Hoffnungsfroh gespannt

Quinton Ceasars popkulturelle Predigt als Phänomen
Schlussgottesdienst des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg, 11. Juni 2023
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Schlussgottesdienst des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg, 11. Juni 2023

Die Abschlusspredigt beim Nürnberger Kirchentag von Pastor Quinton Ceasar schlägt immer noch große Wellen in den sozialen Netzwerken. Leider sind viele hasserfüllte Reaktionen darunter. EKD-Vizepräsident Horst Gorski wirft jen­seits aller Erregung einen system- und kommunikationstheoretischen Blick auf die Predigt.

Nur wenige Predigten erreichen popkulturellen Status. Die Predigt des 38-jährigen Quinton Ceasar, vor 16 Jahren aus Südafrika gekommen, Person of Colour und seit 2021 Pastor im ostfriesischen Wiesmoor, hat das Zeug dazu. Jedenfalls geht die Erregung ob seiner Predigt im Abschlussgottesdienst des Kirchentags in Nürnberg durchs Land und erreicht wohl mehr als nur binnenkirchliche Kreise. Ich selbst sah und hörte sie im Zug auf meinem Notebook, schon auf der Rückfahrt, und war ebenso verdutzt wie vergnügt.

Inzwischen schwappt nicht nur eine Welle der Begeisterung durch die (social-media-)Landschaft, sondern auch der Hetze, des Hasses und der Häme bis hin zu Morddrohungen. Es ist gut, wenn auch zu spät, dass der Kirchentag sich schützend vor und hinter ihn stellt. Es vollzieht sich, was er in seiner Predigt sagt: Kirche ist kein „safe space“. Umso wichtiger ist es, die Predigt als Predigt zu würdigen, ihr Potential herauszuarbeiten und zu verstehen. Ich werfe einen system- und kommunikationstheoretischen Blick auf Theologie und Verkündigung in dieser Predigt.

Ceasar setzt hoch an. Mit einem Zitat in seiner Muttersprache, das auf Deutsch etwa heißt: „Du, lüg mich nicht an…“, steigt er ein und verspricht: „Ich werde Euch nicht anlügen.“ Das konkretisiert er daran, dass ihn das Kohelet-Zitat „Alles hat seine Zeit“ (das zuvor als Lesung zu hören war) ärgere und beunruhige, weil diskriminierte Menschen zu oft zu hören bekämen, dass jetzt gerade nicht die Zeit für Veränderungen sei. Dem setzt er Jesu „Jetzt ist die Zeit“ (das Motto des Kirchentags) entgegen. Das ist hohe Moral, verbunden mit dem Anspruch auf persönliche Glaubwürdigkeit. Das ist mutig, aber auch heikel. Dass dies überhaupt erträglich ist und charmant klingt, liegt vermutlich an der Fremdsprache und dem Kindersound, die für verfremdende Distanz sorgen.

Moral spaltet die Gesellschaft

Von dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann haben wir gelernt: Moral spaltet die Gesellschaft. Jedenfalls ist das in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft so. In der vormodernen Gesellschaft, als moralische Setzungen verordnet werden konnten, konnte Moral integrieren. In der modernen Gesellschaft besteht die Freiheit des Individuums darin, zu jeder Setzung Ja oder Nein zu sagen. Da die Individuen sich diese Freiheit nicht nehmen lassen, geschieht genau dies nach jeder moralischen Setzung: Es gibt mindestens die einen und die anderen. So auch jetzt.

Außerdem hat Moral, erst recht, wenn sie mit persönlicher Glaubwürdigkeit verknüpft wird, das Potenzial, mundtot zu machen. Denn wer sollte kritisieren dürfen, wenn einer sich so wehrlos macht? Es steckt in dieser rhetorischen Figur paradoxerweise eine Portion Selbstimmunisierung und Entwaffnung des Gegenübers. Dagegen darf man sich wehren. Niemand muss Hetze, Hass und Häme hinnehmen. Kritik und Widerspruch muss Quinton Ceasar jedoch akzeptieren. Dazu ist es notwendig, von der moralischen auf die sachliche Ebene zu wechseln.

Zu den umstrittensten Sätzen seiner Predigt gehört „Gott ist queer“. Was ist damit gesagt? Ich erinnere an den sogenannten Analogiesatz, den das IV. Laterankonzil 1215 definiert hat, der auf Deutsch ungefähr heißt: „… dass zwischen Schöpfer und Geschöpf keine noch so große Ähnlichkeit ausgesagt werden kann, ohne dass nicht eine noch größere Unähnlichkeit mitausgesagt werden müsste“. Das ist theologisches Einmaleins oder sollte es sein. Denn Gott ist immer der „Ganz Andere“, das Geheimnis der Welt. Gott ist weder Vater noch Mutter noch Adler noch Burg und auch nicht queer – bei allen Gottesprädikationen ist zu berücksichtigen, dass hinter der Ähnlichkeit zu dem, was wir unter diesen Begriffen kennen, eine immer noch größere Unähnlichkeit mitzudenken ist.

Rhetorisches Spiel

Gottesprädikationen sagen letztlich nichts über Gott, der der Verborgene bleibt. Sie beschreiben vielmehr die kollektiv-kulturelle oder auch die individuelle Aneignung des Glaubens. Das rhetorische Spiel mit der Suche nach neuen Gottesprädikationen muss deshalb niemand für Blasphemie halten. Es ist eine diskursive Auseinandersetzung über Zugehörigkeit und Aneignung. Dass unsere klassische Theologie und Frömmigkeit von kulturellen Mustern unterlegt ist, die mit „weiß“, „männlich“ und „stark“ zu tun haben, ist für die, die darin aufgewachsen sind und deren Leben in dieses Muster passt, meist nicht bewusst. Die, deren Leben jedoch nicht dahinein passt, spüren dieses Muster sehr deutlich, weil es sie ausgrenzt. Dass dies eine Form von Rassismus ist, lernen wir gerade.

Oft ist die Aufregung groß, wenn unserer Theologie und Kirche Rassismus vorgeworfen wird. Es geht aber nicht um die Unterstellung, die Menschen in der Kirche seien von Hass auf andere erfüllt. Rassistische Muster sind subtil und subkutan. Gewalt kann auf leisen Sohlen kommen. Unsere Kirche beginnt gerade erst, dies zu bearbeiten.

Alle, denen die Verbreitung des Glaubens am Herzen liegt, und vielleicht die konservativen Frommen, die sich zurzeit aufregen, zuallererst: Sie sollten sich freuen, dass Menschen, die von den klassischen kulturellen Mustern, mit denen der christliche Glaube bei uns imprägniert ist, ausgegrenzt werden, sich aufmachen, sich den Glauben anzueignen. „Gott ist queer“ ist ein diskursiver Aneignungssatz. Er heißt: Es ist auch mein Gott, unser Gott.

Einige Auszüge aus dem weiteren Verlauf der Predigt von Quinton Ceasar: „Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer, jetzt ist die Zeit zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit zu sagen: Wir schicken ein Schiff, und wir empfangen Menschen in sicheren Häfen. Safer spaces for all.“ … „Wir können nicht mehr warten. Wenn ihr von der Liebe predigt, die alles besiegt, und trotzdem meine Geschwister und mich diskriminiert – wegen unseres Einkommens, unserer Hautfarbe, unserer Behinderung oder unserer queeren Identität, dann sagen wir: Bitte lügt uns nicht an!“ Schließlich gipfelt die Predigt in dem Aufruf „Klebt euch an die Liebe Jesu! Klebt euch an die Liebe, die befreit!“

Diskrepanz zwischen Rhetorik und Sachebene

Bemerkenswert ist die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Sachebene. Die Rhetorik schraubt sich zu einer Klimax hoch, die in einer fast schon rauschhaft anmutenden Metaphorik endet. Dem entspricht die enthusiastische Reaktion von zumindest dem größten Teil der Besucher. Die Sachebene dagegen ist ernst, anklagend, bitter. Ihr würde eine stillere Reaktion, auf jeden Fall Nachdenklichkeit entsprechen.

Zudem fällt auf, dass Ceasar die Wortspiele mit „ich lüge euch nicht an/lügt ihr uns nicht an“ punktuell weiterführt, so dass sich hieraus ein roter Faden ergibt. Damit zieht sich auch die Moralisierung durch die Predigt. Der Prediger in seiner ehrlichen Selbstaussetzung an die Öffentlichkeit bleibt sichtbar, maskiert sich allerdings durch die Zitatebene mit immer wieder aufgenommenem Kindersound.

Es könnte sein, dass gerade diese zunächst widersprüchlich erscheinende Mischung den popkulturellen Faktor ausmacht. Die Predigt bleibt schillernd. Trotz klarer Sachaussagen bleibt Spielraum, in die Metaphorik hineinzuhören, was man selber hören möchte. Der Prediger wird in dieser schillernden Gemengelage zu einer „Marke“ – was notwendige Voraussetzung für einen popkulturellen Status ist.

Schließlich interessiert mich eine Beobachtung zur Tiefengrammatik dieser Predigt: Sie erscheint als Ausdruck des gegenwärtigen Netzwerkdenkens. Das heißt,  thematisch oder kulturell verbundene Communities vernetzen sich, bringen sich ein, mischen mit, stellen das Hergebrachte in Frage. Schlüsselformulierungen sind zum Beispiel „Wir können nicht mehr warten.“ Wir warten nicht, bis das Präsidium des Kirchentags oder der Rat der EKD queerer geworden sind. Wir sind kein Gegenüber, das Nächstenliebe braucht, sondern wir sind Teil von Kirche und mischen mit. Der kulturelle Wechsel fällt besonders im Vergleich zu 2019 auf. Damals wurde die EKD aufgefordert, ein Schiff zu schicken. Jetzt heißt es „Wir schicken ein Schiff.“ Dabei müssen sich solche „Wirs“ erst und immer wieder neu formieren.

Netzwerk und Kontrollverlust

Sogar der Kirchentagspräsident Thomas de Maizière, der im Vorfeld über kritische Äußerungen zur Haltung der Jugendlichen gestolpert war, sagte in seinem Schlusswort: „Nicht warten, sondern machen.“ Zur Tiefengrammatik der Netzwerke gehört der Aspekt des Kontrollverlustes von Leitung.

Wie die Frage nach Kontrolle ja im Blick auf nahezu alle Metathemen unserer Zeit relevant ist: Klima, Kriege, Flüchtlinge, globale Wirtschaft, Digitalisierung. Kein Metathema ohne die Furcht vor Kontrollverlust beziehungsweise Kontrollüberschuss. Noch weiß vermutlich niemand, wie die Institutionen der evangelischen Kirchen darauf reagieren und sich verändern werden. Sicher ist nur, dass sie reagieren und sich verändern müssen. Kaskadenartige Leitungsstrukturen top-down werden von Netzwerklogiken unterlaufen. Auch dies ist möglicherweise ein Element, dass diese Predigt zum popkulturellen Phänomen macht: Sie wirkt wie ein Wetterleuchten des Kommenden am Horizont, bedrohlich und verheißungsvoll.

Das Evangelium ist immer Inkulturationen eingegangen. Das gilt schon im Neuen Testament für die hellenistische Kultur. Bei Luther inkulturiert es sich in die Ständegesellschaft und sieht den frommen Christen als braves Mitglied seines Standes. In der Aufklärung kam fromme Kritik hinzu, gelebt beispielsweise in pietistisch geprägten Hauskreisen. In den vergangenen Jahrzehnten galten offene Gesellschaft, Toleranz und Freiheit als Erfüllung des Evangeliums. Und nun kommen Diversität, queere Lebensstile, Rassismuskritik und Netzwerklogiken von Kommunikation und Leitung hinzu.

Die Paradigmenwechsel dazwischen haben die Menschen der jeweiligen Zeit vermutlich immer tief verunsichert. Das ist heute nicht anders und drückt sich nicht zuletzt in unangemessenen Kommentaren aus. Die Kirche würde aber zum Museum, in dem eine verstaubte Botschaft ausgestellt wird, wenn die Inkulturation des Evangeliums nicht weiterginge. Auf das Wie darf man hoffnungsfroh gespannt sein.

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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