Es gibt ein Leben nach der Pandemie. Aber auch das will verantwortet gestaltet werden. Und es stellt sich die Frage, welche Lernerfahrungen der Corona-Jahre in die kommende neue „Normalität“ nach Corona einfließen werden.
Momentan prägen sehr grundsätzliche Überlegungen über eine neue Balance von Freiheit und freiwilliger Selbstzurücknahme die Auseinandersetzungen um den angemessenen Umgang mit Delta, Omikron und Co. Viele beunruhigt die grundsätzliche Frage, ob eine Impfpflicht das Freiheitsversprechen der liberalen Gesellschaft beschädigt. Der differenzierte öffentliche Streit verwandelt den aufgezwungenen Streit um die „Corona-Diktatur“ in eine Art Sternstunde der Demokratie. Trotz der irritierenden Bilder auf den Straßen und einer weit überproportional social- medialen Sichtbarkeit und Präsenz einer lauten Minderheit. Selten hat sich eine Mehrheit quer durch alle Milieus mit so viel innerer Beteiligung formiert. Wir sammeln hier aktuell als Gesellschaft kostbare Erfahrungen. Auch für den Umgang mit den Herausforderungen unseres anderen „alle Völker der Welt betreffenden“ Mega-Problems: dem menschengemachten Klimawandel. Auch hier wird die Gesellschaft wohl gefordert sein, auf bislang selbstverständliche Freiheiten zu verzichten, die schon immer auf Kosten anderer gingen.
Hellsichtige Soziologen wie Andreas Reckwitz sehen in der Debatte ums Impfen die Diskurs-Rückkehr der Pflicht. Begründete „Pflicht“ wird wieder als ein überzeugendes Argument akzeptiert, das die Freiheitsansprüche des Individuums zu Recht beschränkt. Für viele Menschen meiner Generation und meines Milieus ist das schwere Kost. Ein Begriff wie „Pflicht“ gehörte für uns allenfalls auf den Kasernenhof, zum „Muff unter den Talaren“, dem autoritären Stil der älteren Generation. Auch die Ereignisse 1989 habe ich immer als Sieg der Freiheitssehnsucht gelesen. Und selbstverständlich spielen auch in meinem Glauben die Exodustradition und die Freiheit der Kinder Gottes eine entscheidende Rolle. Hinter nichts davon möchte ich zurück. Aber: Auch ich halte eine allgemeine und zeitlich auf die Pandemie begrenzte Impfpflicht für gesunde Erwachsene für das probate Mittel beim Kampf gegen das Virus.
Die Corona-Pandemie wird uns neben vielem anderen auch diese Frage hinterlassen: Gehört es zu den gesamtgesellschaftlichen Lernaufgaben in einer globalisierten Welt, eine neue angemessene und zukunftsfähige Balance aus Freiheit und Pflicht zu finden, um die Freiheit und Zukunft der Menschheitsfamilie zu schützen? Ich bejahe diese Frage. Wie eine breite Mehrheit im Land, wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht.
Wenn wir uns als Folge auch darauf einigen können, dass es eine Pflicht freier Bürger:innen sein kann, sich einzuschränken, um den kommenden Generationen einen Planeten zu hinterlassen, dessen Klima nicht völlig aus den Fugen geraten ist, haben wir eine echte Chance, Wege aus den globalen Krisen zu finden. Gott sei Dank: Unsere geschenkte Freiheit findet an der Freiheit der verletzlichen Mitmenschen ihre wohlbegründete Grenzen.
Ulrich Lilie
Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.