Feindbild Staat

Verbote und Verzicht

Bis vor einem Jahr werteten die Montagsdemonstranten in vielen deutschen Städten die staatlich verordneten Verhaltensregeln gegen die Pandemie als Eingriff in ihre Handlungsentscheidungen. Ähnliches kennzeichnen auch die Drohszenarien mit Vokabeln wie Enteignung und Sozialismus, mit denen Bürgerinnen und Bürger reagieren, wenn sie ihr Konsumverhalten hin zu mehr Nachhaltigkeit einschränken sollen. Ein Tempolimit oder das Verbot von Plastikverpackungen würden den Weg in eine sogenannte Ökodiktatur weisen. Woher kommt die Annahme, dass Freiheit nur existiert, wenn der Einzelne nach Herzenslust konsumieren darf?

Ein Buch zur rechten Zeit legt der Berliner Politikprofessor Philipp Lepenies vor, das verspricht, den Fragen von Verbot und Verzicht in der Politik auf den Grund zu gehen. Und das geeignet wäre, vielen Menschen den Boden der Argumentation zu entziehen – wenn sie denn zuhören wollten.

Zum Beispiel, wenn sie die Überzeugung vertreten, dass der Einzelne das Recht auf ungestörte Verhaltens- und Konsumentscheidung hat. Oder dass Markt und Wettbewerb menschliches Verhalten viel effektiver steuern können als Politik.

Damit verweist Lepenies auf die Grundthese seines Buches: Das neoliberale Staatsverständnis habe sich in einem gezielten langen Marsch durch die Institutionen in einem Zusammenspiel von Wissenschaftlern, Think-Tanks, Romanautoren, Journalisten und Vertretern des Unternehmertums immer und immer wieder verbreitet – und durchgesetzt. Zunächst widmet er sich in seinem stringent und gut gegliederten Buch den rhetorischen Mustern der Transformationsgegner, um dann die Bedeutung von Verzicht und Verboten in der Vergangenheit aufzufächern. Bei ihm lässt sich lesen, was es historisch mit dem Konsumverzicht auf sich hat. „Konsumverzicht galt lange Zeit nicht als Einschränkung der Freiheit. Er war vielmehr die Bedingung für die freie Entfaltung der Individuen. Mehr noch, Konsumverzicht war der Schlüssel zur zivilisatorischen Entwicklung.“

Die neoliberalen Denker hingegen verklärten den Individualkonsum anschließend nicht nur zum Fundament des Marktsystems, sondern zur Grundvoraussetzung der Freiheit. Aus den Bürgern, so Lepenies, wurden Konsumenten, deren Freiheit und Demokratieteilhabe sich im Konsumieren vollziehe. Kein Wunder also, dass aus ihrer Perspektive Verbot und Verzicht einer Freiheitsberaubung gleichkämen. Gewährsmänner sind für ihn die österreichischen Nationalökonomen Friedrich August Hayek (1899–1992), Ludwig von Mises (1881–1973) und der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman (1912–2006), denen er ein umfangreiches Kapitel seines Buches widmet.

So ist sein Buch ein wortgewandter und fundierter Einspruch gegen neoliberale Überzeugungen, die derzeit nicht nur die Rechtspopulisten, sondern auch die bürgerlichen Parteien umtreiben. Wie tief diese Ideen in unser Denken Einzug gehalten haben, lässt bei der Lektüre erschrecken, denn die Gefahren liegen auf der Hand: „Die neoliberale Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen machte es den Bürgern schwer, sich auch als Teil des Staates zu begreifen“, schreibt der Berliner Ökonom. Und so folgert er zu Recht, es unterminiere und delegitimiere die Demokratie, einen Wert darin zu sehen, Mehrheitsentscheidungen nicht zu akzeptieren, die den eigenen Präferenzen widersprechen. Notwendige Kompromisse einzugehen und Mehrheitsmeinungen zu akzeptieren, diese Grundhaltung würde von Neoliberalen durch die konsumtive Ich-Zentrierung zerstört. Vor einigen Jahren hatte der Soziologe Andreas Reckwitz diese als Form einer „Gesellschaft der Singularitäten“ benannt. Lepenies Buch liefert Stoff für eine dringende Debatte. Denn er hat Recht zu konstatieren, dass die Klimakatastrophe „eine Politik der Aktion und eine Politik der Verhaltenssteuerung“ braucht. Die Begründungen liegen auf dem Tisch.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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