So wenig Religion?

Es bleibt dabei: Ungereimtheiten in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wecken Zweifel
Himmel
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Um die Jahreswende gab es eine heftige Diskussion um die Aussagen der sechsten Kirchen­mitglied­schaftsuntersuchung – kurz KMU 6. Zeigen die Ergebnisse, dass Religion und Glaube über kurz oder lang verdunsten, wie es viele Schlag­zeilen kündeten? Oder liegt dieser Deutung ein zu enger Religionsbegriff zugrunde? Davon ist jedenfalls der Theologe Martin Fritz, wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin, überzeugt.

Die Mehrheit der Deutschen hat mit Religion nur mehr wenig am Hut.“ Mit diesem lapidaren Satz wurde in der FAZ einer der markantesten Befunde der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) zur Lage der Religiosität in Deutschland wiedergegeben. Ihr zufolge sind nur noch 13 Prozent der Deutschen „kirchlich-religiös“ und gar nur noch sechs Prozent „alternativ-religiös“; dagegen wird die Mehrheit von 56 Prozent den „Säkularen“ zugerechnet, so dass für das Mittelfeld von „Religiös-Distanzierten“ noch 25 Prozent übrigbleiben.

Vehement zurückgewiesen

Nach der Vorstellung der KMU 6 im November entspann sich ein munterer Disput über die Stichhaltigkeit dieser Diagnose. So wurde von Reiner Anselm, Kristin Merle und Uta Pohl-Patalong in zeitzeichen (zz 12/23) vorgebracht, der Untersuchung fehle ein adäquates Instrumentarium zur Erhebung der fluiden Gestalten individualisierter Gegenwartsreligiosität. Diese Kritik wurde daraufhin von Friederike Erichsen-Wendt, Johannes Wischmeyer und Edgar Wunder vehement zurückgewiesen: Den Kritiker:innen wiederum fehle es an methodischem Know-how sowie an der Bereitschaft, sich ungeachtet kirchenpolitischer Opportunitäten „schonungslos der sozialen Realität zu stellen“ (zz 1/2024).

Wer sich in die KMU-Broschüre vertieft, um sich ein eigenes Urteil zu bilden, wird Respekt vor der Expertise der beteiligten Sozialwissenschaftler:innen empfinden. Denn wie den Andeutungen zur Methodik zu entnehmen ist, hat die Studie ihr Bild von der „religiösen Großwetterlage“ tatsächlich anhand hochkomplexer statistischer Operationen generiert. Allerdings wird sich bei Geisteswissenschaftler:innen, die mit dem schillernden Thema Religion befasst sind, bald auch Skepsis regen.

Für den Fragebogen wurden in einem komplizierten Abstimmungsprozess mannigfache Items zur Erhebung der Religiosität der Befragten formuliert. Nach der Umfrage wurden die Antworten in Zahlenreihen übersetzt und in einer Faktorenanalyse Korrelationen zwischen den Items berechnet. Aus der Korrelationsmatrix wurden dann die zwei signifikantesten Faktoren ausgewählt, mit zwei religiösen Grundrichtungen (kirchennahe und kirchenferne Religiosität) identifiziert und zu zwei Summenindices ausgeweitet. Anhand dieser Indices wurde ein Koordinatensystem von religiösen Einstellungen konstruiert, um darin schließlich mittels einer mehrstufigen Clusteranalyse Typen von Religiosität beziehungsweise A-Religiosität zu bestimmen.

Nach einigen Stunden des Brütens über einem Statistiklehrbuch und über den dort präsentierten Rechenformeln fragt man sich: Wer kann wirklich nachvollziehen, was im Zuge dieser Analyseschritte von dem avisierten Gegenstand, den Anschauungen und Haltungen der Deutschen hinsichtlich der letzten Fragen von Welt und Leben, in den Blick gekommen, was dabei außen vor geblieben und was womöglich in deformierter Gestalt erschienen ist?

Bei der Erhebung handelt es sich um eine nahezu unentwirrbare Komplexion von Mess-, Rechen- und Deutungsoperationen, bei der viele teils bewusste, teils wohl auch unbewusste Entscheidungen fallen, die das Endergebnis beeinflussen. Aber um die Resultate zu überprüfen, müsste man durchweg verstehen, welchen optischen „Brechungen“ der Beobachtungsgegenstand Religiosität im Gesamtprozess vom Entwurf des Fragebogens bis zur summarischen Interpretation der Befunde ausgesetzt wurde. Dazu aber müsste man – vorausgesetzt, dass Religion ein Phänomen des menschlichen Geistes und seiner Ausdrucksformen darstellt – in hohem Maße sozialwissenschaftliche Analyse- und geisteswissenschaftliche Deutungskompetenz in sich vereinigen.

Dem sozialwissenschaftlichen Dilettanten bleibt also wenig übrig, als darauf zu vertrauen, dass die KMU die (a-)religiösen Einstellungen der Befragten mittels ihrer statistischen Instrumente einigermaßen verzerrungsarm ins Auge zu fassen vermochte. Oder erkenntnistheoretisch angemessener formuliert: dass sie ihren Gegenstand im Zusammenspiel von empirischen Methoden und theoretischen Grundannahmen plausibel konstruiert hat.

Verbreitete Indifferenz

Beim Weiterlesen in der KMU-Broschüre wird dieses Vertrauen indessen auf eine harte Probe gestellt. Denn dort stößt man auf eine Reihe von Ungereimtheiten, die Zweifel wecken, ob die Untersuchung von einem ausreichenden Bewusstsein für die besonderen Schwierigkeiten der empirischen Messung von Religiosität getragen war.

Zunächst fällt eine Unsicherheit im Umgang mit dem Begriff „Religion“ ins Auge, der in mehreren Items des Fragebogens vorkommt. Erstaunlich wenige der Befragten etwa schätzen sich selbst ausdrücklich als „religiös“ ein, ziemlich viele hingegen als „nicht religiös“. Auch gibt es hohe Zustimmungsraten bei skeptischen bis ablehnenden Aussagen über Religion(en) und eine verbreitete Indifferenz gegenüber „religiösen Fragen“. Naheliegenderweise werden die Zahlen von den KMU-Autor:innen als Indiz für den Rückgang religiöser und für die Zunahme säkularer Orientierungen gedeutet.

Ein anderer Befund jedoch unterläuft diese Interpretation. Wie in der Auswertung notiert, lässt sich aus bestimmten Korrelationen schließen, dass offenbar viele der Teilnehmenden „Religion“ stark mit „Kirche“ assoziieren. „Religion“ ist für sie kein umfassender Allgemeinbegriff, sondern steht für den Typus „kirchliche Religion“. Damit ist aber die allgemeine religionsdiagnostische Relevanz der fraglichen Items dahin. Valide sind sie als Indiz nicht für Areligiosität, sondern für Kirchendistanz. Damit verliert einer der Indikatoren für die gewachsene Säkularität den betreffenden Aussagewert.

Des Weiteren wird der allgemeine Schwund der Religiosität am Rückgang religiöser Praxis festgemacht. Abgefragt wurden: Gebet, Bibellektüre, Meditation, religiöses Fasten, Pilgern und die Teilnahme an religiösen Großveranstaltungen. Im Ergebnis „gehen etwa 15-20 Prozent der Bevölkerung einer regelmäßigen religiösen Praxis nach“. Allein das „gelegentliche ‚Anzünden einer Kerze aus religiösen Gründen‘ fällt mit 34 Prozent Zustimmung höher aus“.

An dem letztgenannten Item, das eine Gestalt einer unbestimmten und unscheinbaren Religiosität in den Blick nimmt, tritt zutage, wie eng das Feld religiöser Praxis in der KMU ansonsten gefasst wird. Es sind überwiegend typisch kirchliche Praktiken, aus denen eine allgemeine Quote religiöser Praxis errechnet wird. Der Umgang mit Engelsfiguren und Amuletten, das touristische Verweilen in Kirchen, der ganze Bereich von Kirchenmusik und anderen Formen religiös konnotierter Musikpraxis, das Advents- und Weihnachtsbrauchtum – all diese Vollzüge können mindestens als religionsaffin gelten, weil sie entsprechende religiöse Assoziationen mit sich führen. Dazu kommt das große Terrain esoterischer Praktiken, das weitgehend unberücksichtigt bleibt: Tarot, Hexenrituale, Räucherzeremonien, Heilsteine, neopagane Naturkulte (Sonnwendfeiern, Rauhnachtrituale et cetera), spirituelle Coaching- und Satsang-Treffen und vieles mehr. Wo so selektiv gemessen wird, darf man sich über kleine Zahlen nicht wundern.

Eine ähnliche Tendenz zur Verengung der Optik ist bei der Erhebung religiöser Erfahrung zu beobachten. Selbige wird in der KMU als „Spüren“ der „Gegenwart“ oder „Wirksamkeit“ Gottes, „spiritueller Kräfte“, „heiliger“ oder „dunkler“ „Mächte“ abgefragt. Wen sollte es wundern, dass sich nur Minderheiten solche Erfahrungen zuschreiben? Wer von den Leser:innen dieser Zeilen würde es tun? Die Bestimmungen heben auf ein quasi leibliches Erleben („Spüren“) manifester Wirkungen von übernatürlichen Kräften oder Mächten ab. Religiöse Erfahrung wird damit als geradezu archaisches Ausnahmeerlebnis gefasst – mit dem wenig überraschenden Resultat, dass sie unter modernen Bedingungen kaum noch vorkommt.

Sie ließe sich auch weniger handgreiflich beschreiben. Beispielsweise hegen Menschen beim Anblick von Landschaften, beim Hören von Musik oder beim Betrachten von Gemälden Gefühle von Dankbarkeit oder Trost, von Ehrfurcht, Erhabenheit oder Heiligkeit, und manche würden solche seelischen Tiefen­erlebnisse sogar als religiös oder spirituell qualifizieren. Aber „das Gefühl, eine heilige Macht zu spüren“? Das klingt für viele nach Schwärmerei oder Okkultismus.

Neben der religiösen Selbstpositionierung, Praxis und Erfahrung stehen schließlich Überzeugungen im Zentrum der Religionsdiagnose. Besondere Bedeutung kommt dabei der Aussage zu: „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.“ Einzig anhand dieses Items wird eine spezifisch christliche Glaubensüberzeugung gemessen. Die Abschmelzung der Zustimmung auf 19 Prozent wird als Indiz für eine Krise des „tradierten christlichen Gottesglaubens“ eingestuft, welche wiederum als eine zentrale Ursache der derzeitigen Kirchenkrise gewertet wird.

Nun ist jener Gottesglaube tatsächlich spätestens seit dem Jahre 1800 in einer Dauerkrise. Nur die (ihrerseits krisengetriebene) Renaissance konservativer Kirchlichkeit in den 1950er-Jahren täuscht immer noch viele über diesen Sachverhalt hinweg. Die gesunkene Zustimmung zum fraglichen Item zeigt an, dass sich inzwischen die kritische Reserve gegenüber dem tradierten christlichen Theismus sehr weit ausgebreitet hat. Daher sieht sich nur noch ein Drittel der Kirchenmitglieder imstande, sich eine (noch dazu hoch abstrakte) Reformulierung christlicher Offenbarungstheologie umstandslos zu eigen zu machen.

Hand in Hand

Es ist eine der Schlüsselfragen der KMU-Interpretation, ob die darin zum Ausdruck kommende Distanz zum traditionellen Christentum tatsächlich mit einer Lösung der Kirchenverbundenheit „Hand in Hand geht“, wie es in der Broschüre heißt. Bestimmte Korrelationen mit anderen Items scheinen dies nahezulegen. Ob eine solche Ablösung stattfindet, hängt aber wohl wesentlich davon ab, wie sehr es der kirchlichen Kommunikation gelingt, auch diese traditionsdistanzierten Menschen christlich-religiös anzusprechen.

Konzeptionen einer dafür geeigneten Theologie liegen vor. Theologen wie Friedrich Schleiermacher oder Paul Tillich waren etwa der Ansicht, dass ein Schwanken im Gottesbewusstsein für die christliche Religiosität unter modernen Bedingungen unumgänglich sei. Ein derartiges Christentum zeichnet sich dadurch aus, dass darin in bestimmten religiösen Akten eine „momentane“ theistische Vorstellung aufgerufen wird, etwa im Augenblick des Gebets oder beim Singen eines Chorals, ohne dass sich das religiöse Subjekt zu einer entsprechenden Existenzaussage durchringen könnte, weil es auf der Ebene der Vernunft um den Anthropomorphismus und mithin um die Inadäquatheit jener Gottesvorstellung weiß.

Eine solch schwankende und allem Konfessorischen gegenüber zögerliche Frömmigkeit ist unter Kirchenmitgliedern heute offenkundig ganz normal. Weil sie die traditionellen Bekenntnissätze nicht ungebrochen bejahen können, dürften die Betreffenden in der KMU allenfalls unter den „Distanziert-Kirchlichen“ rangieren. Man kann nur hoffen, dass diese Verortung am Rande nicht selbst ihre Loslösung von der Kirche vorantreibt.

Es ist damit ein Grundproblem angesprochen, das der quantitativ-empirischen Religionsforschung von Hause aus anhaftet: Sie kann nur die (Nicht-)Zustimmung zu vorformulierten Aussagen erheben. Darin liegt aber eine Tendenz zur Überfixierung des Religiösen. Gemessen wird entsprechend Messbares, nämlich klar definierte Überzeugungen, Erfahrungen, Praktiken und Selbsteinschätzungen. Die Methode hat demnach unweigerlich eine Affinität zu einer bestimmten, bekenntnishaften Auffassung von Religion. Andere Auffassungen, die das Gefühlshaft-Vage, Fluide und Schwankende religiöser Zustände oder auch die Amalgamierung der Religiosität mit anderen Kulturphänomenen (vor allem Ethos und Kunst) stärker mitberücksichtigen, werden ausgeschlossen. Auch darin liegt eine – besonders grundlegende – Perspektivverengung, die in der KMU-Auswertung zumindest reflektiert werden müsste.

Wer solche kritischen Einwände vorbringt, dem wird reflexhaft vorgeworfen, er verweigere sich aus „opportunistischen“ Gründen der „schonungslosen“ Anerkennung der empirischen Wirklichkeit. Darum sei zum Schluss herausgestrichen: Die hier vorgetragene Kritik stellt keineswegs rundweg den Befund eines fortschreitenden Schwundes an Religiosität infrage und erst recht nicht den Befund einer weit fortgeschrittenen Entkirchlichung in Deutschland. Es scheint nur manches für die bereits von Reiner Anselm, Kristin Merle und Uta Pohl-Patalong geäußerte Ansicht zu sprechen, dass das Bild der KMU von der  „religiösen Großwetterlage“ in mancher Hinsicht überzeichnet ist, weil ihr Instrumentarium gewisse Dimensionen und Erscheinungsformen von Religion ausblendet. Für die KMU-Debatte folgt daraus, dass sie einen sachlichen und nachdenklichen Dialog über die Möglichkeiten und Grenzen quantitativer Religionserhebungen unbedingt miteinschließen sollte. 

 

Einen ausführlicheren Artikel des Autors zum Thema finden Sie in der aktuellen Zeitschrift für Religion und Weltanschauung, dem Materialdienst der EZW aus dem Nomos-Verlag. 

Bis 31. März kann der Beitrag „Triumph der Säkularisierung – Skeptische Rückfragen an die Erstauswertung der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU VI)“ hier kostenfrei abgerufen werden.

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Martin Fritz

Dr. Martin Fritz ist Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und Privatdozent für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.


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