Jetzt wird‘s Zeit …

Zum Auftakt des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Nürnberg
Kirchentagspräsident Thomas de Maiziere und Generalsekretärin Kristin Jahn bei der Vorstellung des Programms für den Kirchentag in Nürnberg, am 16. März 2023.
Foto: pa
Kirchentagspräsident Thomas de Maiziere und Generalsekretärin Kristin Jahn bei der Vorstellung des Programms für den Kirchentag in Nürnberg, am 16. März 2023.

Heute geht es los mit dem Kirchentag in Nürnberg. Wie gelingt der Neustart nach der Corona-Zwangspause? Kirchentagspräsident Thomas de Maizière jedenfalls konzedierte im Vorfeld, dass sich einiges in den eigenen Reihen ändern müsse.

Die Anlässe sind selten geworden, dass die evangelische Kirche in den deutschen Medien mal mehr als nur marginal vorkommt. Das ist anders, wenn Kirchentag ist. Einmal alle zwei Jahre richtet sich das mediale Interesse auf „die“ Kirche, auch wenn der Deutsche Evangelische Kirchentag ja einmal viel Wert darauflegte, dass er gegenüber der sogenannten Amtskirche als freies Gegenüber agiere.

Aber letztlich sind das alles Feinheiten aus vergangenen Zeiten, als die protestantisch-gesellschaftliche Bubble noch größer und wirkmächtiger war. Heute gilt der Kirchentag als der Spot im Jahr, wo sich viel mehr Scheinwerfer als sonst dezidiert auf die evangelische Kirche richten. Dass es ein evangelischer Kirchentag ist, steht ja nun dran. Vor zwei Jahren war das anders, da feierte man in Frankfurt/Main – größtenteils per Zoom und nur sehr ausgewählt „live“ – den ökumenischen Kirchentag.

Bemerkenswert ist auf jeden Fall der amtierende Kirchentagspräsident: Mit Thomas de Maizière ist es ein renommierter CDU-Politiker, der sich allerdings seit fünf Jahren aus der aktiven Politik zurückgezogen hat. Der heute 69-Jährige war von 2005 bis 2009 der erste Kanzleramtsminister bei Angela Merkel und dann bis 2018 Bundesinnenminister – unterbrochen von zweieinhalb Jahren als Verteidigungsminister von 2011 bis 2013. Eigentlich also einer, der so gar nicht zum mehrheitlich links-grünen Funktionärsmilieu des Kirchentages passen will. Es gab auch Kritik, dass er als ehemaliger Innenminister, der Abschiebungen befürwortet beziehungsweise befürworten muss und auch nicht jedes Kirchenasyl mit Wohlgefallen sieht, nun ein bedeutendes Gesicht des Kirchentages sein soll.

Schlagabtausch im Rundfunk

Gestern lieferten sich dann Thomas de Maizière, seit Richard von Weizsäcker 1981 der erste Kirchentagspräsident mit CDU-Parteibuch, im Deutschlandfunk einen Schlagabtausch mit WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt, wobei es ein eher milder Schlagabtausch war. Aufhorchen ließ, wie de Maizière den erwartbaren Anwürfen Poschardts gegen die „linksgrüne EKD“ begegnete. Jener Poschardt, der den Kirchentag gar nicht mehr als „theologische Veranstaltung“ wahrnehmen will, sondern eher als „Teil einer Weltanschauungsformation“, die dem Zeitgeist hinterherhumpele, und zwar „ästhetisch, kulturell, sprachlich“ und „gedanklich“. De Maizière gab dem Axel-Springer-Journalisten zwar nicht Recht, aber konzedierte, es sei „nicht ganz falsch“, was dieser meine, denn, ja, der Kirchentag sei über viele Jahre ein „westdeutsch geprägtes, pazifistisch-grünes Wohlfühlmilieu“ gewesen. Dieses Milieu, so seine Analyse, sei nun verunsichert - besonders durch den Krieg in der Ukraine und durch die „Rolle der Grünen“ in der Bundesregierung.

Andererseits war es de Maizière genauso wichtig zu betonen, dass diesmal mehr Vielfalt auf dem Programm stehe. Zum Beispiel treffe sich Robert Habeck, der grüne Wirtschaftsminister, mit Siemens-Chef Joe Kaeser und mit „einer Klimakleberin der Letzten Generation“ auf einem Podium. Und zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte des Kirchentages sei der Generalinspekteur der Bundeswehr anwesend, der mit dem EKD-Friedensbeauftragten über den „ethischen Gebrauch von Waffen“ debattiere. Das seien „Öffnungen des Kirchentages“, die zeigen würden, dass man sich ändern wolle.

Angesprochen darauf, dass erneut, wie 2019 in Dortmund, keine AfD-Vertreter auf dem Podium sitzen werden, verwies der Kirchentagspräsident darauf, dass es einen Unvereinbarkeitsbeschluss gebe, denn man wolle sich zwar öffnen, aber „Extremisten“ wolle man nicht auf den Podien des Kirchentages haben. Diese Formel überzeugte seinen Widerpart  nicht. Zwar sagte auch Poschardt, dass beispielsweise der AfD-Politiker Björn Höcke ein „Rechtsextremist“ sei. Aber „in die Öffentlichkeit“ gerate im Zusammenhang mit der evangelischen Kirche immer wieder deren „Parteinahme für die Letzte Generation (…), jene Klimakleber“, die jeden Tag das Gegenteil von Nächstenliebe produzierten, indem sie „die Gesellschaft spalten, den Rechtsstaat aushöhlen, die Leute terrorisieren mit ihren Aktionen“. Insofern sei die „Linie“ des Kirchentages gegen Extremismus für ihn wenig überzeugend. Wie auch immer, im Deutschlandfunk-Gespräch zeigte sich Thomas de Maizière eher konziliant gegenüber dem in „normal linken“ evangelischen Kreisen absolut verpönten Poschardt.

Griffige Auslegung

Am Schluss gelang dem Kirchentagspräsidenten dann eine griffige Auslegung des Wortes „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“, das der Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch (1865-1923) einst geprägt hatte. Ob die Kirche in Deutschland so kraftlos sei, weil sie sich vom Jenseits „verabschiedet“ habe, wollte Moderator Andreas Main von ihm wissen, nachdem Poschardt lange von Pastoren geschwärmt hatte, die sich ganz unpolitisch, seelsorglich um die Menschen kümmerten. Da wurde Thomas de Maizière ganz klar: Es gäbe manchmal in den Kirchen eine „Jenseitsvorstellung“, die ihm „ganz fern sei“, nämlich: „Hier ist das Jammertal der Erde, und alles wird gut im Jenseits.“ Das aber sei nicht „die Rolle von Christus in der Welt gewesen“, sondern vielmehr gelte für ihn: „Ihr müsst Euch die Erde untertan machen, Ihr müsst Euch in der Welt bewähren, (…), das Jenseits beginnt durch Euer Tun im Heute und Jetzt (…) und zwar durch Hoffen und Machen.“ (Das zitierte Gespräch aus der Sendung „Tag für Tag“ kann hier in Gänze nachgehört werden).

Der/die Kirchentagspräsident bzw. -präsidentin wechselt mit jedem Kirchentag – das ist nichts Besonderes. Eine zumindest etwas längere Verweilzeit ist meist dem/der Generalsekretär-/in beschieden. Seit 1994, also seit knapp dreißig Jahren, als Margot Käßmann Generalsekretärin wurde, ist dieses Amt fest in weiblicher Hand. Seit 2022 amtiert die 46-jährige thüringische Pfarrerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin Kristin Jahn. Es gibt also gegenüber dem letzten „normalen“ Live-Kirchentag in Dortmund 2019 gleich ein neues Tandem an der Spitze. Auch im Praktischen ist vieles anders, zum Beispiel digitaler (und es wird kein Liederbuch mehr vorher verschickt). Dies alles, sowie die lange Live-Pause von 2019 bis jetzt, in der ja in der Welt so viel passierte, nährt anscheinend bei vielen das Gefühl, dass der 38. Kirchentag irgendwie eine neue Epoche seiner Geschichte einleiten will.

Dieses Gefühl erhielt ein paar Wochen Nahrung, als bekannt wurde, dass Margot Käßmann, die erste in der Reihe der Kirchentagsgeneralsekretärinnen und besonders auch nach ihrem Rücktritt als Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende eine, wenn nicht die Kirchentags-Ikone, nach bis heute nicht ganz aufzuklärenden Differenzen mit der Kirchentagsführung ihre Teilnahme beim Kirchentag ganz abgesagt hatte. Es ging dabei wohl um eine Veranstaltung Käßmanns mit dem Liedermacher Konstantin Wecker, die der Kirchentag angeblich nicht wollte. Die Darstellung seitens des Kirchentages und der Veranstalter sind bis heute nicht ganz in Einklang zu bringen. Fest eingeplant war aber sowohl eine Bibelarbeit Käßmanns und auch ihre Teilnahme an einem Friedenspodium mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr. Dazu kommt es nun nicht.

Alles ohne Käßmann

Diese Lage inspirierte am vergangenen Sonntag die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung über den langen, lesenswerten Vorschauartikel ihres Kirchenkorrespondenten Reinhard Bingener die Überschrift „Ohne Käßmann“ zu setzen.

Bingener versucht in seinem Beitrag, die über siebzigjährige Nachkriegsgeschichte des Kirchentags in der Rückschau in verschiedene Epochen zu unterteilen, wenn er schreibt: „In den Siebzigerjahren kamen teils nur noch einige Tausend Besucher. Auch die traditionelle Frömmigkeit der Veranstaltung hatte sich überlebt. Doch der Kirchentag fand die Kraft, sich neu zu erfinden – und zwar durch einen engen Schulterschluss mit der Friedensbewegung.“

Diese beiden Behauptungen stimmen so nicht ganz, denn wenn man genau hinschaut, verzeichnete der Kirchentag 1973 in Düsseldorf nur noch 10.000 Besucherinnen und Besucher, in Berlin 1977 waren es dann bereits 60.000 und 1979 in Nürnberg dann 80.000 – eine Zahl, die die diesjährigen Nürnberger Veranstalter sehr glücklich machen würde. Die Entwicklung zeigt aber, dass der Anstieg der Teilnehmendenzahlen schon in den 1970er-Jahren stattfand, also anders als Bingener vermutet, vor einem „engen Schulterschluss“ des Kirchentags „mit der Friedensbewegung“. Denn dieser passierte erst, wie es Bingener selbst schreibt, in Hamburg 1981, wobei der Höhepunkt – im Zusammenhang mit der Nachrüstung – beim „Lila-Tücher“-Kirchentag Hannover 1983 war.

Bis 1973 ähnelte der Kirchentag eher einer evangelischen Volkshochschule mit spirituellem und kulturellem Beiprogramm. Jeden Tag traf sich in einer Messehalle eine „Arbeitsgruppe“ zu einem Thema. Sie begann mit einer Bibelarbeit. Es folgten zwei Vorträge. Nach der Mittagspause gab es „eine Aussprache und Podiumsdiskussion mit den Referenten des Vormittags“. Und am Abend wurden Vorträge, Gottesdienste, Konzerte und Theateraufführungen angeboten.

Neu erfunden hat sich der Kirchentag dann 1975 in Frankfurt. Erstmals gab es eine „Liturgische Nacht“ und – nicht zu vergessen – den „Markt der Möglichkeiten“. Und in Nürnberg 1979 wurde in den gastgebenden Gemeinden erstmals ein „Feierabendmahl“ gefeiert. So verstärkten im Laufe der Zeit der „Abend der Begegnung“, Themenzentren und eine Ausweitung des Programms und der Veranstaltungsformate den Event-Charakter des Kirchentags. Dies – und nicht so sehr ein „Schulterschluss mit der Friedensbewegung“ – erhöhte seine Attraktivität und führte zu einer Veränderung der Altersstruktur der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Immer mehr Konfirmanden- und Jugendgruppen besuchten Kirchentage.

Geschrumpft, gealtert, bequemer

Aber auch wenn man im Detail Bingener ein stückweit widersprechen mag, wirft sein Fazit am Ende des Artikels interessante Fragen auf: „Für den Kirchentag ist das Fernbleiben Käßmanns ein Schlag, vergleichbar mit der Absage eines Headliners bei einem Musikfestival.“ Es gebe aber auch Stimmen, so Bingener weiter, „die darin die Vorwegnahme eines Wandels erkennen, der ohnehin anstand.“ Der Kirchentag sei „zwar weiterhin das größte zivilgesellschaftliche Treffen in Deutschland. Doch das bisherige Publikum schrumpft, altert und wird bequemer. Nach dem ersten Zyklus nach dem Krieg scheint nun der zweite Zyklus im Zeichen der alternativen Reformbewegungen der Achtzigerjahre an sein Ende zu gelangen. Die „Causa Käßmann“, so Bingener abschließend, „ist das Symbol dafür.“

Ergo: Wie immer man zu diesen Überlegungen des FAZ-Journalisten steht, unstrittig ist, dass der Kirchentag mit dem Begriff „Zeitansage“ verbunden ist. Das diesjährige Nürnberger Motto „Jetzt ist Zeit“ scheint dazu auch geeignet zu sein, wobei die Anlehnung an das zugrundeliegende biblische Motto ist in gewisser Weise inhaltsbefreit, denn der zugrundeliegende Bibelvers geht da deutlich konkreter weiter, nämlich so: „(…) das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an die rettende Botschaft.“

Es bleibt abzuwarten, welche rettende oder drohende Umkehrbotschaft auf dem Kirchentag am Ende im Vordergrund steht. Im Vorfeld jedenfalls wurde auch von Seiten der Leitung in eigener Sache klar kommuniziert: Jetzt wird’s Zeit, dass wir selbst anders werden als früher …“.  Auf die Entwicklung der nächsten Tage und wie es dann weitergeht, darf man gespannt sein.

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