Zwischen Missverständnis und Missbrauch

Warum sich Demut nur im reflektierenden Rückblick identifizieren lässt
„Der Eindruck der Endlosigkeit und Unbeweglichkeit der Wüste lässt die eigene Lebendigkeit zur Bedeutungslosigkeit schwinden: Demut vor der Gewalt der Natur.“ Unser Foto zeigt die Namib Wüste Namibias.
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„Der Eindruck der Endlosigkeit und Unbeweglichkeit der Wüste lässt die eigene Lebendigkeit zur Bedeutungslosigkeit schwinden: Demut vor der Gewalt der Natur.“ Unser Foto zeigt die Namib Wüste Namibias.

In der jüdisch-christlichen Tradition lassen sich  verschiedene theologische Traditionsstränge zum Verständnis und zur Einübung von Demut verfolgen. Einen Blick auf diesen theologischen Schlüsselbegriff wirft Eckhard Zemmrich, promovierter Systematiker und Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Demut ist ein theologischer Schlüsselbegriff jüdischer wie christlicher Glaubenstradition und -praxis. Gleichzeitig ist er immer wieder von Missverständnis und Missbrauch bedroht. Missverständnis, indem Demut einerseits mit Bescheidenheit verwechselt und andererseits als eigenständige Tugend beschrieben wird. Bedroht von Missbrauch, weil Demut zum einen immer wieder in den Dienst von Machtinteressen gestellt wurde, zum anderen aber als bewusste Selbstzurücknahme Ressentiments freisetzt, wie Friedrich Nietzsche treffend herausgearbeitet hat.

Was aber ist Demut stattdessen? Schauen wir zunächst auf das Wort selbst und seine Geschichte: Der heutige deutsche Begriff leitet sich von dem althochdeutschen Wort diomuoti her und bedeutet in einem sehr aktiven Sinne „Dienstmut“, „Gefolgstreue“. Damit wurde das lateinische Wort humilitas übersetzt, das von humus, also „Erde“ kommt und zunächst einfach „Niedrigkeit“ meint. In der lateinischen Bibelübersetzung wiederum steht dieses eine Wort für zwei Begriffe des griechischen Neuen Testaments, die sich der gemeinsamen Wurzel tapeinós – „niedrig“ – verdanken: Einmal tapeinosis – „Niedrigkeit“ – als Ausdruck für niedrigen sozialen Status wie im Magnificat Lukas 1,48: „Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“ Zum anderen steht humilitas ebenso für tapeinofrosyne – was „Niedriggesinntheit“ bedeutet und im antiken griechischen Sprachgebrauch fast durchgängig abwertend gemeint war. Im biblisch-neutestamentlichen Kontext besitzt dieses Wort aber einen durchweg positiven Klang, und das hat mit der freiwilligen Niedrigkeit Jesu Christi zu tun, die dort für sein ganzes Leben reklamiert wird. Sie wird in den Evangelienerzählungen wie denen von der Geburt im Stall, von der Fußwaschung und seiner Hinrichtung am Kreuz plastisch herausgearbeitet, und im so genannten Philipperhymnus als Grundmotiv seines Erlösungswerks theologisch zusammengefasst: „Er, der in göttlicher Gestalt war, … erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Philipper 2,6.8).

Dass der Messias seine heilende Kraft ausgerechnet in der Erniedrigung bis in die tiefste Tiefe hinein entfaltet, ist die Grundüberzeugung christlichen Glaubens. Sie ist aber keine Erfindung dieses Glaubens, sondern eine Interpretation des biblisch-jüdischen Gedankens vom armen, friedfertigen und sanftmütigen König. Er wird wie im Buch des Propheten Sacharja (Sacharja 9) nach dem Scheitern staatlicher Eigenständigkeit als Leitfigur eines neuen Israel prophezeit.

Freiwillige Niedrigkeit

Dieses Vertrauen in die Kraft der Macht- und Gewaltlosigkeit im herkömmlichen Sinne konnte Bedeutung gewinnen, weil Niedrigkeit in der hebräischen Bibel theologisch durchdrungen wurde: Die dafür gebrauchten Worte ani und anaw mit dem Bedeutungsspektrum „elend“, „arm“ und „niedrig“ samt ihren substantivierten Ableitungen bezeichnen eigentlich völlige materielle Besitz- und soziale Machtlosigkeit von Menschen. Tagelöhner, sozial Abgestiegene, Ausgegrenzte, Rechtlose – es waren diese Macht- und Bedeutungslosesten, für die nach altorientalischer Königsideologie der König als Mächtigster und Bedeutendster in einer Gesellschaft einstehen musste. Diese Rolle kommt im biblischen Sprachgebrauch letztlich nur Gott zu, und Menschen, die nichts Eigenes mehr vorweisen können, die sich als hilf- und machtlos, kurz als elend erleben, sie rufen ihn mit Hinweis darauf um Hilfe an.

In den Psalmen taucht dieses Elends-Motiv als Gebetsgrund besonders häufig auf, und in Verbindung mit der Anrufung Gottes erhält es dann auch die Bedeutung von Frömmigkeit: Der oder die Elenden, sie sind die Frommen, denn sie als die Schwachen verlassen sich ganz auf die Stärke Gottes. So werden aus den Elenden die Demütigen. In den exilischen und nachexilischen Schriften, also unter dem kollektiven Eindruck des Verlustes von staatlicher Macht und Souveränität, wird diese religiöse Aufladung und Umformung des Elendsmotivs verstärkt und zu einem neuen, nachgerade dialektischen Machtideal verdichtet, das sich als Demut (anawah) versteht: Der Mächtigste ist der Demütige, der sich ganz auf Gott statt auf seine eigene Stärke verlässt. Die Vision des künftigen Herrschers bei Sacharja schmückt dieses Motiv aus: Er ist arm, und statt auf dem Schlachtross reitet der Herrscher auf einem Esel (Sacharja 9,9).

Jesus setzt diese Demutsassoziationen einer neuen Herrschaft dann bewusst in Szene, etwa beim so genannten Heilandsruf Matthäus 11,28–30 oder beim Einzug in Jerusalem. Er gibt sie aber auch an seine Nachfolgerinnen und Nachfolger weiter, wenn er einfordert (Markus 10,42–44): „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“

Damit wird die Gestaltung christlicher Gemeinschaft programmatisch unter das Demutsideal gestellt, ganz so, wie es die Einleitung in den bereits erwähnten Philipperhymnus formuliert (Philipper 2,3–5): „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“

In der christlichen Tradition lassen sich dann verschiedene theologische Traditionsstränge zu Verständnis und Einübung von Demut verfolgen. Gemeinsam ist ihnen lange Zeit, dass sie Demut als eigene Tugend auffassen, also als eine Haltung menschlicher Vollkommenheit, die durch beharrliche Übung erlangt und gefestigt werden kann. Es ist jedoch genau dieses Verständnis von Demut als einer eigenständigen, erstrebenswerten Tugend, die hochmütiger und heuchlerischer Demut mit ihrem Missverständnis und Missbrauch Vorschub leisten kann, weil sie in einen Teufelskreis führt: Der Tugendhafte freut sich über seine Tugend, darf zu Recht stolz darauf sein. Wer jedoch stolz auf seine Demut ist, ist nicht demütig, sondern hochmütig. Damit wird Demut zur nahezu unerfüllbaren Forderung – und diese Forderung zu einem probaten Mittel, um Menschen in Schuldbewusstsein zu halten und sie zu geheuchelter Demonstration echter Demut zu bringen.

Doch sind solche oft entstandenen Abwege und Deformationen nicht die einzige Möglichkeit zum Verständnis von Demut in jüdischer und christlicher Tradition: Der biblische Gebrauch legt nämlich eine Auffassung nahe, die dem alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes in seinem Grundverständnis gut entspricht. Wie auch in anderen Beiträgen dieses Heftschwerpunktes gezeigt wird, wird in solchem normalsprachlichen Gebrauch mit Demut oft etwas bezeichnet, das nicht eingeübt und zur Haltung verfestigt werden muss, sondern das sich jeweils von selbst einstellt als spontane Reaktion auf eine entgrenzende Erfahrung, die normale Maßstäbe zunichte macht. So tauchte der Begriff Demut während der Zeit der Covid-19-Pandemie verstärkt in Medienbeiträgen und Reflexionen darauf auf. Vor allem durch die verstörenden Nachrichten und Bilder aus Italien, Großbritannien und so vielen anderen Ländern, aber auch durch die gespenstische Stilllegung des öffentlichen Lebens, die alle betraf, wurde erschreckend deutlich, wie für die meisten bis dahin unvorstellbar mächtig und unberechenbar bedrohlich ein potenziell tödlicher Krankheitserreger sein kann. Und wie bis dahin unvorstellbar hilflos dagegen menschliches Bemühen. Demut vor der Herrschaft von Krankheit und Tod – das musste nicht eingeübt werden, das ergab sich als unwillkürliche Reaktion auf diese Herrschaft von selbst.

Ähnlich verhält es sich, wenn wir Naturgewalten erleben, starke Stürme, heftige Gewitter, Vulkanausbrüche. Oder eine Wüste, wie es ein Zeitungsbeitrag einmal aufzeigte: Über dem Bild eines verbeulten und ausgebrannten Autowracks neben endloser, schnurgerader Wüsten-Landstraße in Chile titelte ein Reiseartikel aus der Berliner Zeitung vom 10./11. Februar 2001: „2 000 Kilometer auf der Panamericana: Von Santiago in die Atacama-Wüste, die selbst Autofahrer zur Demut erzieht.“ Darin wurde beschrieben, wie endlose Weite die Maßstäbe verändert: „Die Wüste erzieht zur Demut. Sogar die Autofahrer verhalten sich anders. Niemand rast. Niemand missachtet die rostigen Stopp-Schilder an den Bahnübergängen, obwohl auf vielen Gleisen gar keine Züge mehr verkehren. Und niemand wirft seinen Müll einfach aus dem Fenster. Selbst für kleine, rote Dosen gibt es kein Versteck. Ein seltsamer Reflex des Menschen wird in der Wüste offenbar: Sich ungern bemerkbar zu machen. Jeder Fußabdruck: eine Peinlichkeit, Jedes laute Wort: ein Tumult. Das ganze Leben: Schleichen und Flüstern.“

Eigene Gefühlsqualität

Der Eindruck der Endlosigkeit und Unbeweglichkeit der Wüste lässt die eigene Lebendigkeit zur Bedeutungslosigkeit schwinden, der entsprechend man sich leise, vorsichtig und unauffällig verhält: Demut vor der Gewalt der Natur. – Vergleichbares ließe sich angesichts der komplexen Eigendynamik von geschichtlichen Ereignissen wie denen von Kriegen sagen, deren Macht gegenüber auch die Aktionen der Einflussreichsten zu nicht ausschlaggebenden Beiträgen schrumpfen lässt angesichts der ungeheuren Fülle und globalen Vernetzung von Kräften und Gegenkräften, die Geschichte gestalten.

Eine eigene Gefühlsqualität scheint also für echte, ungeheuchelte Demut typisch. Sie ergibt sich aus dem Eindruck einer Größe, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit, unser Fassungsvermögen, unsere Einflussnahme übersteigt, und bei deren Innewerden sich die Sicht auf das eigene Leben, die Maßstäbe zur Beurteilung des Eigenen verändern: Werden die Maßstäbe dem unheimlich Bedrohlichen, dem unfasslich Großen, dem unüberschaubar Vernetzten abgenommen, so verschiebt sie die Eigenwahrnehmung ins nahezu gänzlich Ausgeliefertsein, ins nahezu unendlich Kleine, ins nahezu Bedeutungslose.

Eine solche relationale Bestimmung von Demut, ihre Abhängigkeit von einer „Über-Größe“ und damit die Sprengung gewohnter Maßstäbe lässt sich auch im biblischen Gebrauch finden und hat in der christlich-theologischen Tradition ihre Spuren hinterlassen: Demut kann als Reaktion des Menschen auf die Erfahrungen der Gottesbeziehung im Glauben, der zwischenmenschlichen Bezug in Liebe und der Geborgenheit gemeinschaftlicher Lebenswirklichkeit in Hoffnung bestimmt werden.

Demut als Glaubensdemut ist dann der der Gotteserkenntnis im Glauben entsprechende Selbstbezug in der Erkenntnis eigener radikaler Fehlbarkeit. Diese Dimension ist vor allem von Augustinus (354–430) und in der an seine Theologie anschließenden mönchischen Tradition entfaltet worden. Sie hat dann in der Bußtheologie Martin Luthers (1483–1546) eine Ausarbeitung erfahren, die die Aporie verdienstlich-tugendhafter Demut durch Einbettung in die paulinische Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben überwinden konnte.

Demut als Liebesdemut ist die der vorbehaltlosen Zuwendung zum Anderen entsprechende Selbstvergessenheit, wie sie sich ausgehend von theologischen Aussagen besonders der neutestamentlichen Evangelien in Diakonie und zwischenmenschlichem Liebesdienst entfaltet hat, und wie sie auch im deutschen Begriff der Demut als „Dienstmut“ anklingt. 

Hinterlassene Spuren

Schließlich ist Demut als Hoffnungsdemut die der verlässlichen – in all ihrer Vorläufigkeit doch auf Vollendung ausgerichteten – christlichen Gemeinschaftserfahrung entspringende Freiheit zur Selbstrelativierung. Die lässt sich allerdings nicht einfordern, denn Menschen brauchen die Sicherheit, dass sie nicht ausgenutzt werden, wenn sie sich selbst zurücknehmen sollen. Es braucht einen Schutzraum der Wechselseitigkeit einer Selbstzurücknahme, die diese erst möglich macht, und die, wie der Philipperhymnus es anmahnt, unter Christusgläubigen aufgrund ihrer gemeinsamen Hoffnung gelebt werden soll („… achte einer den andern höher als sich selbst“). Diese letzte Demuts-Dimension ist allerdings in der theologischen Tradition bislang kaum entfaltet worden.

Demut sollte darum von Bescheidenheit klar unterschieden werden. Denn Bescheidenheit wahrt das rechte eigene Maß anderen gegenüber und ordnet sich bewusst ein und unter. Demut dagegen ist, so ein Luther zugeschriebener Ausspruch, das Auge, das alles sieht, nur nicht sich selbst. Sie lässt sich nicht im unwillkürlichen, relationalen Vollzug, sondern nur im reflektierenden Rückblick als Demut identifizieren. In solcher Reflexion wird sie dann aber auch zum Schlüsselbegriff für die Größen, von denen sie abhängt: Sie wird zum Hinweis auf die im tatsächlichen Erleben so oft verschüttete und der Wahrnehmung entzogene Kraft und Vollkommenheit der Wirklichkeit, die als göttliche Wirklichkeit bezeichnet wird. Und die durch Glaube, Liebe und Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden in unsere Lebenswirklichkeit hineinwirkt und sie verändert. 

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Eckhard Zemmrich

Dr. Eckhard Zemmrich ist Systematiker, hat im Fach Interkulturelle Theologie und Religionswissenschaft habilitiert und ist Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.


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