Darüber dürfte einhellige Übereinstimmung herrschen, dass weder das Judentum noch das Christentum als Buchreligion zu verstehen sind. Zwar berufen sich beide und teilweise sogar in Übereinstimmung in besonderer Weise auf kanonisierte Texte, aber diese sind nicht der Gegenstand des Glaubens. Die Texte stehen nicht selbst für die göttliche Offenbarung. Sie genießen eine besondere Wertschätzung, weil sie als authentische menschliche Zeugnisse auf den sich offenbarenden Gott und seine Geschichte mit dem Menschen verweisen. Werden sie dagegen selbst als Wort Gottes verstanden, besteht die Gefahr einer fundamentalistischen Selbstzueignung, in welcher sich die Gläubigen selbst zu Anwälten der Sache Gottes erklären.
Wie aber verhält es sich im Islam? Unabhängig von seinen unterschiedlichen Traditionen und gegenwärtigen Aktualisierungen gilt der Koran als die vom Engel Gabriel vermittelte Offenbarung Gottes an den großen Propheten Mohammad. Dabei ist einzuräumen, dass es auch im Islam Auseinandersetzungen um die bis in die Vokalisierung hineinreichende Akkuratesse der Übermittlung der Offenbarung gibt. Aber ein Zweifel an der konkreten inhaltlichen Zuverlässigkeit der Auditionen des Propheten würde nicht nur seinen exponierten Anspruch relativieren, sondern auch die prägende theopolitische Konzeptualisierung des Islam angreifen.
Von Anfang an gehört es formativ zur Verteidigung und Durchsetzung der den Islam ausmachenden Glaubenshingabe, mit der er Judentum und Christentum zu beerben beansprucht, dass sie auch die Auseinandersetzung mit Waffengewalt nicht nur nicht ausschließt, sondern tatsächlich mit einbezieht. Bereits der Prophet selbst trat mal erfolglos und dann aber auch erfolgreich als Feldherr auf. In seinem Agieren sah er sich von den göttlichen Offenbarungen getragen, deren zur Rezitation bestimmte Sammlung im Koran bis heute die Stimme Gottes in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken soll.
Juden und Christen werden im Koran gern respektvoll als die „Leute des Buches“ bezeichnet. Ihnen gilt die gleiche Glaubensofferte, die bereits in Abraham, der weder Jude noch Christ war, ihren hingebungsvollsten Repräsentanten hervorgebracht hat, hinter den Juden und Christen schließlich aber durch eigene Zutaten zurückgefallen seien. Das besondere Sendungsbewusstsein des Propheten zeigt sich darin, dass er sich dazu berufen weiß, mit den an ihn ergangenen Offenbarungen über die strittigen Fragen von Tora und Evangelium hinauszuführen und damit der endgültigen Gestalt der von Gott gewollten Religion den Weg zu bahnen.
Der Koran wird als die Vollendung des heiligen Buches angesehen, die im Übrigen auch mit der arabischen Sprache verbunden wird. Es ist der Charakter der seinen Mitteilungen und Anweisungen zugemessenen Normativität, der darüber entscheidet, ob der Islam als eine Buchreligion zu verstehen ist. Jede Vergegenständlichung des Wortes Gottes verbindet sich gern mit seiner fundamentalistischen Inanspruchnahme. Es wird entscheidend darauf ankommen, wie sich die Repräsentanten des Islam ausdrücklich von der Versuchung distanzieren, dass Gott ihnen mit dem Koran die Durchsetzung seines Willens in der Welt überlassen habe.
Michael Weinrich
Michel Weinrich ist Professor em. für Systematische Theologie in Bochum und Herausgeber von Zeitzeichen.