Der Theologe Frank Richter war von 2009 bis 2016 Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung in Dresden und organisierte damals geschützte Formate des Dialoges zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Heute ist er Abgeordneter für die SPD im sächsischen Landtag und reflektiert seine Erfahrungen mit gesellschaftlichen Konfliktlinien und den Möglichkeiten der Versöhnung.
Die deutsche Sprache ist reich an schönen Worten. Versöhnung ist ein sehr schönes Wort. Wenn man die real existierende politische Situation in Deutschland, in Europa und in der Welt in den Blick nimmt, ist man versucht zu sagen: Das Wort Versöhnung ist zu schön, um wahr zu sein. Dieser Versuchung sollte man widerstehen. Die Worte und Bilder, die unser Denken, Fühlen und Handeln und unseren Blick auf die Wirklichkeit bestimmen, können gar nicht schön genug sein. Versöhnung ist ein Ideal des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, das wir nicht aufgeben sollten. Insofern wir gläubige Menschen sind, halten wir es fest, weil uns die von Gott gegebene Verheißung für die Zeit nach dem Ende der Zeiten dazu verpflichtet.
Wenn ich der Frage nachgehe, wo sich das Festhalten am Ideal der Versöhnung und an der göttlichen Verheißung in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatte spiegelt, springt mir der Begriff „Dialog“ ins Auge. „Wir müssen wieder mehr miteinander reden.“ – die Inflationsrate dieses Satzes übertrifft die der steigenden Lebenshaltungskosten. Abgesehen von der Frage, ob dieses „Miteinander-Reden“ ausreicht, den geisteswissenschaftlich hoch aufgeladenen Begriff „Dialog“ abzubilden, kann festgestellt werden: Reden und Dialogisieren werden als Lebens- und Überlebensmittel in einer aggressiven und kriegerischen Welt identifiziert. Dies gilt für die Beziehungen zwischen den Völkern gleichermaßen wie für die Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb der staatlich gefassten Gesellschaft. Diese entfernen sich hinsichtlich ihrer Lebenslagen, Interessen und politischen Überzeugungen immer weiter voneinander.
„Solange wir verhandeln, wird nicht geschossen“, heißt es beziehungsweise hieß es über lange Zeit. Inzwischen hat sich dieser Spruch als unwirksam erwiesen. Inzwischen herrschen wieder Kriege in Europa und im Nahen Osten. Analysten der politischen Lage befürchten, dass sie sich zeitlich und räumlich ausweiten. Verhandlungen werden entweder verweigert oder könnten, so postulieren die sich im Krieg befindlichen Parteien, erst dann beginnen, wenn die eigenen Forderungen von der jeweils anderen Seite akzeptiert oder erfüllt werden. Die staatlichen Ausgaben für das Militär und die Anschaffung von Waffensystemen steigen weltweit an. Die Vereinten Nationen – nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges als Nachfolgerin des Völkerbundes mit dem vorrangigen Ziel gegründet, Kriege zu verhindern – erweisen sich in dieser Angelegenheit als zahnloser Tiger. Die Vermutung, dass die Kriege nicht aus Gründen eines von der Vernunft erkannten Interessensausgleichs oder wegen des Ideals der Versöhnung zum Ende kommen, sondern infolge beiderseitiger Erschöpfung, drängt sich auf.
Die Gesellschaft innerhalb Deutschlands, zu der ich nicht allein die Menschen mit bundesrepublikanischem Pass, sondern auch die vielen Ausländer und die geflüchteten Menschen mit den unterschiedlichen Aufenthaltstiteln zähle, sehe ich als eine refeudalisierte, sinnentleerte und partiell idiotische Gesellschaft.
In Deutschland leben immer mehr Menschen, die über ein so großes Privatvermögen verfügen, dass sie auf nahezu alle Leistungen verzichten können, welche der Staat als Verwalter des Gemeinwohls unterschiedslos allen zur Verfügung stellt. Zugleich gibt es immer mehr arme Menschen – vor allem arme Kinder –, die ihr Leben weit unterhalb jenes Einkommensstandards gestalten müssen, der hierzulande als Armut gilt. Die Vermögensunterschiede zwischen den Reichen und den Armen in unserem Land dürften keineswegs kleiner sein als die Unterschiede zwischen den Reichen und den Armen im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Wahrscheinlich sind sie größer. Der Vollständigkeit wegen sei hinzugefügt, dass der Adel des Blutes heutzutage und hierzulande kein großes Problem darstellt. Dies tut der Vermögensadel.
Nachdem sich spätestens 1989 die Sinnerzählung vom unaufhaltsamen Aufstieg zu den „lichten Höhen des Sozialismus“ (und darauffolgend zum Kommunismus als einer klassenlosen Gesellschaft) als hohl erwiesen hat, nachdem auch der westliche, ökonomistisch und materialistisch geprägte Mythos vom „Wohlstand für alle durch Wachstum für immer“ als haltlos erkannt worden ist und nachdem sich die durch wechselseitige Feindschaft begründete und stabilisierende Bipolarität auf der nördlichen Halbkugel aufgelöst hat, fehlen allerorts Narrative und Visionen, von denen eine verbindende oder gar versöhnende Wirkung ausgehen könnte. Die liberale Gesellschaft ist sinnlos, und der Staat hält sich zurück, wenn es um eine allgemeine Sinnstiftung geht. Er steht ein für die Ermöglichung der freien Selbstverwirklichung der Einzelnen. Das Gemeinwohl wird von großen Teilen der Gesellschaft nicht als ein von Allen anzustrebender Wert, als verbindendes und verbindliches Ziel verstanden, sondern als Ergebnis des Kampfes der sich in Konkurrenz zueinander befindlichen Einzelnen beziehungsweise deren Interessenvertretern und Anwälten.
Häufig sinnlos und kontraproduktiv
Private und öffentliche Gespräche leiden darunter, dass es den Beteiligten an der Bereitschaft oder der Fähigkeit (oder an beidem) mangelt, den Anderen zuzuhören und sie zu verstehen. Wenn das wahrhaftige – also nicht bloß behauptete oder simulierte – Interesse an Empathie und Perspektivwechsel und an einer sich daraus ergebenden neuen Erkenntnis fehlt, sind Gespräche im Prinzip sinnlos und kontraproduktiv. Dann sind sie inszenierte Idiotie. Man sollte sie lassen. So wie ich mich bereits vor Jahren entschlossen habe, mir Talkshows im Fernsehen nicht mehr anzutun – sie haben mir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Erkenntnisgewinn gebracht, sondern mein limbisches System überfordert –, so begebe ich mich nur ungern in die Räume bestimmter digitaler Netzwerke. Nicht immer, aber allzu oft, stoße ich in ihnen ausschließlich auf Selbstdarstellung und Besserwisserei. Ich suche und genieße hingegen persönliche Begegnungen, in denen mir leibhaftige Menschen gegenübersitzen. Ich versuche die Zeiträume so einzurichten, dass sich Gedanken, Fragen und Gefühle entfalten und Einvernehmen entstehen kann. Gesagt ist noch nicht gehört. Gehört ist noch nicht verstanden. Verstanden ist noch nicht einverstanden. Einverstanden ist noch nicht überzeugt. Überzeugt ist noch nicht getan … Nun ja, man muss und darf es nicht immer auf die Spitze treiben. Aber Gespräche und Dialoge so zu organisieren, dass Gemeinsamkeit, ein neues Drittes, ein den Einzelnen Transzendierendes entstehen kann, das sollte man. Wahrheit ist nicht ein Satz, der in einem Buch aufgeschrieben wurde. Wahrheit ist ein Momentum, in dem sich Menschen so nahekommen, dass sie sich verstehen. Wahrheit ist ein Ereignis, ein Augenblick, zu dem man sagen möchte, verweile doch, du bist so schön, den man zwar nicht festhalten kann und der dennoch nicht vergessen wird. Wahrheit wird erfahren im gegenseitigen Verstehen, in der Verschmelzung geistiger Horizonte.
Auch das Jesus-Wort „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,19 f.) ist meines Erachtens viel mehr als der schlichte Hinweis auf den Wert christlicher Gemeinschaft. Es deutet an, dass sich bestimmte Erkenntnisse nur in einem von Vertrautheit und Nähe geprägten Raum entwickeln können. Je größer eine Versammlung ist, desto stärker neigen ihre Teilnehmer dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam darzustellen. Diese Neigung steigt exponentiell, wenn sie diese medial vermitteln können. Je kleiner und vertrauter eine Versammlung ist, desto leichter fällt es, das Eigene einmal loszulassen und sich gedanklich in unbekanntes Land zu begeben.
Was bedeutet diese Wahrnehmung für die Suche nach Spuren der Versöhnung? Eine Antwort auf diese Frage hinsichtlich der von Kriegen und Menschenrechtsverletzungen schrecklichster Art geprägten Weltlage auch nur zu versuchen, wäre vermessen. Wer kann sagen, wohin das alles führt? Wer kann die Folgen der Tatsache abschätzen, dass immer mehr Staaten über Atomwaffen verfügen oder an der Herstellung derselben arbeiten, oder die Folgen der Tatsache prognostizieren, dass infolge der Kriege, der Unterdrückung, der Klimaerwärmung und des globalen Reichtum-Armuts-Gefälles immer mehr Menschen – millionenfach – ihre angestammte Heimat verlassen und sich auf die Flucht begeben? Von einer Weltgemeinschaft, die den Namen verdient, von wirksamer Weltinnenpolitik und durchsetzungsfähigen Vereinten Nationen kann keine Rede sein. Die diabolischen Kräfte, welche die vorhandenen Ordnungssysteme zu zerstören suchen, befinden sich auf dem Vormarsch.
Nicht herunterziehen lassen!
Auch eine Antwort hinsichtlich der in der Bundesrepublik zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft zu geben, fällt schwer. „Wenn Du nicht genau weißt, was Du machen sollst, dann besinne Dich auf das, was Du nicht machen darfst.“ Dieser Ausspruch meiner geliebten Oma, einer tiefgläubigen Frau, die aufgrund von Armut, Krieg und Flucht nur wenige Jahre zur Schule gehen konnte und sich dessen ungeachtet durch präzise Menschenkenntnis und seelische Resilienz auszeichnete, hilft mir weiter. Du darfst Dich nicht herunterziehen lassen. Du darfst Deine Standards im ehrlichen, freundlichen und verbindlichen Umgang mit anderen Menschen nicht aufgeben. Du darfst Schwache und Fremde nicht abweisen, wenn sie Deine Hilfe brauchen und Du ihnen helfen kannst. Du darfst Deine Seele nicht verkaufen. Du darfst Dich Lügnern und Mächtigen nicht anbiedern. … Ich könnte die Aufzählung dieser „Brandmauern“ um viele weitere Sätze verlängern. Die Reflexion der Einhaltung dieser Empfehlungen führt zu einer hilfreichen Erkenntnis. Erst dann, wenn ich ein eindeutiges Nein zu bestimmten Versuchungen (und Versuchern) gesprochen habe, entsteht der gedankliche und emotionale Freiraum für ein eindeutiges Ja.
Zu wissen, was man nicht machen darf, ist nicht wenig. Gleich, ob Bürgergeld, Mindestlohn, Kultur-Pass, Deutschlandticket oder kostenloses Schulessen auch ungewünschte Nebenwirkungen produzieren – diese sozialstaatlichen Maßnahmen sind geeignet, den Schwachen und Schwächsten eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Ich bin der Überzeugung, dass es zu den wichtigsten Aufgaben der politisch Verantwortlichen zählt, die Schere der Vermögensverhältnisse zu schließen und am Ideal der Verteilungsgerechtigkeit festzuhalten.
In der Reflexion auf die von mir zahlreich unternommenen Versuche, den gesellschaftlichen Diskurs, das öffentliche Gespräch und den Dialog selbst und vor allem in emotional aufgeheizten Situationen zu organisieren und zu gestalten, habe ich eine Erkenntnis festgehalten. Sie mag banal erscheinen. Mir ist sie wichtig. Ich kann nicht mit jedem Menschen bei jeder Gelegenheit über jedes x-beliebige Thema sprechen. Ich kann gleichwohl mit fast jedem Menschen bei der richtigen Gelegenheit über ein gemeinsam vereinbartes Thema sprechen.
Überzeugten Demokraten kann es nicht gefallen, wenn sich große Gruppen aus dem gesellschaftlichen Diskurs verabschieden und sich nur noch in kommunikativen Filterblasen aufhalten. Es kann ihnen nicht gefallen, weil das Ideal der Demokratie auf der Integration aller basiert. Wenn man davon ausgeht, dass fast alle Menschen im Prinzip willens und in der Lage sind, andere, auch gegenteilige Auffassungen anzuhören, wahrzunehmen und sie mit den eigenen Auffassungen zu konfrontieren – ich persönlich gehe aus Erfahrung davon aus –, dann besteht die Aufgabe nicht mehr darin, zu Diskurs und Dialog aufzurufen, denn an Appellen fehlt es nicht! Sondern sie besteht darin, die richtigen Gelegenheiten zu suchen, die wechselseitig als relevant anerkannten Fragen zu stellen und die geeigneten Instrumente für die Entwicklung kommunikativer Ereignisse zu entwickeln. Das Interesse am Diskurs muss aufrichtig sein. Simulierte, inszenierte und verlogene Gesprächsformate konterkarieren und desavouieren das Ziel und das Anliegen.
Weil die Gesellschaft aufgrund verschiedener krisenhafter Umstände, die nahezu alle ihre Mitglieder betreffen, emotional aufgeladen ist, sollte auf die qualifizierte Besetzung dessen, der dazwischensteht, also des Moderators oder Mediators, allergrößter Wert gelegt werden. Ein Moderator ist nicht deshalb gut, weil er behauptet, ein solcher zu sein oder als solcher unabhängig und allparteilich zu agieren. Die entscheidende Qualität eines solchen Menschen besteht darin, von allen am Diskurs beteiligten Parteien anerkannt zu sein. Technik und Methodik, professionelle Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung müssen diese entscheidende Qualifikation ergänzen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es ist, die Rolle des Moderators oder Mediators auszufüllen. Es ist schwer, weil man entschieden und konsequent – in der Rede und im Verhalten – auf die Äußerung der eigenen Position (die man selbstredend hat; Moderatoren sind keine Neutronen) verzichten muss. Die Beantwortung der Frage, ob es gelingen kann, Versöhnung zu stiften, mag ich unbeantwortet lassen. Aber ich habe erlebt und erfahren, dass gut moderierte Gespräche und Debatten dazu beitragen können, unversöhnlich erscheinende Positionen aufeinander zu beziehen und Momente der Verständigung zu erzeugen, die lange in Erinnerung bleiben.
Frank Richter
Frank Richter ist Theologe und Landtagsabgeordneter in Dresden.