Das Gewächshaus im Computer

Wie der Klimawandel die Landwirtschaft in Zukunft verändern wird
Versuchsfelder des Leibniz-Zentrums für Agrarlandforschung im brandenburgischen Müncheberg.
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Versuchsfelder des Leibniz-Zentrums für Agrarlandforschung im brandenburgischen Müncheberg.

Für den Weizen wird es schwierig, wenn es immer trockener in Deutschland wird. Aber könnte Soja die Alternative sein? Ein Forscher im brandenburgischen Müncheberg sucht die Antwort in virtuellen Pflanzenzüchtungen in seinem Computer. Der Umweltjournalist Nick Reimer hat ihn besucht.

Eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten ist die „Bauern-Praktik“. 1508 erstmals in Augsburg veröffentlicht, sollten mehr als 60 weitere Auflagen folgen. Schon im 16. Jahrhundert kamen die französische und englische Übersetzung auf den Markt, es gab tschechische, holländische, dänische, schwedische, finnische und viele weitere Ausgaben in anderen Sprachen. Um sich die „Praktiken der Bauern“ besser merken zu können, wurden die gesammelten Erfahrungen unzähliger Bauern-Generationen ab der Züricher Ausgabe 1517 in Reimform publiziert: „Wann der nebel im summer off zücht, Bedüt am tag oder am morgen fücht.“

Die Bauernregeln waren geboren: Feuchtigkeit ist schlecht für die Ernte, denn zu feucht eingefahrenes Getreide erwärmt sich, ein optimales Milieu für Pilze entsteht, das Korn droht zu verderben. An einem nebligen Sommermorgen sollte der Bauer deshalb seine Pläne besser ändern und die Sense stehen lassen. Solch Wissen wurde von Generation zu Generation als das weitergegeben, was heute unter dem Begriff „Best Practices“ zusammengefasst wird: Kenntnisse, die beispielsweise den Zeitpunkt der Aussaat, der Mahd oder der Weinlese bestimmen; Fachwissen, das hilft, ein bäuerliches Wirtschaftsjahr zu planen und die Wahrscheinlichkeit guter Erträge zu erhöhen.

Kein anderes Gewerbe ist so wichtig für das Überleben der Menschheit wie die Landwirtschaft, kein anderes aber auch so abhängig von den Launen der Natur. Deshalb gibt es auch keinen anderen Berufsstand, der die Klimaerhitzung bereits heute so stark spürt wie die Bauern. In den 1960er-Jahren wurden durchschnittlich 122 mal im Jahr Temperaturen von über 35 Grad an einer der gut 2 000 Messstellen des Deutschen Wetterdienstes gemessen, in den 2010er-Jahren registrierten die Messstationen bereits 2.488 mal Temperaturen oberhalb von 35 Grad – 20 mal mehr als in den 1960ern. Milde Winter, trockene Frühlingsmonate, die Erderhitzung setzt die Bauernregeln zunehmend außer Kraft. Die Europäische Umweltagentur stellte in einem Bericht aus dem Jahr 2019 fest: „Der Klimawandel hat den Agrarsektor in Europa bereits negativ beeinflusst und wird dies auch in Zukunft tun.“

Um diese Zukunft besser zu kennen, züchtet Claas Nendel virtuelle Pflanzen. „Mein Gewächshaus ist der Computer“, sagt der 50-jährige Professor für Landschaftssystemanalyse an der Universität Potsdam. „Atmung, Photosynthese, Entwicklung, Ertrag – alles funktioniert wie bei einem richtigen Gewächs.“ Nur, dass die Früchte dieser Arbeit nicht aus Getreidekörnern oder Kartoffeln bestehen, sondern aus mathematischen Formeln. Nendels Ziel ist, die virtuelle Pflanze in der Zukunft wachsen zu lassen, und zwar in einer Welt, in der die Menschheit keinen Klimaschutz betrieben hat – das sogenannte RCP-8.5-Szenario des Weltklimarates. Um das dann zu vergleichen, was mit der Pflanze passiert, wenn jetzt doch mit strengen Emissionsminderungen begonnen würde. „Zum Beispiel Soja“, sagt Claas Nendel. Gerade hat er ein Forschungsprojekt abgeschlossen, das die Anbaubedingungen dieser Hülsenfrucht in unseren Breiten untersucht. „Um acht Milliarden Menschen satt zu bekommen, müssen wir unsere Ernährung neu denken. Soja könnte dabei helfen!“ Die Bohnen des Schmetterlingsblütlers enthalten nämlich bis zu 37 Prozent Eiweiß. Und die Qualität des Sojaproteins ist mit der des tierischen Eiweißes vergleichbar. Nendel: „Der Vorteil ist: Mit dem Sojaanbau kommen wir direkt zu Proteinen, ohne den uneffizienten Umweg eines Tiermagens.“ Für die Viehhaltung sei sehr viel Fläche nötig, „Fläche, die wir nicht mehr haben.“ Außerdem heizt die Viehwirtschaft die Erderhitzung weiter an. Wiederkäuer wie Rinder, Schafe und Ziegen produzieren in ihren Mägen große Mengen Methan, ein 25-mal so klimaschädliches Gas wie Kohlendioxid.

Der Nachteil: Sojapflanzen wachsen in Mitteleuropa nicht sehr gut. Ein Grund dafür ist das gemäßigte Klima, die Sojabohne mag es sehr gern warm und trocken. Und Soja ist eine Kurztagpflanze. Also eine, die unter langen Sommertagen leidet.

Hirse könnte helfen

Claas Nendel sitzt im Haus 45 auf dem Wissenschaftscampus der Stadt Müncheberg im Osten Brandenburgs. 1928 wurde hier das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung“ gegründet, eine der ersten Wissenschaftseinrichtungen, die sich der Kulturpflanzenzucht widmete. Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen die Mitarbeiter mitsamt ihren Forschungsergebnissen vor den Kommunisten nach Vogelsang bei Köln, die DDR musste neu anfangen, gründete am Standort die „Zentralforschungsanstalt für Pflanzenzucht“. Heute beschäftigt das Leibniz-Zentrum 375 Wissenschaftler:innen.

Während Haus 1 wilhelminische Großzügigkeit ausstrahlt, atmet Nendels Büro in Haus 45 DDR-Pragmatik. Er hat Teile der Soja-Studie auf einen Bildschirm projiziert. „Die roten Punkte belegen: Mit der Klimaerwärmung wird Sojaanbau Mitte des Jahrhunderts auch in Deutschland angekommen sein.“ Der Wissenschaftler hat dafür mit seinem Team virtuelles Soja im dann vorherrschenden Klima angebaut, selbst in Norddeutschland gedieh die Saat. Neue Züchtungen würden zudem mit den kurzen Sommernächten besser zu Recht kommen. Traditionelle Nutzpflanzen werden dagegen mit steigender Klimaerhitzung Probleme bekommen. „Weizen zum Beispiel: Ist es bei seiner Blüte zu heiß, wird er steril“. Die zunehmend heißer werdenden Frühlingsmonate sorgen dafür, dass keine Körner mehr entstehen. „Oder die zunehmende Trockenheit: Wir wissen nicht genau, wie wir damit umgehen sollen.“

Hirse könnte helfen, Linsen auch. „Das spannende an diesen Kulturen ist: Sie hören einfach auf zu wachsen, wenn es zu trocken wird. Sie warten dann auf bessere Bedingungen“, erklärt Nendel. Gerste oder Roggen haben solche Eigenschaften nicht, „sie gehen bei anhaltender Trockenheit in die Notreife“. Bauern sprechen dann vom „Schmachtkorn“: kleine Körner mit wenig Inhalt. Linsen und Hirse sei eine Zeit ohne Nass dagegen egal, regnet es eines Tages wieder, würden solche Kulturen aus dem Wartezustand in den Wachstumszustand zurückwechseln. „Was fehlt, ist agronomisches Wissen“, sagt Claas Nendel: „Wie sind die Fruchtfolgen? Wie kon-trollieren wir die Verunkrautung? Welchen Pflanzenschutz brauchen wir? Wir müssen das ausprobieren!“ Deshalb züchten Nendel und sein Team nicht nur virtuelle Pflanzen. Hinter dem Bürokomplex Haus 62 auf dem Campus in Müncheberg liegt ein zwei Hektar großes Versuchsfeld, wo im Sommer ganz reale Schläge Mais, Soja, Lupinen oder Weizen zu erkennen sind, der Roggen an seiner grün-bläulichen Farbe. Über den Saaten drehen sich Drachen im Wind, um Vögel zu verscheuchen, die das Messergebnis verfälschen könnten, überall werden rote Plastik-Füchse aufgestellt gegen die Kaninchen. Alle 20 Meter steht ein Schaltkasten, „im Boden sind hunderte von Sensoren eingelassen“, erzählt Claas Nendel. Gärtner fahren mit Mobilen, die ein bisschen an Golfplatzbuggys erinnern, durch die Reihen, hinten mit landwirtschaftlichen Geräten bestückt. Es gibt eine mobile Beregnungsanlage und einen „Rainout-Shelter“, eine Art Gewächshaus, die dafür sorgen, dass über einem bestimmten Versuchsfeld Trockenheit simuliert wird.

Mathematisches Modell

„Hier überprüfen wir, ob sich die virtuelle Pflanze richtig verhält“, erklärt Claas Nendel. „Wir sagen dem Computergewächs, unter welchen Bedingungen es sich entwickelt und realisieren exakt die gleichen Bedingungen auf dem Versuchsfeld.“ Stimmen Parameter wie Größe, Beschaffenheit, Gewicht, Wassergehalt bei der Computerpflanze mit dem Feldgewächs nach einer Wachstumsperiode überein, dann ist das mathematische Modell geeignet, künftige Verhältnisse zu simulieren. „Im anderen Fall muss ich nacharbeiten und die virtuelle Pflanze ‚umzüchten‘ – also realer machen.“

Umzüchten im Labor findet in Müncheberg dagegen nicht statt. Nendel hält Pflanzenzüchtung zwar für einen wichtigen Baustein in der Anpassung an den Klimawandel, „aber nicht für das Allheilmittel bei der Suche nach der Ernährungssicherheit der Zukunft. Die Art der Bodenbearbeitung, unser Umgang mit dem knapper werdenden Wasser, die Art der Feldbestellung, wie eine Getreidekultur mit der Umwelt interagiert – diese Fragen sind genauso wichtig.“

Nendel glaubt, dass schon in wenigen Jahren der 500-PS-Traktor Geschichte sein wird. „Stattdessen übernehmen paketgroße mobile Ernteroboter alle Dienste auf dem Feld: säen, Unkraut jäten, düngen und ernten. Felder, so wie wir sie heute kennen, wird es Mitte des Jahrhunderts nicht mehr geben“, ist Claas Nendel überzeugt. „Es wird viel kleinteiliger angebaut. Auf sandigen Kuppen werden eher trockenresistentere Nutzpflanzen wie Roggen ausgesät, in den feuchteren Niederungen dagegen zum Beispiel Weizen.“ Autonome Erntemaschinen würden das Korn erkennen, zuordnen und sortenrein ernten.

Ein Versuchsfeld für diese neue Landwirtschaft haben sie in der Nähe von Müncheberg jetzt schon mal angelegt. Buchweizen gedeiht neben Gerste, Mais oder Triticale, einer Kreuzung aus Roggen und Weizen, in einem Schachbrett-Muster. „Patch Cropping“ heißt diese Anbaumethode in der Wissenschaft und der Professor ist sicher: Das ist die Zukunft! Was noch fehlt sind die Ernteroboter. Claas Nendel: „Aber das ist nur noch eine Frage der Zeit!“

Viele Bauern dagegen sind skeptisch, die Blohms zum Beispiel, die im „Alten Land“, ein paar Kilometer entfernt von Hamburg, eine Obstwirtschaft betreiben. Seit dem 12. Jahrhundert ist die Gegend besiedelt – daher der Name – und seit dem Mittelalter ein wichtiges Obstanbaugebiet: heute mit mehr als 10 000 Hektar eines der größten in Europa und das nördlichste des Kontinents. Wegen immer kürzerer Winter hat sich hier die Baumblüte seit 1975 bereits um rund zwei Wochen nach vorn verschoben. „Wir ernten heute 14 Tage früher als in meiner Kindheit“, bestätigt Claus Blohm. Der Obsthof Blohm ist ein Familienbetrieb auf 23 Hektar am linken Elbufer, die Blohms haben sich auf Öko-Anbau spezialisiert, sie ernten Äpfel, Zwetschgen und früher auch Kirschen. Immer wieder mussten die Blohms schwere Rückschläge verkraften, 1977 zum Beispiel, als der ganze Hof abbrannte. Immer wieder rappelten sie sich auf. Jetzt aber sind sie machtlos.

„Die Klimaveränderungen betreffen uns maßgeblich“, sagt Franziska Blohm, die Tochter des Hofes. Im Jahr 2016 zum Beispiel mussten die Blohms alle Kirschbäume fällen, auf einer Fläche von vier Hektar hatte sich die Kirschfruchtfliege breitgemacht, ein Insekt, das seine Eier in die Früchte ablegt, in denen sich dann Maden entwickeln. Die Kirschen werden unverkäuflich. Ursprünglich war die Kirschfruchtfliege nur viel weiter südlich heimisch, im Zuge des Klimawandels breitete sich ihr Lebensraum nach Norden aus. Außer Netzen gibt es im ökologischen Obstbau kein Mittel gegen diesen Schädling – aber für Netze waren die Bäume der Blohms schon viel zu groß. Also blieb nur, die Kirschbäume zu fällen.

Neue Schädlinge

Im Frühjahr 2017 war der Hof extremen Niederschlägen, Hagel und Sturm ausgesetzt und erlitt massive Schäden durch Staunässe. Die Wurzeln ganzer Baumreihen waren schlicht ertrunken. „Der Sommer 2018 wiederum war sehr, sehr heiß“, sagt Franziska Blohm, die den Hof einmal übernehmen soll. Die Äpfel bekamen Sonnenbrand: Die Schale sengt an, das Obst fault.

Die Agrarforschung beobachtet seit Langem, dass durch den Temperaturanstieg neue Schadinsekten und Krankheitserreger auftreten und altbekannte sich stärker ausbreiten. In warmen Jahren bildet etwa der Apfelwickler – ein Falter, dessen Maden die Äpfel zerfressen – nicht wie früher nur eine Generation aus, sondern im Spätsommer noch eine zweite. Seit einigen Jahren ist im Alten Land die „Schwarze Sommerfäule“ ein Problem – ein dort bisher unbekannter Pilz aus Südeuropa, der die Äpfel verfaulen lässt.

„Auch wir möchten in Zukunft noch Äpfel ernten“, sagt Franziska Blohm. Deshalb zog die Familie 2018 gemeinsam mit anderen Betroffenen gegen die Bundesregierung vor Gericht. Sie wollten erreichen, dass die Politik mehr gegen den Klimawandel tut, Deutschland seinen Ausstoß an Treibhausgasen stärker senkt als aktuell. Die Schäden infolge der Erderhitzung seien ein Eingriff in das Grundrecht der Bauern, argumentierte ihre Anwältin Roda Verheyen: „Denn nicht nur die Zerstörung, auch die Beeinträchtigung von Eigentum ist verboten.“ Doch die Klage wurde abgewiesen, die Blohms denken jetzt ans Aufgeben. 

Literatur
Nick Reimer/Toralf Staudt: Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 384 Seiten, EUR 14,–.

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Foto: Matthias Rietschel

Nick Reimer

Nick Reimer ist Journalist und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Umwelt- und Klimaschutz. Er lebt in Berlin.


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