Ich bin auf dem Bauernhof groß geworden. Als ich klein war, hatten wir noch Hühner, Kühe und Schweine. Mein Vater hat den Hof dann modernisiert – Kühe und Hühner verschwanden, es blieben Schweinezucht und -mast und die Feldwirtschaft mit Getreide-, Mais- und
Zuckerrübenanbau und einer Obstwiese mit Äpfeln, Birnen und Zwetschgen. Wir Kinder halfen viel mit auf dem Hof. Es war selbstverständlich, dass wir am Wochenende früh aufstanden, um die Kühe auf die Weide zu treiben. Viel habe ich bei der Stallarbeit, aber auch beim Säen und Ernten geholfen. Als besonders arbeitsintensiv ist mir der Bau eines Stalls in Erinnerung. Ich hatte die Aufgabe, regelmäßig die Verschalungen von Betonresten zu reinigen. Wochenenden und Schulferien waren Hauptarbeitszeiten. Manchmal machte mir die Arbeit Spaß, des Öfteren war sie aber auch hart – wenn es zum Beispiel an Herbsttagen darum ging, Zuckerrüben zu ernten: Es war kalt. Handschuhe waren nicht vorgesehen, man verletzte sich regelmäßig an den Fingern. Im Sommer setzte das Stapeln von Strohballen mit den bloßen Händen der Haut und den Atemwegen zu.
Intensiv habe ich die Rhythmen der Jahreszeiten erlebt: kalte Winter mit viel Schnee, das Aufwachen der Natur im Frühling, der Sommer mit Hitze und Getreideernte und der Herbst mit den fallenden Blättern und der Ernte von Obst. Auch das Wetter hat auf dem Dorf eine eigene Intensität. Zog ein Gewitter auf, erlebte ich das viel heftiger und bedrohlicher als in der Stadt. Das Wetter spielte überhaupt eine sehr wichtige Rolle. Landwirte sind stark abhängig von gutem Wetter – und das hieß, dass man sich manchmal dringend nach Regen sehnte, dann wiederum sollte unbedingt die Sonne scheinen, damit man das Getreide ernten kann. Die Abhängigkeit vom Wetter hat sich durch die Klimakrise erheblich verschärft. Das Leben auf dem Hof führt einem die Unverfügbarkeit grundlegender Lebensbedingungen sehr anschaulich vor Augen. Mein Bruder hat den Hof grundlegend modernisiert – er wollte keine Massentierhaltung mehr haben und ist heute Energielandwirt mit einer großen Biogasanlage, von deren Abwärme das ganze Dorf versorgt wird.
Meine Erfahrungen auf dem Hof haben mich tief geprägt, auch das rituelle und religiöse Leben. Die landwirtschaftlichen Gleichnisse der Bibel musste man mir nicht erklären – ich verstand sie unmittelbar. Verstarb jemand im Dorf, hörte man die Glocke läuten. Wurde der oder die Verstorbene mit dem Leichenwagen ein letztes Mal durchs Dorf gefahren, standen die Menschen vor ihren Häusern, um ihn oder sie zu verabschieden. Die Beerdigungen waren immer große Feiern, alle versuchten, da zu sein.
Vieles auf dem Hof war richtig schön – ich liebte die vielen Tiere, insbesondere unsere Katzen und unseren Hund, der mein ständiger Gefährte war. Und ich habe durch das Leben auf dem Hof eine intensive Liebe zur Natur entwickelt. Zugleich hat mich der Realismus des ländlichen Lebens stark prägt. Nicht zuletzt verdanke ich meiner Herkunft eine Liebe zur religiösen Tradition: Bibel, Gesangbuch und Losungen waren für meine Eltern die wichtigsten Bücher und begleiteten uns mit der Morgenandacht im täglichen Leben. Sie sind mir bis heute lieb.
Isolde Karle
Isolde Karle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Bochum.