„Es geht ein Übergroßes vor“

Warum man sich angesichts mancher Erfahrungen nur gewissenhaft bescheiden kann
„Der Demütige bekennt sich bereitwillig zu seiner Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit.“
Foto: Hans-Jürgen Krackher
„Der Demütige bekennt sich bereitwillig zu seiner Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit.“

Menschen machen in ihrem Leben besondere Erfahrungen, die ihr Gewissen nachhaltig beeinflussen. Diese wirken sich langfristig auf ihre Selbstverortung aus und begründen ein demütiges Verhalten. Diese These vertritt Jonas Puchta, Philosoph an der Universität Rostock. Er umreißt  ein philosophisch motiviertes Konzept von Demut.

Dass die Demut dem Begriff nach gegenwärtig wieder in der Öffentlichkeit an Relevanz gewinnt, muss eigentlich verwundern. Genauso wie ein Politiker mittlerweile demütig ein Wahlergebnis annimmt, geht ein Fußballtrainer mit Demut in die nächste Bundesligapartie, und auch zahlreiche Publikationen zeugen davon, dass die Unternehmensführung in dieser Haltung einen Schlüssel zum Erfolg sieht. Liegt der Soziologe Andres Reckwitz richtig, dann widerspricht ein solches Verhalten eigentlich den Anforderungen einer spätmodernen Kultur. In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ erfährt das Einzigartige, Besondere oder Unvergleichbare eine Aufwertung, und wer dieser Logik entsprechen möchte, ist auf permanente Selbstbehauptung und Sichtbarkeit angewiesen. Ausgerechnet die Demut empfiehlt dem Menschen dagegen traditionellerweise die Zurücknahme, die freiwillige Selbstbeschränkung, das Eingeständnis in die eigene Niedrigkeit oder kurz: den letzten Platz einzunehmen. Unvergleichbarkeit durch Unterwürfigkeit – vor diesem Hintergrund muss das gegenwärtige Erstarken dieses Begriffes äußerst verdächtig erscheinen.

Unvergleichbarkeit durch Unterwürfigkeit

Dieses Unbehagen haben bereits einflussreiche Philosophen der Neuzeit vorweggenommen. Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Max Stirner oder Friedrich Nietzsche haben die christliche Demut einer schonungslosen Kritik unterzogen. Erstens galt sie als eine Haltung der bedingungslosen Knechtschaft, die zugunsten der Macht von Staat und Kirche die Ohnmacht des Individuums kultiviert. Dafür habe der Demütige zweitens eine peinlich genaue Kontrolle seiner Wünsche, Begierden und Gefühle unternommen, um zum Beispiel im Zusammenhang mit Themen wie Essen, Sexualität oder Tod ein sündhaftes oder sittenloses Leben zu vermeiden. Der dritte und sicher aktuellste Vorwurf sah in der Demut einen „umgekehrten Hochmut“ verwirklicht: Der Gläubige soll sich nur dem Anschein nach als niedrig, schwach oder gering inszenieren, aber sich eigentlich durch dieses Verhalten eine Aufwertung vor Gott oder seinen Mitmenschen versprechen. Die Worte Jesu „Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“ (Lukas 18,14) hat Nietzsche als Ausdruck einer „Umwertung der Werte“ verstanden, durch welche sich die Schwachen, Unterdrückten oder Demütigen einen nützlichen und obendrein weltlichen Vorteil verschaffen. Nietzsche, der diesen „Sklavenaufstand“ in der Moral entdeckt haben will, „verbessert“ deshalb nicht ohne Verärgerung: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.“

Solche Vorwürfe sind weitreichend, weil sie oftmals auf das gesamte Christentum abzielten, aus dem dieser Begriff hervorging. Wohlwollend gelesen, ist die philosophische Kritik eine Warnung, an dem sich jedes traditionelle oder moderne Konzept von Demut messen lassen muss. Ohne sie hier im Detail überprüfen zu können, möchte ich zunächst andeuten, warum diese Kritikpunkte aus mindestens zwei Gründen zu kurz greifen, um darauf aufbauend ein philosophisch motiviertes Konzept von Demut zu umreißen.

Erstens vernachlässigt die Kritik den Facettenreichtum der christlichen Tradition, der zu unterschiedlichen Ausdeutungen der Demut geführt hat. Bernhard von Clairvaux oder Thomas von Aquin haben sie beispielsweise als eine Haltung des besonnenen Maßes interpretiert, auf deren Grundlage sich der Gläubige gegenüber Mensch und Gott sinnvoll verortet. Es geht also nicht um unhinterfragte Unterwerfung, sondern es ist aufrichtige Selbsterkenntnis gefragt, durch die eine der Situation angemessene Selbstbeschränkung möglich ist, die auch in Unterordnung bestehen konnte. In seiner Schrift „Über die Stufen der Demut und des Stolzes“ beruft sich Bernhard sinngemäß auf das delphische „Erkenne dich selbst!“, um die Notwendigkeit der Demut hervorzuheben. Auf dieser Grundlage sei, wie er in seinem als „De Consideratione“ (lateinisch „Über die Besinnung“) berühmt gewordenen Brief an seinen vormaligen Schüler und späteren Papst Eugen III. herausstellt, auch die maßvolle Ausübung des päpstlichen Amtes möglich. Allein dieses Beispiel kann einer vorschnellen Kritik entgegenhalten, dass die christliche Demut mehr ist als eine ausschweifende Bußpraktik, auch wenn man sie zweifellos ebenso in diesen Kontext gestellt hat. Häufig stand die Demut auf einem schmalen Grat zwischen Selbstverachtung und Selbstbetrachtung, und insbesondere letzterer Aspekt macht sie für philosophische Überlegungen attraktiv.

Auch in einer zweiten Hinsicht greift die philosophische Kritik zu kurz. Nicht nur sie, sondern auch die christliche Tradition hat in Teilen lange vernachlässigt, dass Menschen wesentliche Erfahrungen machen, die sie erst dazu veranlassen, sich demütig zu zeigen. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Aber wer sie ignoriert, der kann in der Demut tatsächlich nichts anderes sehen als das gehorsame Befolgen eines formalen Gebotes oder das nüchterne Einüben in eine Tugend. Was den Menschen zu einem solchen Verhalten motiviert, sich ihm spürbar aufdrängt, ihn nicht mehr loslässt und nachhaltigen Einfluss auf seine Lebensführung hat, droht unter den Tisch zu fallen. In dieser Erfahrungsdimension sehe ich das Potenzial, die Demut auch über einen religiösen Kontext hinaus greifbar zu machen und zu erklären, warum sie gegenwärtig wieder vermehrt auf den Plan gerufen wird.

Beide Erwiderungen auf die philosophische Kritik lassen sich produktiv zusammenführen: Die These lautet, dass Menschen besondere Erfahrungen mit einer nachhaltigen Gewissensqualität machen, die sich langfristig auf ihre Selbstverortung auswirkt und ein demütiges Verhalten begründet. Für eine erste Veranschaulichung dieses Gedankens ist es sinnvoll, ein exemplarisches Zeugnis anzuhören. Es berichtet der Jesuit und Theologe Josef Sudbrack rückblickend, wie ihm die Demut „existenziell“ bewusst wurde: „Mir steht dabei mein Krankenlager nach einer schweren Verwundung während des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Damals, 1944, stand ich zweimal am Rande des Todes. […] [I]ch erfuhr ein totales Ausgeliefertsein an die Mächte des Todes; ich wurde hineingezogen in einen Prozeß, der mich hilflos machte, der mich überfiel, der stärker war als meine Lebenskraft. […] Es war das völlige Ausgeliefertsein an etwas Stärkeres.“

Diese Erfahrung enthält zwei wesentliche Momente der Demut, die ich als charakteristisch verstehe. Erstens berichtet der Betroffene von einem „Ausgeliefertsein“ an etwas Stärkeres (in diesem Fall der Tod), dem er sich nicht entziehen kann. Es handelt sich, abstrakter gesprochen, um die Konfrontation mit einem Widerfahrnis, das ihm unwillkürlich nahegeht, aber nicht willentlich hervorgerufen wurde oder kontrollierbar wäre. Für die Demut ist zweitens besonders entscheidend, auf welche Weise sich der Betroffene gegenüber dieser Erfahrung positioniert. Er gesteht sich ein, dass er dieser „Macht“ nicht gewachsen ist, sie seine Kräfte übersteigt und er ihr deshalb ausgeliefert ist. Darin sehe ich die für die Demut entscheidende Stellungnahme ausgesprochen: Der Demütige bekennt sich bereitwillig zu seiner Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit. Machtlos ist er in diesem Fall angesichts des Todes. Begrenzt ist seine Fähigkeit, gegen dieses Ende anzukämpfen, wie das Leben insgesamt an eine unhintergehbare Grenze stößt. Abhängig ist der Mensch deshalb von dem, was ihm verfügbar, aber auch unverfügbar ist. Er ist und bleibt abhängig von seiner körperlichen, leiblichen oder mentalen Verfasstheit, ist mit bestimmt von den Umständen seiner Situation, in die er „geworfen“ ist, bleibt angewiesen auf die Leistungen seiner Mitmenschen, der Gnade seines Gottes und so weiter. Diese verschiedenen Hinsichten, in denen sich der Demütige als abhängig, begrenzt oder machtlos begreift, können über dieses Beispiel hinaus variieren. Das wirkt sich insbesondere auf das Thema der Demut aus, also ob ich vor einem leidvollen oder beglückenden Schicksal, einem Gott, der „Natur“, einem Ideal oder der Leistung eines Menschen demütig bin.

Wenn es häufiger auch die leidvollen Momente des Lebens sein mögen, die den Menschen seine Machtlosigkeit, Abhängigkeit und Begrenztheit eingestehen lassen, so sind es diese nicht allein. Einige Verse aus der Feder von Rainer Maria Rilke mögen diesen Facettenreichtum wenigstens andeuten. Der Dichter schreibt: „Du meinst die Demut. Angesichter/ gesenkt in stillem Dichverstehn./ So gehen abends junge Dichter/ in den entlegenen Alleen./ So stehn die Bauern um die Leiche,/ wenn sich ein Kind im Tod verlor,/ und was geschieht, ist doch das Gleiche:/ es geht ein Übergroßes vor.“

Gefühle des Zorns oder der Liebe

Lassen wir an dieser Stelle außer Acht, dass Rilke diese Zeilen letzten Endes auf Gott bezieht. Entscheidender ist, dass er zwei den Umständen nach äußerst unterschiedliche Situationen sparsam, aber eindrucksvoll umschreibt, die beide in eine demütige Stellungnahme münden: Auf der einen Seite schreiten „junge Dichter“ andächtig durch die abendliche Atmosphäre einer Allee, während andererseits eine Gruppe von „Bauern“ in Trauer um eine Kindesleiche versammelt sind. Beide Ereignisse begründen das Geständnis: „Es geht ein Übergroßes vor.“ Diese „Übergroße“ lässt sich mit dem Philosophen Hermann Schmitz (1928–2021) als eine „Autorität unbedingten Ernstes“ auf den Begriff bringen. Diese Autorität geht beispielsweise von Gefühlen des Heiligen, des Zorns, der Trauer, der Scham oder der Liebe aus. In Anwendung auf die Demut können die Betroffenen angesichts solcher Erfahrungen nicht anders, als sich ehrlich einzugestehen, dass sie machtlos, begrenzt und abhängig sind. Nicht aber aus Zwang, sondern weil sie trotz ihrer Möglichkeiten zur Reflektion nicht anders können, als sich gewissenhaft zu bescheiden. Dieses Eingeständnis geschieht, wie ich oben betont habe, bereitwillig, was nicht bedeuten muss, dass der Demütige seine Situation auch als wünschenswert betrachtet. Würde sich ein Mensch aus reinem Zwang demütig zeigen, wäre tatsächlich richtiger von Unterdrückung oder Unterwerfungslust die Rede. Wer die Grenzen des Menschseins dagegen grundsätzlich nicht wahrhaben möchte, sie leugnet oder ignoriert, der ist unaufrichtig, verzweifelt oder hochmütig.

Kämpferische Haltung

Es wäre wiederum ein Missverständnis, zu glauben, dass die Demut mit einer selbstbewussten oder kämpferischen Haltung nicht verträglich wäre. Bereits Thomas von Aquin hatte der Demut die Großgesinntheit an die Seite gestellt, die man vereinfacht als berechtigten Stolz umschreiben könnte. Großgesinnt ist nach Aristoteles derjenige, der sich nicht einfach nur großer Dinge für Wert hält, sondern es auch tatsächlich ist. Während die Demut das Streben davor bewahrt, dass man seine Möglichkeiten und Hoffnungen maßlos verfehlt, garantiert die Großgesinntheit, dass der Mensch gefestigt ist, wachsam bleibt und das in ihm vorhandene Potenzial angemessen auslebt. Selbstachtung und Selbstbeschränkung müssen sich also nicht ausschließen, sondern können Teil eines sich ausgleichenden Bestrebens sein. Es hat abschließend mindestens zwei Vorteile, die Demut als ein Eingeständnis in die eigene oder kollektive Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit zu verstehen, das auf eine Erfahrung mit einer Autorität unbedingten Ernstes zurückgeht.

Erstens kann auf diese Weise plausibel werden, warum dieser Begriff gegenwärtig wieder an Bedeutung gewinnt. Wir werden in der Konfrontation mit Umweltkatastrophen, einer Pandemie oder Kriegen einmal mehr auf die Grenzen unseres Menschseins aufmerksam, die man im Bestreben von Wohlstand, Fortschritt und technischer Weltbemächtigung allzu oft ignoriert oder als zu überwindendes Hindernis gedeutet hat. So verstanden, haben wir immer wieder die Möglichkeiten einer Demut vor dem „Unverfügbaren“ nicht ausreichend wahrgenommen. Es hat übrigens insbesondere der Soziologe Hartmut Rosa darauf hingewiesen, dass das Unverfügbare sich nicht nur als Leid und Schmerz offenbaren muss, was auch für die Demut mitzudenken ist.

Je nachdem, wie ernst wir diese unterschiedlichen Erfahrungen tatsächlich nehmen, dürfen wir in ihnen zweitens das Potenzial sehen, jenseits von Heuchelei und Selbstdarstellung sinnvolle Schlüsse für das gemeinsame Leben auf diesem Planeten zu ziehen. Es bleibt abzuwarten, ob die Demut einen Beitrag für das dafür nötige Maß leisten kann oder nicht mehr als ein Modewort ist. Die Zukunft der Demut hat sich darin zu bewähren, inwiefern der Mensch eine redliche Bereitschaft dafür aufbringt, sich spürbar durch unwillkürliche Erfahrungen in Frage stellen zu lassen, ohne daran zu zerbrechen.

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