Welche Konsequenzen müssen aus den Ergebnissen der ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche gezogen werden? Horst Gorski, früherer Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, warnt davor, nun vor allem über Strukturen und Theologie zu sprechen. Er fordert stattdessen eine kritische Selbstbefragung der eigenen Bedürfnisse und der mentalen Dunstglocken in der evangelischen Welt.
Angesichts der vielen Überlegungen zur Auswertung der ForuM-Studie möchte ich zwei Gedanken beitragen. Im Augenblick scheint mir die Diskussion etwas unübersichtlich, weil die Ergebnisse sehr differenziert sind und gemeinsam mit den Untersuchungen zur katholischen Kirche nicht leicht aussagefähig sind. Denn offenbar können recht gegenteilige Strukturen und Kulturen ähnlich fatale Auswirkungen haben. Das verbietet eigentlich monokausale Ableitungen und entsprechende Handlungsempfehlungen. Und doch ist manches, was zu lesen ist, recht monokausal gedacht: Wenn nur diese Struktur anders wäre, dann… Wenn nur die Theologie eine andere wäre, dann… Das wird der differenzierten Realität aber nicht gerecht und wird nicht helfen. Oft werden auch Einheitsfiktionen vorausgesetzt, so als wäre die Kirche ein Gebilde mit einer Gemeinschaft, die eine Theologie hat, die einheitlich gesteuert werden könne. So ist es nicht, und das ist auch gut so, und zugleich macht es klare Handlungsempfehlungen schwer, aber nicht unmöglich.
Erstens: Ein entscheidender Punkt ist die Fähigkeit, mit kritischer Selbstdistanz die eigenen Bedürfnisse und Bedürftigkeiten zu reflektieren. Ob im beruflichen Handeln oder im freiwilligen Engagement, immer suchen wir auch etwas für uns selbst. Es mag sein, dass dies durch ein protestantisch-asketisches Ethos zusätzlich tabuisiert wird. Vermutlich fällt diese Einsicht aber jedem Menschen schwer. Meine Arbeit soll mir Spaß machen (das allerdings ist eine Formulierung, die strenge Protestanten vielleicht nicht so gerne lesen), sie soll mich erfüllen, mir Sinn geben, mich inspirieren. Dazu gehören handwerkliche, kognitive und emotionale Ebenen. Mir macht es zum Beispiel Spaß, nachzudenken und zu schreiben. Abgesehen vom Schreibtisch gehören aber auch Menschen dazu. Es macht mir Spaß, mit Menschen zu arbeiten. Mit einigen weniger, mit anderen mehr, und mit anderen noch mehr.
Positiv wenden
Falls es jemanden gibt, der sagt, er habe noch nie Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat oder für die er in einem Abhängigkeitsverhältnis zuständig war, gemocht oder habe sich sogar mal verliebt, an dessen Selbstwahrnehmung würde ich ernste Fragen stellen. Dass Gefühle da sind, ist normal. Man darf sich an seinen Gefühlen auch freuen. Sie können inspirieren und leistungsfördernd sein. Entscheidend ist, sie wahrzunehmen und zu reflektieren, weil nur dann die Chance gegeben ist, sie positiv zu wenden und mit ihnen unter Wahrung notwendiger Distanzen und ethischer Standards zu arbeiten. Besonders in Zeiten, in denen die eigene emotionale Bedürftigkeit aufgrund einer Krise größer ist, ist dies entscheidend. Nicht die Gefühle sind das Problem, sondern ihre Leugnung. Weil genau dies zum Einfallstor für übergriffiges und missbräuchliches Verhalten werden kann. Nicht dass wir in unserem Handeln mit anderen und für andere etwas für uns selbst suchen, ist verwerflich. Schwierig wird es, wenn dies der eigenen Wahrnehmung und ihrer selbstkritischen Reflexion entzogen wird.
Zweitens: Über jeder menschlichen Gemeinschaft, jeder Gruppe, jedem Gremium, jeder Kollegenschaft liegt eine Art „mentaler Dunstglocke“, die aus Regeln, Gewohnheiten, Grenzen, Loyalitäten und anderem mehr besteht. Ohne solche systemischen Gegebenheiten wäre eine Gemeinschaft vermutlich nicht funktionsfähig. Der entscheidende Punkt ist, ob solche „mentalen Dunstglocken“ zu hermetischen Schließungen neigen. Dann gibt es viele Sachverhalte, die nicht ansprechbar sind oder deren Ansprechen zur Ausgrenzung (etwa zur Nichtberücksichtigung für bestimmte Funktionen) führt. Dann werden bestimmte Personen unkritisierbar und unantastbar. In den USA hieß es über manche überführten Täter im Nachhinein: „he was well protected“. Dann wird es gefährlich. Niemand sollte in diesem Sinne „well protected“ sein. Wenn ich an die verschiedenen Dunstglocken denke, die ich auf meinen beruflichen Stationen erlebt habe, dann gab es welche zum Schmunzeln, andere zum Seufzen und wieder andere zum Verzweifeln.
Schließungen aufbrechen
Unsere Strukturen kennen Regularien, solche Schließungen aufzubrechen. Dazu gehören zum Beispiel die Visitationen, die Pröpstinnen und Pröpste (dies die Begrifflichkeit in der Nordkirche) in Kirchengemeinden und Diensten und Werken durchführen. Oft habe ich es erlebt, dass es in den Kirchengemeinden einzelne Personen gab, die dringend auf Interventionen von außen warteten. Ob sich daraus allerdings eine Dynamik mit dem Potenzial zur Veränderung entwickeln kann, ist nicht immer gesagt. Die Bandbreite von Reaktionen, mit denen man unwillkommene Interventionen abwehren kann, ist groß und reicht von einem freundlichen Ins-Leere-Laufen-Lassen bis zum aggressiven Aufstellen der Stacheln. Das spricht nicht gegen solche strukturell verankerten Maßnahmen, aber es zeigt, dass es nie die Strukturen alleine sein können. Es kommt immer auch auf das verantwortliche Handeln des und der Einzelnen an. Verantwortung und Courage sind nie substituierbar.
Selbstverständlich spielen theologische Traditionen auch eine Rolle für das Handeln in der Kirche. Aber die Verbindung zwischen Theologie, Strukturen und eigener Person und ihrer Verantwortung sind so differenziert und von Person zu Person so unterschiedlich, dass allgemeine und monokausale Ableitungen fehl gehen müssen. Es kann sogar sein, dass Ersatzdebatten auf diesen Feldern geführt werden, die vom Eigentlichen ablenken. Wenn mit einem gewissen Pathos gefordert wird, die Kirche müsse jetzt an ihre Theologie „ran“ und also „ans Eingemachte“, so frage ich mich, ob hier nicht mit einer Chimäre gehandelt wird.
Drohende Ersatzdiskussion
Denn abgesehen davon, dass die Kirche nicht die Theologie hat und dass dies auch nicht von einer Stelle aus steuerbar ist – aber angenommen, dies wäre so und wir könnten, wie dies auch in dieser Zeitschrift gefordert wurde, die Anthropologie oder das Sündenverständnis der Kirche verändern: Wem ginge denn dies wirklich ans „Eingemachte“? Aus meiner Feldkenntnis würde ich vermuten: So gut wie niemandem. So könnte leicht eine Ersatzdiskussion geführt werden, hinter der man sich mit seiner eigenen Verantwortung verstecken kann. Denn, so schwer es ist, die Strukturen einer Großorganisation wie der Kirche oder ihre Theologie zu verändern, noch schwerer ist es, sich selbst zu verändern.
Die beiden genannten Punkte verstehe ich nicht als Gegensatz zu anderen Maßnahmen, bin aber überzeugt: ohne kritisch reflektierte Selbstdistanz zu dem, was wir handwerklich, kognitiv und eben auch emotional in unserer Arbeit suchen und ohne verantwortliche Bereitschaft (gelegentlich verbunden mit Courage), hermetische Schließungen der „mentalen Dunstglocken“ unserer vielen Subsysteme zu verhindern oder aufzubrechen, werden alle anderen Maßnahmen wenig Wirkung zeigen. Wenn wir die Theologie ins Spiel bringen wollen, dann hat sie sicher da einen guten Platz, wo sie die Fähigkeit zur reflektierten Selbstdistanz, zu Verantwortung und Courage stärkt. Liegt das nicht eigentlich sogar in den Genen der protestantischen Theologie?
Horst Gorski
Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. Seit 2024 ist er Mitglied der Partei BSW.