Fremde Perspektiven

Ein Gang über die documenta in der Schwere
documenta_Kunst vom Wajuku Art Projekt
Foto: Sofie Hüsler
Installation des Wajukuu Art Project

Die „documenta fifteen“ ist keine „antisemita“ und sie sollte auch nicht dazu gemacht werden. Denn bei aller berechtigten Kritik und Debatte um einzelne Kunstwerke mit antisemitischen Inhalten und Bildsprachen – es gibt viel Kunst aus dem globalen Süden zu sehen, die berührt, inspiriert, manchmal ärgert, aber mindestens zum Nachdenken anregt. Hier ein paar Beispiele.

Über Havannas Häuser schwebt etwas Großes. Ein metallisch glänzendes Objekt, zigarrenförmig mit einem kleinen Fortsatz im unteren Drittel, könnte es ein UFO sein? Würde passen, denn neben der schwarz-weißen Collage in der Ecke hängt noch eine andere, die einen Jungen im Raumanzug neben einem Strauß zeigt. Sie stehen vor dem phallischen Denkmal auf dem Platz der Revolution. Doch das seltsame Objekt taucht auch in einem anderen Bild in der anderen Ecke des Raumes auf, es blitzt auf in einer Welle. Und dann auch nochmal auf der Zeichnung eines Würfels, gemeinsam mit einem Panzer und anderen Bildern der Gewalt. Spätestens jetzt wird klar, es ist der Schlagstock, der hier allgegenwärtig ist, ein Symbol für die Gewalt des Staates, unter der viele kubanische Künstler*innen und Intellektuelle gelitten haben und noch immer leiden. Im Nebenraum stehen ihre Namen an der Wand, das „Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR)“ hat sich dieser kritischen Betrachtung Kubas, dem Sehnsuchtsort vieler (Alt)-Linker, mit einer Wandzeitung und einem Nachbau des Gefängnis der Geheimpolizei angenommen.

Die Freiheit der Kunst war ja bereits vor der „documenta fifteen“ und erst recht in ihren ersten Tagen Thema, diskutiert so großflächig wie das Gemälde des Künstlerkollektivs Taring Padi, das nur kurz auf dem zentralen Friedrichplatz zu sehen war. Über dessen antisemitische Bildsprache wurde viel geschrieben, auch an dieser Stelle. Zurecht ist es nun nicht mehr zu sehen, wobei eine dauerhafte Verhüllung möglicherweise der wirkungsvollere Umgang mit dem Bild gewesen wäre. Denn nur, weil man etwas wegräumt, ist es nicht weg und schon gar nicht erledigt, weder im Süden noch im Norden. Deshalb sind die jetzt stattfinden Debatten wichtig und richtig, auch als Impuls auf den Umgang mit den antisemitischen Darstellungen in und an unseren Kirchen, für die man sich auch zeitnah zumindest eine Verhüllung wünschen würde.

Aber dennoch: Die „documenta fifteen“, deren erklärtes Ziel es war, vor allem dem Blick von Künstler*innen aus dem globalen Süden auf diese Welt Raum zu geben, ist keine „antisemita“. Wer das behauptet, war nicht da oder blickt zumindest mit sehr verengter Perspektive auf die Kunstwerke, von denen weiterhin viele sehenswert sind. Denn sie vermitteln Erfahrungen und Perspektiven, die in den hiesigen Kunsthallen und Museen unterrepräsentiert sind. Und das auf manchmal ebenso brachiale wie ästhetische Art, so zu erleben beim Wajukuu Art Project, das die Besucher*innen der documenta-Halle durch einen Tunnel in das Wellblech des Slums Lunga Lunga in Nairobi führt. Dort zu sehen: Ein Bein aus Holz mit vielen Nägeln, brutal und schön; eine Skulptur aus hunderten von geschärften Messern, jedes anders und offenbar schon lange in Gebrauch; zwei Figuren schwebend in einem kugelförmigen Käfig, wie man ihn auf Märkten mit lebendigen Tieren sehen kann. Oder ist es doch eine schützende Atmosphäre? Geschundene Körper, Gewaltassoziationen, Kunst, die verstört, mit hohem ästhetischen Reiz – stark.

Kunst und Künstlichkeit

An anderer Stelle thematisiert der Britto Arts Trust aus Bangladesch unseren Umgang mit Nahrung. Ein riesiges Wandbild zeigt Szenen mit Lebensmitteln aus alten bengalischen Filmen. In einem Mini-Supermarkt präsentieren die Künstler*innen dieses Zentrums für zeitgenössische Kunst in Dhaka Milchtüten und Colaflaschen aus Keramik und Metall, gehäkelte Dosen und Fische, die ein menschlicher Embryo ziert. Lebensmittel werden zur Kunst, aber auch zur künstlichen und austauschbaren Massenware, weit weg von ihrem Ursprung. Draußen vor der Halle dann von riesigen Bambusschirmen behütet, das Gegenmodell, ein Gemüsegarten und eine Küche, in der an jedem Tag eine andere Esskultur gekostet werden kann.

Dem übersättigten Europäer kann das als Kunst kitschig und eindimensional vorkommen, ebenso wie die großen Altkleider- und Müllpakete, die „The Nest Collective“ aus Kenia an den Absender zurückschickt und auf der Karlswiese präsentiert. Aber wer unter der Gewalt der globalen Industriestrukturen leidet, muss nicht verfremden um der Verfremdung willen und schon gar nicht, um dem deutschen Feuilleton zu gefallen.

Was aber trotz allem irritiert: Diese documenta ist die erste nach einer jahrelangen Pandemie, die weltweit das Leben veränderte, Millionen Tote brachte und die Welt auch noch weiter beschäftigen wird. Warum ist sie hier kein vorherrschendes Thema? Vielleicht, weil die Pandemie vor allem unsere westliche Art zu leben und zu wirtschaften in Frage gestellt hat? Weil die Bedrohung durch tödliche Krankheiten in den Ländern des Südens doch noch mehr zum Leben gehören als in unserer Gesellschaft, in der medizinisch so vieles möglich ist? Vielleicht braucht die Kunst aber auch noch ein paar Jahre, um sich dem Thema mit etwas Abstand widmen zu können.

Guernica und Gaza

Zum Schluss aber doch noch ein Blick auf die Bilder, die noch zu sehen sind und vielen als weitere Belege für antisemitische Kunst auf dieser documenta gelten. Es handelt sich um die Serie „Guernica Gaza“ von Mohammed al Hawajri, einem im Gaza-Streifen lebenden Künstler. Er montiert in den Bildern dieser Serie Elemente bekannter Bilder in den Gaza-Streifens, das schwebende Paar Chagalls fliegt über der Mauer, die Israel und Gaza trennt. Van Goghs Kartoffelesser blicken auf eine Bombenexplosion in der Stadt, und die Freiheit, die Eugene Delacroix 1830 die französischen Barrikadenkämpfer führen ließ, bekommt nun die Flagge Palästinas in die Hand und Menschen aus dem Gaza-Streifen um sich herum. Das ist handwerklich wirklich gut gemacht, die Montage verfehlt die Wirkung nicht. Ein subjektives Statement gegen die Politik Israels und als solches selbstverständlich von der Kunstfreiheit gedeckt.

Doch der Titel der Bilderserie verbindet Gaza mit Guernica, der Stadt, die deutsche Legion Condor 1937 zerbombte, was Picasso in seinem gleichnamigen weltberühmten Gemälde in Szene setzte und so ein ikonisches Antikriegsbild schuf. Auf letzteres bezieht sich al Hawarjri in der Erläuterung seines Projektes auf seiner Website ausdrücklich: „I choose Guernica (1937) by Picasso for its influence on many people who saw and know the story of that painting. Through these paintings I want to assert that it is the human who creates troubles and pains for himself through his eternal greed to achieve gains and for material wealth and political and social positions and many other worldly lust. Violence is an unacceptable part of the human psyche. The human is the beginning of the crime of killing. That crime is marked by the sons of Adam (Cain and Abel). In our turn, we inherited it through our modern singular or collective fashioning that extent to armies. Violence has no religion and is not limited to a particular geographic region. For its citizenship is the human heart wherever it exists. This is what I wanted to say with Guernica-Gaza.“  

Und trotz dieser rein humanistisch, nicht anti-israelisch argumentierenden Erläuterung – der Titel insinuiert eine Täter-Opfer-Umkehr, macht aus Israelis die neuen Nazis, und das ist klassischer Antisemitismus. Egal ob bewusst oder nicht, wird hier eine Grenze überschritten, die nicht überschritten werden sollte. Aber deshalb sollten die Bilder nicht weggehängt werden. Es muss gesprochen werden über die unterschiedlichen Lesarten und Perspektiven, möglichst noch auf dieser documenta. Ein erster Schritt hinaus aus der lähmenden Schwere, die mit unzähligen abgesagten Veranstaltungen gegenwärtig über der documenta liegt, könnte gelingen am morgigen Mittwoch, wenn ab 18.30 Uhr über Antisemitismus in der Kunst diskutiert werden soll. Auf dem Podium sitzen laut Ankündigung auf der documenta-Website Meron Mendel (Direktor der Bildungsstätte Anne Frank) und Hortensia Völckers (künstlerische Direktorin und Vorstandsmitglied der Kulturstiftung des Bundes). Ein Livestream ist geplant.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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