„Dem Menschen als Mensch begegnen…“

100 Jahre Bietigheimer Tag – Gespräch zwischen Kirche und SPD
Logo des Bietigheimer Tags
Foto: Bietigheimer Tag

 „Das Eis ist gebrochen“ , urteilte Hans Voelter über den Neubeginn des Weges von SPD und Kirche nach 1945. Schließlich hat er dafür den Bietigheimer Tag gegründet, der am kommenden Sonntag sein 100jähriges Bestehen feiert. Doch noch immer bleiben die  grundsätzlichen und verbindlichen Begegnungsformen zwischen SPD und Kirche eine ständige Herausforderung, meint Christian Buchholz, der die Geschichte des Bietigheimer Tages skizziert. 

Die „Fremdheit zwischen Kirche und Sozialdemokratie zu überwinden“ – dies seien Ausgangspunkt und Ziel des Bietigheimer Tages 1921 gewesen. So fast es Frank O. July, der württembergische Landesbischof in seinem Grußwort zum 100jährigen Bestehen des Bietigheimer Tages zusammen. Der spätere Dekan Hans Voelter (1877-1972) hatte als Bietigheimer Pfarrer damals in der schwierigen Zeit der 1920er Jahre die alte, unüberbrückbar erscheinende Kluft zwischen Arbeiterbewegung und evangelischer Kirche überwinden wollen – um  der Menschen willen. Bietigheim (nordwestlich von Stuttgart gelegen) war ein Zentrum der schwäbischen Industrie geworden.

Es hatte bereits vielfache Versuche gegeben, die Kluft zu überwinden. Im Deutschen Reich etwa den Evangelisch-Sozialen Kongress, der vordergründig um den  Bestand der Kirche angesichts der aufstrebenden Sozialdemokratie kämpfte,  oder 1899 der spektakuläre SPD-Beitritt von Christoph Blumhardt, dem bekannten Pfarrer und Seelsorger am Kurhaus in Bad Boll. Schließlich in den zwanziger Jahren den ‚Evangelischen Volksbund für Württemberg‘, eine Art kirchlicher Erwachsenenbildung, die die gesellschaftliche (und kirchliche) Entwicklung durch Laien zu beeinflussen suchte. Erschwert wurden diese Bemühungen aber durch  wirkmächtige Dissonanzen und gegenseitige Anfeindungen, durch oberflächliche Kirchenkritik, durch propagierte Austrittsbewegungen, durch die Individualisierung des christlichen Glaubens (Glaube sei Privatsache), durch den Vorwurf der Gottlosigkeit…

Verzweifelte Versuche

Es gab kaum kontinuierliche und verbindliche Formen der suchenden Begegnung und des gegenseitigen klugen Gesprächs. Oft steckten verzweifelte Versuche dahinter, die Arbeiterschaft für die Kirche zurück zu gewinnen. „Bereicherung des Geistes, Vertiefung des Gemüts und  Überbrückung der Klassengegensätze“ – das waren  die ersten schlichten Ansätze von Voelter, der nach Abschluss seines Theologiestudiums in Tübingen  um 1900 fast Mitarbeiter von Friedrich Naumann geworden wäre: „Ein Glück, dass ich ablehnte, zugunsten eines anderen Schwaben, meines Freundes Theodor Heuß, der alles hundertmal besser machte.“

Und so mühte er sich  in seiner Arbeitergemeinde um das soziale Wohlergehen, indem er sich in der Jugendhilfe, in der Armenfürsorge und in der ländlichen Wohlfahrtspflege engagierte. Vor allem organisierte Voelter Bildungsabende, weil „Bildung und Frömmigkeit sich nicht ausschließen“. Im Bereich der Landeskirche in Württemberg war er zeitweise Vorsitzender der  Evangelischen Arbeitervereine. „Die Zeit war reif und drängte zur Tat….So fanden sich einige wagemutige Männer und Frauen, die in den  Riß traten…“ Zu diesem Personenkreis gehörten auch der württembergische Staatspräsident Johannes von Hieber (seines Zeichens Theologe!) sowie Paul von Wurster, der als Professor für Praktische Theologie in Tübingen die Bildung der angehenden Pfarrer beförderte.

Voelter begründete nun eine angemessene Dialogform zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft und Kirche, die bis heute anhält: Der Tag beginnt mit einem gemeinsam gefeierten Gottesdienst. Voelter maß dem Gottesdienst einen entscheidenden Stellenwert bei, weil dort „die Gewissens- und Seelennot“ zu Wort kommt. Dann beziehen Referentinnen/Referenten Position zu aktuellen Themen und Aufgabenfeldern. Kurz vor der NS-Zeit hielt Voelter fest: „Das Evangelium war anerkannt als Gotteskraft, die jenseits aller Parteipolitik steht, eine prophetische Absage an den heraufziehenden totalen Staat, seinen ‚Gottglauben‘ und seine ‚Deutschen Christen‘.“ „Radikalismen“ erschweren aber jetzt das Gespräch und unterbrechen bis 1948 den Weg des Bietigheimer Tages.

Bekannte Namen

Bekannte und illustre Namen tauchen in dessen hundertjähriger Geschichte auf: in den zwanziger Jahren der Stuttgarter Prälat Jakob Schoell (ein Freund des erwähnten Volksbundes), der renommierte Sozialethiker und Pazifist Friedrich Siegmund-Schultze, Elly Heuss-Knapp, leider auch der Pfarrer Immanuel Schairer (ein überzeugter Nazi und kämpferischer DC-Repräsentant), der Professor am Esslinger Lehrerseminar Otto Wilhelm (Vater des in der Zeit nach 1945 berühmten Pädagogen Theodor Wilhelm), dann nach 1945 Landtagspräsident Wilhelm  Keil (ein junger Freund von Christoph Blumhardt), diverse Vorsitzende der Landes-SPD (u.a. Eberhard Eppler, Erwin Schoettle, Ulrich Maurer, Leni Breymaier, Andreas Stoch), immer wieder der Boller Akademiedirektor Eberhard Müller, verschiedene Male Prälat Hermann Rieß aus Ulm bzw. Stuttgart, der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, der bekannte Industriepfarrer Horst Symanowski, ebenfalls einige Male der Pfarrer und Publizist Eberhard Stammler, die baden-württembergischen Minister Walter Hirrlinger und Walter Krause, der IG-Metall-Chef Franz Steinkühler, OKR Ludwig Grosse aus Eisenach, der Berliner Politiker WolfgangThierse, auch Gerhard Schröder als Ministerpräsident aus Hannover, Bundesinnenminister Otto Schily, Gesine Schwan von der Viadrina Frankfurt/Oder, der Tübinger Religionspädagoge Friedrich Schweitzer, der spätere Ministerpräsident Björn Engholm, die nachmalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin,  Richard von Weizsäcker (als Kirchentagspräsident), der Politologe Martin  Geiffenhagen uvam. Eine lange Reihe von einflussreichen  Frauen und Männern, die den Bietigheimer Tag auszeichnet und vor allem die politische und gesellschaftliche Kultur - zu nächst der Weimarer Republik und dann der Bundessrepublik - wiederspiegelt.

Zeitbedingte relevante Themen wurden verhandelt: Die Krise im Arbeiter- und Bauernstand, Familie, Jugendbewegung, Religiöser Sozialismus,  die berufstätige Frau, Auseinandersetzung mit der ‚sozialistischen Jugend‘, Klassenkampf und Volksgemeinschaft (alles in den 1920er-Jahren), Jugend, Politische Verantwortung der Kirche, Demokratieverständnis (auch in der Kirche!), Leitbilder in Sozialismus und Christentum, Mitbestimmung, Auseinandersetzung mit der Ost-Denkschrift der EKD, „Gastarbeiter“ (so hießen sie noch 1971), Leistungsgesellschaft, Arbeit, Stadt, Technik – Segen oder Fluch, Ausländer (‚Angst vor Überfremdung‘ 1989!), Friedensverantwortung, Deutsche Identität, Nachhaltigkeit, Menschenbild, Multireligiöse Gesellschaft, Zukunft Europas, Friedensauftrag, Solidarität…

Wohlfeile Kritik

 „Das Eis ist gebrochen“ - so beurteilt Voelter den Neubeginn des Weges von SPD und Kirche nach 1945. Ist es so – jetzt 100Jahre nach Beginn des Bietigheimer Tages? Im Lebenswerk von Hans Voelter schon. Aber die grundsätzlichen und verbindlichen Begegnungsformen bleiben eine ständige Herausforderung.  Selbstverständlich gibt es aktuell religionspolitische SprecherInnen bei der SPD. Aber der ehrwürdige Kreis der ‚Christen/Christinnen in der SPD‘ ist bis heute ein Stiefkind in der Parteistruktur: Im ‚Vorwärts‘, dem traditionellen Publikationsorgan der SPD, ist äußerst selten - wenn überhaupt - von dessen Arbeit die Rede.

Kritik am Bietigheimer Tag ist wohlfeil: Die ehrwürdige Veranstaltung sei ohne Konsequenzen. Das mag wohl sein – aber sie ist wenigstens ein öffentliches Gesprächsformat in bemerkenswerter Art. Und wo ist die kirchliche Wirkung? Beklagenswert ist, dass es zum Beispiel heute nur noch einige wenige Industriepfarrer/pfarrerinnen gibt – im Gegensatz zu den 1970er- und 1980er-Jahren.  Die Erinnerung an Blumhardt ist in der SPD wenig präsent und schwach, obgleich der derzeitige SPD-Landesvorsitzende Andreas Stoch bei der Gedenkfeier zum 100.Todestag von Christoph Blumhardt 2019 eindringlich und kompetent die Gemeinsamkeiten benannt hat. Notwendig und hilfreich ist der Blick auf weitere „große“ Christenmenschen in der SPD (Gustav Heinemann, Johannes Rau, Erhard Eppler – die alle auch kirchliche Ehrenämter bekleidet hatten) und auf diesbezügliche Punkte des Godesberger Programms: Die biblische Tradition („christliche Ethik“ heißt es da) bleibt – neben dem Humanismus und der klassischen Philosophie - ein Fundament der SPD. Ähnlich ist das in den späteren Programmen festgehalten worden.

Neben Hans Voelter muss noch Claus Weyrosta (1925-2003) genannt werden, der als Landtagsabgeordnete lange mitverantwortlich für den Bietigheimer Tag war. Weyrosta hat außerdem die deutsch-polnischen Versöhnung vorangetrieben. Auch er hielt an christlichen Grundgedanken fest („Gewaltfreiheit als Motto für das künftige Zusammenleben“) sowie an der gemeinsamen gesellschaftspolitischen Aufgabe: „Mehr Demokratie in neuen gesellschaftlichen Formen und eine bessere politische Führung, also Mut zur Politik“.

Die wechselvolle  Geschichte des Bietigheimer Tages zeigt, dass diese Veranstaltung heute wichtiger denn je ist: Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Akteure müssen gesucht und dann gestaltet und wirksam werden, damit das Gemeinwesen und die Menschen gestärkt werden - so formuliert auch  der derzeitige OB Jürgen Kessing/Bietigheim-Bissingen in seinem Grußwort zum diesjährigen Bietigheimer Tag. Wer nicht nur am Gespräch (das ist schon viel) interessiert ist, sondern am Mitgehen und Anstoßen, an der Parteinahme auf dem Weg der verantwortlichen Zukunftsgestaltung, kann durch die Beschäftigung mit dem Weg des  Bietigheimer Tages viel lernen und Ermutigung erfahren – für die Kirche (deren gesellschaftliche Wirkung zugegebenermaßen umstritten  ist) und auch für die politischen Gruppen und Parteien, deren Bedeutung und Rolle trotz aller Unkenrufe anhalten.

 

Zum Jubiläum ist eine knappe, informative Schrift entstanden: Zuhören Verstehen Anstoßen - 100 Jahre Bietigheimer Tag, hrsg. Archiv der Stadt Bietigheim-Bissingen, Evang.Gesamtgemeinde Bietigheim und SPD-Ortsverein Bietigheim-Bissingen, Schriftenreihe des Archivs der Stadt Bietigheim-Bissingen, Band 13, Bietigheim-Bissingen 2021, ISBN 978-3-9812755-6-8

Die Hauptveranstaltung zum Jubiläum findet statt am kommenden Sonntag (Reformationstag). Um 10 Uhr beginnt der Gottesdienst um 10 Uhr in der Stadtkirche mit dem ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider. Um 11 Uhr hält Philip Türmer, stellv. Vorsitzender der Jusos einen Vortag. Nach Brezel und Getränk (coronakonform) im Gemeindehaus Schwätzgässle beschließt um 12.15 Uhr ein Podiumsgespräch im Gemeindehaus die Veranstaltung. Weitere Informationen unter www.bietigheimer-tag.de.

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