnen hat, in dem wieder eine militärische Übermacht der arabischen Staaten Israel von der Landkarte tilgen wollte. Den Jom Kippur Krieg 1973 hat Israel nicht gesucht. Auch 1973 hat Israel einen Krieg gewonnen, dessen Initiatoren ein judenfreies Palästina wünschten. Die völkerrechtlich besetzten Gebiete der Westbank und Ostjerusalems sind vor diesem Hintergrund nicht nur völkerrechtlich besetzt, sie sind auch in einem Angriffskrieg schlicht militärisch und politisch verlorengegangen. Ein Angriffskrieg ist voller Risiken ohne Rückabwicklungsmöglichkeiten.
Pointiert und realistisch formuliert: Wer Vernichtungskriege startet, muß damit rechnen, am Ende weniger zu haben als am Anfang. Darum ist Breslau und Königsberg, Bozen und Straßburg nicht besetzt, sondern schlicht verloren – wenn wir auf die europäische Geschichte schauen. Damit wird nicht bestritten, was die Generation der sogenannten neuen Historiker auch in Israel rekonstruiert haben: Dass es nämlich nicht nur, aber auch Vertreibungen gab. Damit wird das Unrecht und Leid, das damit verbunden ist, nicht geleugnet. Weil aber von den arabischen Staaten und den Palästinensern mehrere Kriege, die auf die Vernichtung Israels zielten, schlicht verloren wurden, wurde das heute kaum lösbare Flüchtlingsproblem eben auch von diesen selbst mit verursacht.
Die Geschichte nach dem Jom-Kippur-Krieg ist eine Kette von verpassten Chancen. Ohne Zweifel gab und gibt es auch auf israelischer Seite eine Obstruktionspolitik. Allerdings kamen die Palästinenser unter Arafat nie über die Kombination aus Maximalforderung und Terror hinaus – nicht 1978/79 und auch nicht nach der ersten Intifada im Prozess des Oslo-Abkommens. Nicht im Juli 2000 unter Ehud Barak beim weitgehenden Angebot in „Camp David II“. Es war stets das ähnliche Muster: Kompromisslogikeit und Terror. Elihu Barak bot 97% des Westjordanlandes und 100% von Gaza – und dann kam die zweite Intifada. Als Ehud Olmert 2008 Mahmud Abbas 93,7 % des Westjordanlandes mit einer entsprechenden Kompensation durch anderes Land, eine Verbindung nach Gaza und die Jerusalemer Altstadt unter internationaler Kontrolle anbot – da sagte dieser nein. Und der einseitige Rückzug aus dem Gaza-Streifen, durchgesetzt 2005 von dem politischen Falken Scharon, mündete nach abertausenden Raketen auf Israel in das Pogrom vom 7. Oktober 2023.
Netanjahu durch Hamas an die Macht
Nur ein kleines historisches Detail sei erwähnt: Benjamin Netanjahu wurde initial durch den Terror der Hamas an die Macht gebracht. Nachdem am 4. November 1995 der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin ermordet wurde, war der Osloprozess durch beidseitigen Terror schon destabilisiert. Dennoch brachte Shimon Peres am 16. Januar 1996 das Oslo-II-Abkommen mit den Palästinensern durch das Parlament (von den Palästinensern nie radifiziert).
Im Frühjahr 1996 lancierte dann die Hamas zwischen dem 25. Februar und dem 3. März eine einzigartige Serie von Terroranschlägen, bei denen 65 Menschen getötet und hunderte verletzt wurden. Die Anschläge gaben den Ausschlag für das Ergebnis der vorgezogenen Neuwahl. Auf die Bevölkerung Deutschlands umgerechnet, wären dies 950 Anschlagstote und mehrere Tausend Verletzte in nur einer Woche gewesen. Am 29. März wurde dann mit 50,4% der Stimmen zum ersten Mal Netanjahu gewählt und der Oslo-Prozess kam faktisch an sein Ende. Am 2. August wurde durch die neue Regierung Netanjahu der vier Jahre vorher erlassene Baustopp für die besetzten Gebiete aufgehoben.
Die realistische und bittere Erkenntnis der letzten Jahrzehnte und noch viel mehr des 7. Oktobers 2023 ist, dass die Palästinenser nicht gewillt sind, eine Staatlichkeit aufzubauen, die sich primär um das praktische wirtschaftliche Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger sorgt und dabei von der Gewalt gegen Israel wie auch vom Traum einer Rückkehr in ein Palästina „from the river to the sea“ absieht. Der pointiert „unterirdische“ Hass auf Israel war in Gaza wichtiger als der Aufbau einer leistungsfähigen oberirdischen Infrastruktur und einer zukunftsorientierten Wirtschaft – obwohl kein Flecken Land und kein Gemeinwesen auf dieser Erde jemals so viel internationale Unterstützung erhielt.
Was heißt dies für die nahe Zukunft nach dem Gaza-Krieg? Auf israelischer Seite ist nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 das Vertrauen in eine kooperative Beziehung zu der palästinensischen Zivilgesellschaft auf Jahrzehnte zerrüttet.
Fehlendes politisches Kapital
Die von wenige postzionistischen und liberalen Israelis genährte Hoffnung auf eine Ein-Staaten-Lösung wird mit guten Gründen von der überwiegenden Mehrheit der Israelis als unmöglich erachtet. Ein liberaler Staat als binationale und föderale Republik, in der alle Bürger gleichberechtigt einen Religionspluralismus leben, ist im Grundsatz eine vernünftige und gute Idee, die aber an den Gegebenheiten der Geschichte scheitert. Denn die Einbürgerung von mehr als fünf Millionen Palästinensern aus Ostjerusalem, Gaza und dem Westjordanland würde die Juden in Bälde zu einer Minderheit im eigenen Land machen. Auch für die Variante einer förderalen Struktur mit Teilautonomie der Sektionen oder einer Konförderation aus zwei getrennten Staaten fehlt das politische Kapital. Der Jubel über das Pogrom vom 7. Oktober in der Bevölkerung im Westjordanland sollte deutlich gemacht haben, was politisch nicht möglich ist.
Realistisch betrachtet ist aber auch die Zwei-Staaten-Lösung seit dem 7. Oktober 2023 tot. Warum? Unter den vielen Gründen ragt nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 einer aus dem Gewirr der Verhinderungen heraus: Schon die anfängliche Einrichtung von staatlichen Behörden und eigener Verwaltung auf palästinensischer Seite führte nicht zur Verabschiedung des Ziels, sich Israels zu entledigen. Die nur von Wenigen bestrittene Unfähigkeit, Korruption und Demokratieferne der Autonomiebehörde in Ramallah ist dagegen ein Randproblem. Die Idee „Frieden für Land“ wurde in Gaza durch die Realität von „Raketen für Land“ ersetzt. Durch die „Operation Al-Aksa-Flut“ (!) vom 7. Oktober ist real-politisch die bei Ägypten noch zielführende Losung und Lösung „Land für Frieden“ vom Tisch – mit weitreichenden Folgen auch für die Westbank.
Die Weltöffentlichkeit zeigt sich entrüstet über Netanjahus offene Weigerung, rasch eine Zwei-Staaten-Lösung anzustreben beziehungsweise eine solche zu akzeptieren. Das Problem zweier unabhängiger Staaten ist allerdings, dass Israel niemals die Einrichtung eines autonomen Palästinenserstaats akzeptieren kann, der möglicherweise mit iranischer Raketentechnologie ausgerüstet, die Möglichkeit hätte, jede israelische Stadt anzugreifen.
Nicht realisierbare Bedingungen
Im Übrigen lehnt auch die Hamas offen eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Abbas möchte diese Lösung zu offensichtlich nicht realisierbaren Bedingungen. Letztlich steht auch die Rückkehrsehnsucht der Palästinenser der Zwei-Staaten-Lösung im Weg. Selbst wenn die Hamas einer Zwei-Staaten-Lösung zustimmen würde, müsste eine andere arabische Macht oder die UNO über viele Jahre hinweg eine die Autonomie massiv einschränkende Garantie dafür übernehmen, dass die Zwei-Staaten-Lösung auf palästinensischer Seite nicht nur ein erster Schritt hin zu einer palästinensischen Ein-Staaten-Lösung „from the river to the sea“ ist.
Was hat dies nun alles mit dem diesjährigen Weltgebetstag der Frauen zu tun? Wollten die Beteiligten nicht spirituell ein Band des Friedens knüpfen? Woran macht sich der Eingangs geäußerte Vorwurf fest, hier würden letztlich gewaltbefördernde Illusionen religiös grundiert?
Im Zentrum der Weltgebetstagsliturgie steht die Erzählung vom palästinensischen Leid durch die Vertreibung nach dem sogenannten Unabhängigkeitskrieg und die Besetzung nach dem Sechs-Tage-Krieg. Das Narrativ ist eines der unrechtmäßigen Vertreibung und der Sehnsucht nach einer Rückkehr – darum ist das dazugehörige Symbol des Schlüssels so wichtig. Die Berücksichtigung einer Rückkehr wurde auf palästinensischer Seite zur Bedingung einer wahrhaft gerechten Friedenslösung. Selbstverständlich ist dieses Narrativ hoch umstritten, lässt es doch unter anderem selbstkritikfrei die 850.000 vertriebenen und enteigneten orientalischen Juden (aus dem Libanon, Ägypten, Marokko, Syrien, aus dem Irak, dem Jemen und Libyen) aus der Betrachtung und unterscheidet unzureichend zwischen Flucht, Vertreibung und falschen Versprechungen durch die muslimischen Kriegsparteien.
Fatale Sackgasse
Das große Problem an diesem Vertreibung-Rückkehr-Narrativ ist, dass selbst dann, wenn es ohne Abstriche korrekt wäre, es eine fatale Sackgasse darstellen würde, denn unter den gegenwärtigen realpolitischen Bedingungen ist die Rückkehr von 5,9 Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlingen – oder auch nur eines Teiles davon – in keinster Weise für Israel eine Option. Realpolitisch betrachtet, ist es eine illusionäre Hoffnung.
Wer tatsächlich in die verlorenen Gebiete zurück will und seine Sehnsucht Wirklichkeit werden lassen möchte, wird dies nur über kriegerische Gewalt erzwingen können. Wer also das Gewaltnarrativ der Vertreibung zur heißen, die Sehnsüchte der Gegenwart prägenden Erinnerung macht, unterstützt letztlich eine weiter gehende heiße Konflikt- und Gewaltgeschichte. Nicht jeder und jede, die so hofft, muss selbst gewalttätig werden. Das Vertreibung-Rückkehr-Narrativ schafft aber den kulturelle Nährboden für Gewalt und Terror. (In Klammern bemerkt: Nach Schätzungen der UN wurden 710.000 Palästinenser vertrieben. Heute sind 5,9 Millionen Palästinenser von der UN als Flüchtlinge registriert. Welches Tor zur Hölle würde aufgestoßen wenn in Deutschland die 12 Millionen Ost-Flüchtlinge, vergleichbar auf 99,7 Millionen angewachsen, in ihre verlorene Heimat zurückkehren wollten?).
Die Vorstellung der Rückkehr der Palästinenser ist eine politische Sackgasse, aus der nur Waffengewalt oder ein pragmatisches Umdenken führt. Damit soll kein Unrecht gegenüber den Palästinensern beiseite gewischt und kein Leid geleugnet werden. Aber selbst wenn die Erzählung der Nakba in Gänze wahr wäre: Ihr erzählendes Erinnern und das feierliche Vergegenwärtigen des Leids verbaut den Weg zu einem pragmatischen Frieden und einer tragfähigen Zukunft. Wer den Haustürschlüssel zum Symbol der Rückkehr macht, ist weder fähig noch willig, an einem anderen Ort ein Haus für die Zukunft zu bauen. Dies konnte man in Gaza schon lange besichtigen. Im Rahmen dieses Denkens waren die Investitionen der Hamas auf eigene Weise rational und konsequent.
Nochmals die Frage: Was hat dies alles nun mit Theologie und mit dem Weltgebetstag zu tun? Religionen und so auch christlicher Glaube können helfen, kontrafaktische Hoffnungen in Situationen des Elends und der Ungerechtigkeit lebendig zu halten. Dann helfen sie bei der Arbeit an einer lebenswerteren Zukunft. Religionen können aber auch ein illusionäres und in der Konsequenz gewaltbeförderndes Hoffen unterstützen. Gewaltbereite Hoffnung füllt die Gulags und die Totenfelder der Geschichte. Es ist die innere Tragik jeder religiösen Moral, dass moralisch gerechte Hoffnung und aus Leid geborene Hoffnung auf Gerechtigkeit in der realen politischen Welt unheilvolle Folgen haben können. Die Einsicht, dass das Festhalten an moralisch gerechtfertigten Anliegen Unheil wirken kann, muß sich der christliche Glaube zumuten. Dies ist eines der Schlüsselprobleme im Nahen Osten und der blinde Fleck vieler christlicher Moral.
Unerreichbare Gerechtigkeit
In Nahost läßt sich die kontraproduktive Seite der theologisch so populären Idee des gerechten Friedens studieren. Wer in einer nicht idealen Welt angesichts des Unrechts und der Wirrnisse der Geschichte einen wahrhaft gerechten Frieden sucht, wird niemals Frieden haben und immer Krieger bleiben. Wer tatsächlich Frieden will, wird immer auch vergangenes Unrecht stehen lassen müssen. Jeder tatsächliche faire Frieden im Raum der Politik ist aus diesem Grund immer auch schmutzig und nicht ohne Ungerechtigkeit. Vor diesem Hintergrund ist der Umbau des eschatologischen Motivs des sich Küssens von Gerechtigkeit und Frieden (Psalm 85,11; nicht umsonst das Psalmengebet auch in der Weltgebetstagsliturgie dieses Jahres) in politische Wünsche so irreführend und kontraproduktiv.
Als illusionäre, den Frieden verhindernde Erzählung leitet das Vertreibung-Rückkehr-Narrativ – gewollt oder ungewollt und gegenläufig zu allen Bekundungen in Interviews, Materialen und sonstigen Texten – Wasser auf die Mühlen der Gewalt. Es ist diese im Effekt destruktive und gewaltbefördernde Rückwärtsgewandtheit, die der Weltgebetstag spirituell erhöhte und mit Gebeten weltweit gehärtet hat. Im Raum realer Politik wird damit nicht ein Band des Friedens geknüpft, sondern kulturell der nächste Krieg vorbereitet. Die Rückkehrsehnsucht und der damit verbundene Märtyrerkult, hat auf palästinensischer Seite beides, die Ein-Staaten- und die Zwei-Staaten-Lösung politisch umgebracht. Dass diese illusionäre Hoffnung schnell in nihilistisch-verzweifelte Hoffnung abkippen kann, ist die Grundlage terroristischer Gewalt.
Auf Samtpfoten
War die Liturgie des Weltgebetstags antijudaistisch? Nein und Ja. Nein, sie war es nicht. Am 11. Dezember 1948 verabschiedete die UN-Vollversammlung (nicht der UN-Sicherheitsrat!) die Resolution 194, der gemäß den Flüchtlingen, „die in ihre Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühesten möglichen Zeitpunkt gestattet werden soll“. Ja, die Liturgie des Weltgebetstags war im Kern antijudaistisch. In der Nakba-Erzählung als Vertreibungs-Rückkehr-Narrativ kommt das „from the river to the sea“-Motiv auf Samtpfoten daher. Eine Rückkehr von heute 5,9 Millionen registrierten Flüchtlingen mit ihren gegenwärtigen politischen, religiösen und kulturellen Überzeugungen käme im Effekt dem Ende des Staates Israel gleich. Das wissen alle, die diese Rückkehrsehnsucht pflegen. Auch die BDS-Bewegung weiß dies. Im unkritischen Umgang mit der Vertreibung-Rückkehr-Erzählung offerierte die Liturgie den subtilsten und moralisch veredelsten Antijudaismus – eben den auf Samtpfoten. Die Kunst der Weltgebetstagskünstlerin Halima Aziz ist an dieser Stelle tatsächlich verblüffend ehrlich. (Titel: „We will return“)
Die Vorsitzende des palästinensischen Weltgebetstagskomitees, Pfarrerin Sally Azar aus Jerusalem antwortete in einem Interview mit Sibylle Sterzik auf deren fragende Feststellung, dass die Gewalt und der Terror von palästinensischer Seite in der Weltgebetstagsordnung nicht vorkomme, so selbstkritikfrei wie knapp: „Zuerst war die Besatzung und dann kam der palästinensische Widerstand. Den gibt es natürlich. Das gehört in den geschichtlichen Teil der Materialien…“. Wie auch immer man diese Haltung und dieses Denken moralisch oder theologisch bewertet, realpolitisch betrachtet, bereiten sie kulturell und religiös den Weg in neue Gewalt. Insofern der Weltgebetstag das Vertreibung-Rückkehr-Narrativ durchgehend emphatisch gottesdienstlich gewürdigt hat, trägt er das seine bei zur nächsten Tragödie. Die Kinder von Gaza haben eine andere Zukunft verdient.
Günter Thomas
Günter Thomas ist Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum.