„Wir haben kein Wächteramt“

Gespräch mit dem EKD-Beauftragten für die Evangelische Seelsorge in der Bundespolizei Karl-Hinrich Manzke über Abschiebungen, Rettungsschiffe und die Rolle der Kirchen in der Flüchtlingspolitik
Einsatz der Bundespolizei bei der Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers am Flughafen Halle/Leipzig.
Foto: picture-alliance
Einsatz der Bundespolizei bei der Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers am Flughafen Halle/Leipzig.

zeitzeichen: Landesbischof Manzke, Sie waren bis Ende Februar nicht nur Landesbischof, sondern waren und sind auch weiterhin EKD-Beauftragter für die Evangelische Seelsorge in der Bundespolizei. Wie geht es den Polizisten? Gibt es wiederkehrende Sorgen und Probleme, von denen Sie bei Ihrer Arbeit hören?

KARL-HINRICH MANZKE: Die aktuellen Themen sind zum einen der professionelle Umgang mit zunehmender Respektlosigkeit und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft gegenüber der Polizei. Zum zweiten ist die Bundespolizei bei Großeinsätzen, etwa bei Fußballspielen oder anderen Ereignissen, besonders gefordert. Drittens stellt die zunehmende Terrorgefährdung die Bundespolizei vor große Aufgaben. Und viertens ist die Aufgabenstellung an der Grenze zu nennen. Sie besteht darin, die Migration zu steuern.

Die Bundespolizei ist auch für die Abschiebung von abgelehnten und nicht geduldeten Asylbewerbern und Flüchtlingen zuständig. Inwiefern betrifft das die Polizeiseelsorge?

KARL-HINRICH MANZKE: Die Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelischen Seelsorge im Bundesgrenzschutz, jetzt der Bundespolizei, stehen den Polizistinnen und Polizisten ja nicht nur als Seelsorger zu Seite, sondern wirken auch im ethischen Unterricht. Dort gilt es, sinnvolle und tragfähige Unterscheidungen zu entfalten. So zum Beispiel die Unterscheidung zwischen der Zuwanderung, die perspektivisch Aussichten auf langfristiges Bleiberecht gibt, und derjenigen Zuwanderung, die diese Perspektive nicht in sich trägt. Diese Unterscheidung, wenn sie gesellschaftlich im Diskurs akzeptiert wird, hilft dabei, die Notwendigkeit von Rückführungen anzuerkennen. Sie sind auch deshalb notwendig, um die Zustimmung zum unbedingten Schutz von politisch Verfolgten in unserer Gesellschaft stabil und unangefochten zu halten. Ebenfalls ist es wichtig, die begrenzten Kapazitäten für die Aufnahme von Geflüchteten in einem so hilfsbereiten Land wie Deutschland im Blick zu behalten.

Die Seelsorgeteams verstehen sich aber in den konkreten Abschiebesituationen als Anwälte der Polizisten, oder?

KARL-HINRICH MANZKE: Ja, wir stehen in dieser Aufgabe fest an der Seite der Frauen und Männer in der Bundespolizei. Jede Polizistin, jeder Polizist weiß zu unterscheiden zwischen der eigenen Überzeugung und den Berufspflichten; das gilt auch in gesellschaftlich sehr strittigen Fragen. Sie wissen und verlassen sich darauf, dass sie in einem Rechtsstaat Entscheidungen umzusetzen haben, die nach demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen getroffen worden sind. Polizistinnen und Polizisten können auch mit heftigen Spannungen, zum Beispiel zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der Spannung zwischen dem Recht auf Schutz eines Geflüchteten und der Grenzsicherung umgehen. Das haben sie gelernt, das wird auch stetig vergewissert. Ich bin schwer beeindruckt, wie professionell und sorgfältig die Deutsche Bundespolizei mit schwierigsten Aufgabenstellungen umgeht und mit großer Intensität ihre Angehörigen schult und begleitet. Dazu einen Beitrag zu leisten, ehrt meine Kirche.

Was genau ist die Aufgabe der Seelsorgeteams in so einer Situation?

KARL-HINRICH MANZKE: Was die Rückführungen derjenigen Personen betrifft, deren Antrag auf Asyl und Bleiberecht durch Gerichtsspruch negativ beschieden ist, gilt erst einmal: Nicht bei jeder Rückführung ist ein Seelsorger oder eine Seel­sorgerin dabei. Aber zugleich gilt auch: Wenn einer der Seelsorger dabei sein will, steht dem nichts im Wege. Die Bundespolizei arbeitet da völlig transparent. Die Rückführungen, das kann ich aus eigener Anschauung sagen, werden sorgfältig vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet. Es gibt zudem ein so genanntes Monitoring, also eine Begleitung durch Organisationen, die sich insbesondere der Unterstützung und dem Schutz von Asyl- und Menschenrechten verschrieben haben, wie zum Beispiel Amnesty International oder Human Rights Watch. Die Vertreter der Menschenrechtsorganisationen haben mir ohne Ausnahme geschildert, dass nach ihren Erfahrungen kein anderes Land so respektvoll Rückführungen durchführt wie Deutschland.

Die Frontex-Einsätze sind in der öffentlichen Debatte sehr umstritten, auch in kirchlichen Kreisen. Ein Schiff, das Flüchtlinge aus dem Meer rettet, hat hingegen zunächst einmal eine recht große Akzeptanz innerhalb der Kirche. Ist das also nicht gerechtfertigt?

KARL-HINRICH MANZKE: Jeder Mensch guten Willens, der ein Herz für hilfsbedürftige Menschen hat, hält es für ein Armutszeugnis für ein ziviles und freies Europa, dass Schutzsuchende im Mittelmeer ertrinken. Das gilt auch für jeden Polizisten. Es ist ebenfalls ein Skandal, wie viele Organisationen ihr fieses Geschäft mit der Not von Menschen machen und sie auf seeuntauglichen Fahrzeugen viel zu oft ins Verderben schicken. Dass Europa dabei weitgehend hilf- und tatenlos zuschaut, ist ebenfalls nicht akzeptabel. Insofern ist es herzlos, wenn die Europäische Union den Eindruck vermittelt, als könne sie jeden Flüchtenden dieser Welt beherbergen. Deswegen ist es von existenzieller Bedeutung, dass die EU endlich eine tragfähige politische Lösung in der Flüchtlingspolitik findet. Es mag Anzeichen dafür geben, dass die Staaten der Europäischen Union jetzt auf dem Wege sind, Lösungen dafür zu finden, dass denen, die kaum eine Perspektive auf politische Duldung oder Asyl haben, außerhalb von Europa ein faires Verfahren in Fragen politischen Asyls angeboten wird. 

Was erwarten Sie also von Ihrer Kirche?

KARL-HINRICH MANZKE: Wir, die Evangelische Kirche in Deutschland, treten für einen humanen Umgang mit allen Flüchtlingen ein. Und wir sehen darin eine unbedingte Verantwortung – auch aus biblischen Quellen heraus. Jeder Schutzbedürftige soll Schutz erhalten. Zugleich entsenden wir Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Polizistinnen und Polizisten bei ihrer Grenzschutzaufgabe unterstützen. Das steht auf den ersten Blick in Spannung zueinander. Aber diese Spannung sollten und können die Kirchen aushalten. Insofern sind beide großen Kirchen gefordert, auch für die Debattenkultur in unserem Land einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die Forderung, dass das Sterben im Mittelmeer beendet werden muss, hat nur dann wirklich Kraft, wenn sie zugleich verbunden wird mit der Aussage, dass es politische Lösungen braucht, um die ungeregelte Zuwanderung zu stoppen. Das eine sollte nicht ohne das andere gesagt werden – sonst wäre es unterkomplex. Das sollten die Debattenbeiträge aus der Evangelischen Kirche unbedingt erkennen lassen.

War es denn dann vor diesem Hintergrund richtig, dass die EKD sich an einem Rettungsschiff beteiligt hat? Oder war das für Sie auch eine Symbolhandlung?

KARL-HINRICH MANZKE: Auf diese Frage kann ich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein antworten. Dazu fehlt mir das gute Gewissen. Es ist eine für mich bislang nicht plausibel beantwortete Frage, ob die Ausweitung der organisierten Seenotrettung nicht die Aktivitäten der fiesen Schlepperorganisationen erhöht. Dass Menschlichkeit und Seenotrettung von anderen aus kaltem wirtschaftlichen Kalkül ausgenutzt und damit pervertiert wird, ist möglich, weil Europa bislang keine Regelung gefunden hat, die zugleich den Schutz der politisch Verfolgten mit der tragfähigen Sicherung der Grenzen und Ordnung der Zuwanderung verbindet. Es ist unverantwortlich, dass unsere freien Gesellschaften in Europa das nicht hinbekommen. Ich bleibe dabei: Wir, die EKD, haben eine hohe Verantwortung für den politischen Diskurs und seine Ehrlichkeit gerade in dieser Frage, weil wir in mehreren Bereichen tätig sind. Zu einfache Antworten auf schwierige Fragen sollten wir uns nicht erlauben.

Der Druck auf die Bundesregierung, Migration zu begrenzen, ist groß. Von Januar bis Ende Oktober 2023 wurden rund 267 000 Asylerstanträge gestellt – 67,5 Prozent mehr als im Vorjahres­zeitraum. Schnellere Abschiebungen sollen die Lage entspannen. Doch an dem entsprechenden Gesetzentwurf gibt es scharfe Kritik. Wie beurteilen Sie ihn?

KARL-HINRICH MANZKE: Über Rückführungen wird man die hohe Zuwanderung in die Länder Europas und insbesondere nach Deutschland nicht regeln können. Davon bin ich überzeugt. Das verdeutlichen die Zahlen. Nach den Angaben des BMI sind 2023 16 430 Menschen zurückgeführt worden in ihre Heimatländer. Die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen (ohne Duldung) betrug 48 670. Man erwartet durch die neuen Regelungen eine Erhöhung der Rückführungen um 600 pro Jahr. Das zeigt: Rückführungen für sich ersetzen nicht eine umfassende politische Lösung. Die Erkenntnis, dass Europa tragfähige Lösungen braucht, um die Unterscheidung zwischen Zuwanderung mit der Perspektive auf Bleiberecht und der mangelnden Perspektive auf Bleiberecht in humanen Lösungen umzusetzen, ist meines Erachtens viel wichtiger. Alles unter der überaus wichtigen Zielsetzung, das Asylrecht zu stützen und zu stärken.

Die EU hat sich nun auf eine Verschärfung des Asylrechtes geeinigt. Unter anderem sollen beschleunigte Asylverfahren direkt an Außengrenzen der Union stattfinden. Ist das der richtige Weg?

KARL-HINRICH MANZKE: Ich finde das bedenkenswert und sinnvoll. Bevor unsere Gesellschaften auseinanderfallen, weil sie diese Debatte nicht mehr aushalten, muss Europa Regelungen gefunden haben. Aber es ist erkennbar schwer für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, mit den Anrainerstaaten am Mittelmeer Regelungen zu finden. Insofern verlangt eine politische Lösung für Europa neben dem Frontex-Einsatz auch Regelungen mit den nordafrikanischen Staaten, so wie mit der Türkei. Ich sehe, wie kompliziert das ist. Da muss man Geld in die Hand nehmen und ein System mitfinanzieren, in dem Asylverfahren auch außerhalb von Europa fair und respektvoll geklärt werden. Das geht aber nur mit Zustimmung der Länder. 

Wie ist Ihre Position zum Kirchenasyl? Welche Rolle kann das spielen? 

KARL-HINRICH MANZKE: Kirchenasyl ist kein rechtsfreier Raum. Aber es kann ein Ort sein und ein Zeitraum, in dem Sachverhalte überprüft werden, die, als die Entscheidung zur Rückführung gefallen ist, noch nicht im Blick sein konnten. Das kann zum Beispiel eine besondere Familiensituation sein oder eine sich verändernde politische Situation, wie etwa im Iran. Das Kirchen­asyl wird dann beendet, wenn jemand sein Bleiberecht bekommt, aber auch, wenn die Prüfung zu einem anderen stichhaltigen Ergebnis gekommen ist. Wir sind ein Rechtsstaat, das sollte man sich in der evangelischen Kirche immer deutlich machen. Wir haben kein Wächteramt. Das ist nicht unsere Aufgabe, das wäre übergriffig. Weil wir in einem demokratischen Verfassungsstaat leben, in dem das Recht sehr hoch gehalten wird.

 

Das Gespräch führten Kathrin Jütte  und Stephan Kosch am 18. Dezember 2023 in Bückeburg.

 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Kathrin Jütte

Karl-Hinrich Manzke

Dr. Karl-Hinrich Manzke, Jahrgang 1958, war bis Ende Februar 2024 Landesbischof der Evangelisch- Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe, ein Amt, das er 2009 übernommen hatte.
 

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"