Die (Selbst-)Vergewisserung über das Volkslied legt einen verschlungenen Weg offen: Als Kind hört und summt man’s vertraut mit Eltern und Alten (Ade nun zur guten Nacht / Der Mond ist aufgegangen / Guter Mond / Weißt du, wieviel Sternlein stehen). Jugendlich kraftstrotzend verwirft man‘s als schnulzig-sentimental-biedermeier-buttrig – allein schon wegen der grässlich peinlichen Munkel-Schunkel-Herz-Schmerz-Terzen (Wenn alle Brünnlein fließen / In einem kühlen Grunde / Der Mai ist gekommen). Irgendwann hört man es adaptiert wieder und staunt, dass die besten Jazzer sich keineswegs davor scheuen, seine Melodien wieder und wieder aufzunehmen, sie zu verarbeiten und ihnen damit eine neue Aufmerksamkeit zu schenken (Die Gedanken sind frei/Es waren zwei Königskinder). Schließlich entdeckt man grandiose Bearbeitungen für Chor (CD: Frank Schwemmer – Perlmuttfalter, vergleiche zz 9/2014), und dann ist’s um einen geschehen und man reiht sich willig er- und hingegeben ein in die kleine, aber unentwegt wache Gemeinde der Volksliedliebenden. Ehe diesem herzlich gegebenen Bekenntnis eine konkrete Empfehlung folgt, soll vorab noch ein wesentlicher Verständnisunterschied auf den Tisch: Volkslied ist keine Volksmusik. Ich bin Ersterem erlegen.
Dem Pianisten Martin Stadtfeld, auf den großen internationalen Bühnen zu Hause, geht es offenkundig ebenso. Er hat diese kleine klingende Welt, dieses innig leuchtende Universum des Herzens während der Zeit äußerlich auferlegter Stille der vergangenen Jahre zum Zentrum seines Trosts und Musizierens und daraus eine CD gemacht – mittendrin und hingegeben, terzwarm und: weich, perlend und pulsierend.
Zunächst stutzt man: eine Piano-Solo-Volkslied-CD? Lebt nicht das Lied zuerst vom Singen, vom Text, von der Gemeinschaft derer, die es pflegen? Und in der Tat: ein Wesentliches fehlt: der Text (leider auch im Booklet – hier würde man sich mancher Verse gern vergewissern). Aber alles andere, ja, selbst das, weiß, Martin Stadtfeld, aufs Feinste zu kompensieren! In dreißig Arrangements, die dem Lied in allen musikalischen Facetten auf den Grund und dem textlichen Gehalt an die Wurzel gehen, schafft es Martin Stadtfeld, ohne affektheischende Allüren, ohne verfremdende Bebilderung oder zwanghaft musikalisches Aufpäppeln jedem der Lieder seine ureigene Aura zu lassen und so ihr Wesen feinfühlig hörbar zu machen. Kleine Zitate aus Mozarts und Beethovens Feder bereichern das Ganze unaufdringlich mit geistreicher Pointe.
Diese herzwarme, durchweg von luftig-klarem Anschlag getragene Klavierversion verdeutlicht auf neu und gern zu hörende Art und Weise Altbekanntes: Der Deutschen liebstes musikalisches Kind ist das Lied. Hier, in der kleinen, intimen Form, ist aller Raum, in dem die Seele sich offenbaren kann, ohne sich zu entblößen.
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.