Die digitale Vollendung der Pastorenkirche
Dass Kirche in Corona-Zeiten einen Innovationsschub hin zu mehr Vielfältigkeit erhalten habe, kann Peter Bubmann, Professor für Praktische Theologie in Erlangen, nicht erkennen. Vielmehr hätten Profis in Talaren und Hauptamtliche an der Orgel das öffentliche Bild auch der evangelischen Kirche dominiert. Doch das verzerre die Realität und auch das Verständnis von Kirche und werde den Erkenntnissen aktueller Religionssoziologe nicht gerecht.
Bei etlichen Tagungen zur Digitalisierung der Kirchen in Corona-Zeiten breiten sich seit über einem Jahr Deutungsnarrative pandemisch aus: Die Digitalisierung sei eine Chance für die Zukunft des Gottesdienstes, die Gemeinden hätten sich in der Corona-Krise durch digitale Kreativität bewährt und insgesamt befördere das digitale Zeitalter das Priestertum aller Glaubenden et cetera. Diese Narrative klingen ansprechend und sind doch kritisch in Frage zu stellen.
Eine erste Ernüchterung bringen schon empirische Studien, zum Beispiel die Rezipienten-Typologie-Studie der EKD aus dem Sommer 2020. Da wurden die an Online-Gottesdienstübertragungen Beteiligten Nutzer:nnen nach Möglichkeiten der Eigenbeteiligung befragt: 60,9 Prozent der Befragten antworteten mit einem glatten Nein: Es gab keine eigene Beteiligungsmöglichkeit (weder bei Fürbitten noch sonst irgendwie).
In der sogenannten contoc-Studie, deren erste Ergebnisse Mitte April vorgestellt wurden, wurde das Berufsverständnis der Pfarrpersonen fokussiert. Im Blick waren auf evangelischer Seite ausschließlich PfarrerInnen (zu 73 Prozent im Gemeindepfarramt), während die katholische Seite wenigstens noch nicht-priesterliche Hauptamtliche (nämlich Pastoraltheolog:innen) im Blick hatte. Pädagogisches Personal wurde praktisch nicht erfasst (auf evangelischer Seite lediglich mit 1,2 Prozent, das dürften Schulpfarrer:nnen gewesen sein).
Leitendes Narrativ
Dabei zeigt sich ein leitendes Narrativ: Die befragten PfarrerInnen geben an, dass sie glauben, mit ihren Online-Gottesdienst-Formen neue Zielgruppen für den Gottesdienst erreichen zu können. Und der gottesdienstliche Bereich steht klar im Zentrum ihrer eigenen Aktivitäten zu Pandemiezeiten. Dabei bleibt es bei alten pastoralen Verhaltensmustern (z.B. Talar zu tragen).
Viel zu wenig wissen wir allerdings derzeit noch darüber, was Menschen tatsächlich hierzulande von einer Online-Religion oder Online-Kirche erwarten, wie sie die ‚Online-Geh-Versuche‘ ihrer Kirchen und Gemeinden rezipiert und empfunden haben.
Stattdessen erfahren wir schon einiges darüber, wie die Organisationsvertreter:innen der Kirche die Lage einschätzen. An deren Narrativen darf und muss durchaus auf dem Hintergrund normativer evangelischer Verständnisse von Kirche und im Blick auf religions- und kirchensoziologische Einsichten Kritik geübt werden.
Reduktion des Kirchenbilds auf Verkündigung
Die Auswertungsbroschüre zur sogenannten midi-Studie nimmt den Digitalisierungsschub in der Kirche affirmativ als Ausdruck der Wandlungsfähigkeit von Kirche in Anspruch: „Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass die Kirche reformfähig und beweglich ist. Ein Ausdruck dieser Beweglichkeit und Reformfähigkeit stellt die Vielzahl an digitalen Verkündigungsformaten während der Corona-Krise dar.“ (S. 4)
Es ist einigermaßen mutig, aufgrund bestimmter Entwicklungen im medialen Bereich auf die Reformfähigkeit der Kirche insgesamt zu schließen. Man könnte auch ein anderes Narrativ erzählen: „Die evangelischen Kirchen haben aus der puren Not heraus, völlig den Anschluss an ihre Mitglieder zu verlieren, endlich – und viel zu spät – entdeckt, dass es auch Online-Medien gibt. Die Kirche hat sich dabei allerdings als Organisation überhaupt nicht verändert, sondern ihr altes Strategie-Muster, die Organisation funktional auch auf neue Bereiche auszudehnen, weiterverfolgt. Darin zeigt sich allerdings gerade kein Ansatz einer innovativen Kirchenreform, sondern die Zementierung der alten Organisationsform einer pastoralen Angebotskirche.“
Lapidar hält Daniel Hörsch, Sozialwissenschaftlicher Referent bei der Arbeitsstelle midi, in seiner Einführung zur midi-Studie fest: „Die vorliegende Ad-hoc-Studie nimmt dabei die Anbieterperspektive, also die Gemeinden und Träger digitaler Verkündigungsformate in den Blick.“ (S. 10) Durch diese Setzung, lediglich die „Anbieterperspektive“ zu untersuchen, werden weitreichende, auch ekklesiologisch-normative Setzungen vorgenommen. Sie bestimmen das empirische Untersuchungsdesign, was allerdings nirgends reflektiert begründet, vielmehr nur als pragmatisch sinnvoll beschrieben wird. Die empirische Studie geht damit unhinterfragt vom Paradigma der organisierten Service-Angebots-Kirche aus und folgt damit einem in der Religions- wie Kirchensoziologie eigentlich überholten organisationssoziologischen Ansatz.
Hörsch berichtet, dass 86 Prozent der auf die Umfrage Antwortenden „Gemeinden“ gewesen seien. Nirgends erfährt man jedoch, wer genau diese „Gemeinden“ vertritt. Wieder fließen Setzungen ein: Gemeinden werden offenbar primär durch deren Hauptamtliche vertreten, die die Zeit hatten, zu antworten. Multiplikatoren waren die Dekanate, die die Informationen an die Pfarrpersonen weitergaben. Kirchenrechtlich wie theologisch ist allerdings doch klar, dass die Gemeinde durch den Kirchenvorstand im Zusammenwirken mit Pfarrpersonen geleitet wird. Die Auskünfte von Pfarrpersonen einfach mit den Stellungnahmen von „Gemeinden“ gleichzusetzen, ist unter protestantisch-ekklesiologischen Prämissen jedenfalls bemerkenswert. Eine Befragung von Kirchenvorständen und Presbyterien über ihre Erfahrungen in der Corona-Zeit wäre also schon ein echter Fortschritt im Befragungsdesign gewesen!
Bewältigungsstrategien der Subjekte, Transformationsschübe des Religiösen
In der Krise konzentrieren sich Menschen auf altbekannte Muster und Rollenmodelle und passen sich zugleich so weit wie unbedingt nötig an neue Lebens- und Kommunikationspraxen an. „Das eigene Gelände sichern“ ist eine rationale Antwort auf katastrophale Erfahrungen. Das betrifft die unmittelbar gesundheitliche Sicherung, die Selbstversorgung, aber eben auch das religiöse Feld.
Der Verzicht auf den konventionellen Gottesdienstbesuch fiel dabei offensichtlich vielen Christenmenschen relativ leicht. In der Abwägung der Gefahrensituation war klar, dass der in gemeindlicher Sozialität im Kirchenraum verrichtete Gottesdienst nicht zu den lebensnotwendigen Handlungsvollzügen zählt.
Was die liturgischen Hauptamtlichen möglicherweise als schwere narzisstische Kränkung erfuhren, die sie durch sofortige digitale Hyperaktivität oder depressives Zurückziehen beantworteten, war für ihre Gemeindeglieder weithin ein rationaler Akt der religiösen Selbstorganisation. Man wich nun auf TV-Gottesdienste aus und stellte möglicherweise fest, dass da die Musik viel professioneller gemacht wurde und die Predigten ausgefeilter waren.
Die Enttäuschung über die Unmöglichkeit, den Gottesdienst vor Ort zu besuchen, hielt sich also möglicherweise ziemlich in Grenzen, auch wenn die Gemeinschaft der Gottesdienstbesuchenden vermisst wurde. Aus der Perspektive neuerer religionssoziologischer Wahrnehmungen wäre das einzuordnen als ein völlig normales Verhalten der Optionalität im Blick auf Religion und Religiosität in spätmodernen Zeiten. Man wählt, was am besten passt, immer wieder neu. Diese Orientierung am Markt der Möglichkeiten nimmt durch den Digitalisierungs-Schub sicherlich zu.
Markenkern: Reden
In der Krise versuchen jedoch auch pastorale Profis, die Komplexität der Herausforderungen zu reduzieren. Das gelingt, indem sie sich auf das konzentrieren, was sie primär gelernt haben und was sie für den Markenkern ihrer Rolle halten, hier vor allem: das Reden.
Die Konsequenz der Corona-Krise war (und ist für viele noch immer) eine drastische Reduktion auf bestimmte Anteile religiöser Amtsrollen mit der Absicht, überhaupt Sichtbarkeit zu wahren. Im Vordergrund standen:
- die Verkündigerin in Online-Formaten,
- die (meist: verhinderte) Seelsorgerin am Telefon oder doch live unter erschwerten Bedingungen,
- die Organisatorin von verbleibenden Sozialitätsformen, wie Andachten im Freien et cetera.
Dabei blieb und bleibt Etliches auf der Strecke, über das weithin verschämt geschwiegen wird:
- Auf der Strecke blieb – zumindest in der Anfangsphase der Pandemie – weithin die pfarramtliche Rolle der Ermöglicher:in der Beteiligungsgemeinde der Ehrenamtlichen. Aber auch die Ehrenamtlichen selbst wirkten manchenorts wochen-/monatelang wie abgetaucht, weil diese ebenfalls unter Überforderung durch die neue Situation litten und sich erst selbst organisieren mussten.
- Die Belastung durch Entscheidungsnotwendigkeiten über Gottesdienstformate und Formate der Gremienarbeit brachte gemeindliche und landeskirchliche Gremien an den Rand der Erschöpfung und nicht selten in stark konflikthafte Situationen. Die überkomplexe Beteiligungs- und Gremienstruktur des Protestantismus hat dem Ansturm von Corona weithin zunächst nicht standgehalten.
Anspruch und Realität klaffen weit auseinander
Ich halte dies durchaus für ein ekklesiologisches und auch ein praktisch-theologisches Problem. Der Anspruch der ehrenamtlichen Beteiligungskirche und die Realität der von hauptamtlichen Profis gemanagten Pastorenkirche klafften zeitweise weit auseinander. Typisch dafür ist, dass die frisch gewählte Landessynode der Evangelisch Lutherischen Kirche in Bayern über ein halbes Jahr lang nicht zur ersten Tagung zusammentreten konnte, weil es angeblich technisch und rechtlich nicht möglich war.
Auf der Strecke blieb auch weithin (allerdings regional sehr unterschiedlich stark) die auf komplexe kommunikative Interaktionen angewiesene Bildungsarbeit. Mit der kompletten Unzulänglichkeit der bayerischen Schulen im Blick auf die Online-Lehre in den ersten Wochen des Lockdowns ging beispielsweise ja ein in etwa ähnlich defizitärer Zustand der kirchlichen Bildungsformate einher: Konfiarbeit fiel (teilweise bis Mitte 2021) aus, der Umstellung auf Online-Formate schlossen sich keineswegs alle Gemeinden an, Erwachsenenbildungsarbeit wurde storniert und erst in der zweiten Jahreshälfte 2020 rudimentär durch Online-Angebote ersetzt. Das ermöglichte immerhin digitale Bildungserfolge bei den mit eigener Kamera und Vlogs experimentierenden Bildungsverantwortlichen.
Auf der Strecke blieb praktisch komplett die kirchliche Chormusik (immerhin der bislang zahlenmäßig umfangreichste Bereich ehrenamtlicher Arbeit in der EKD). Manche Kirchenmusiker:innen verlegten ihre Existenz jubelnd auf die einsame Orgelbank, bis es zaghafte Versuche da und dort mit Online-Sing-Angeboten gab. Gerne konzentrierten sich etliche Kirchenmusik-Kräfte (zumal dann 2021 im „Jahr der Orgel“) aufs Orgelspiel, um kleine Konzerte mit Publikum im Promille-Bereich der Kirchenmitgliederzahl einer Parochie zu erreichen, während die Kantoreien zerfielen. Stattdessen musizierten – wenn überhaupt – kleine semiprofessionelle Ensembles, die natürlich für die kirchenmusikalischen Profis viel leichter zu handhaben sind als das mühsame Laienmusizieren. Das bildete sich auch in den TV-Gottesdiensten ab, die musikalisch durchaus (noch) professioneller wurden, aber eben damit auch die Tendenz zur „Profi-Kirche“ verstärkten, in der die Rollen zwischen Bühnenmenschen und Publikum klar aufgeteilt sind.
Besonders traf es auch die Bandszenen und kirchlichen Laienmusizierensembles, die sich nicht mehr zum Proben treffen durften. Etwas anders verhielt es sich mit den Blechbläser-Ensembles, die bald wieder im Freien zusammenkommen durften und mancherorts nun das Rückgrat der gottesdienstlichen Musik (im Freien) darstellen. Das hat tatsächlich eine gewisse Transformation der Kirchenmusik bewirkt, allerdings nicht ins Digitale, sondern hin zu einer der ganz traditionellen Formen von Kirchenmusik.
Diakonische Arbeit ging einfach weiter
Allein die diakonische Arbeit in Krankenhäusern, Sozialstationen et cetera ging unter erschwerten Bedingungen einfach weiter. Pflegekräfte, Diakone und Diakoninnen bewährten sich, erhielten aber in der medialen Berichterstattung kein Gesicht und kaum Gewicht (von gelegentlichen Ausnahmen kirchlicher Presseberichte abgesehen). Sie hatten auch nicht wirklich Zeit übrig, Video-Blogs aufzunehmen, oder ständig Instagram-Bilder zu posten.
Nimmt man diese Narrative des Verlusts wahr und auf, dann wird man kaum davon reden können, die digital gewordene Kirche habe in einem kreativen Rausch neue geistliche Vielfalt gewonnen. Im Gegenteil: Hier sind zunächst gravierende Einbußen geistlicher Vielfalt auf der Ebene der bisher leitenden Handlungsformen organisierter Kirchlichkeit zu konstatieren. Ob es demgegenüber tatsächlich zu einer Transformation des Geistlichen ins Digitale gekommen ist, bedarf erst noch genauerer empirischer Überprüfung. Diese müsste sich von der Konzentration auf die Organisation Kirche lösen und stattdessen nach dem gemeinsamen und autonom-religiösen Verhalten der Subjekte in der Pandemie fragen.
Die mediale Konzentration auf das pastorale, genauer: das pastoral-theologische, also pfarramtliche Profipersonal mit seinen liturgischen Online-Versuchen verzerrt völlig die Realität und auch das Verständnis von Kirche.
Diese Fokussierung suggeriert, dass Kirche da ist, wo Hauptamtliche theologisch reden und agieren (und gelegentlich Orgel spielen). Statt des komplexen Geflechts an religiösen Wahrnehmungen, Praxen und Kommunikationen an vielfältigen Orten und in vielfältigen Beziehungskonstellationen, dominieren das öffentlich wahrnehmbare Bild nunmehr die andächtig vor sich hin bloggenden PastorInnen und der Ratsvorsitzende der EKD. Das ist die Vollendung der Pastorenkirche, über deren Häresie sich Vordenker der Gemeindepädagogik und kritischen Kirchentheorie wie Ferdinand Barth schon in den 1990-er Jahren beklagten. Genauer gesagt setzt sich hier ein katholisch-lehramtlich orientiertes ekklesiologisches Denken durch, das davon ausgeht, dass Gemeinde nur dort existiert, wo ein Priester wirkt.
Religiöse Kommunikation hat sich verschoben
Die neuere Religionssoziologie weist demgegenüber schon seit Jahrzehnten darauf hin, dass religiöse Kommunikation sich an ganz andere Orte verschoben hat, nämlich dorthin, wo gar keine Priester oder Pfarrerinnen wirken: etwa in den privaten Konsum von Popkultur mit Musiksongs oder Netflix-Serien, Youtube-Videos und WhatsApp-Chats. Das macht Pfarrpersonen und Priester nicht überflüssig, verändert jedoch ihre Rolle.
Auch dass es so etwas wie häusliche religiöse Gemeinschaften abseits pastoraler Betreuung und Deutungsmacht geben könnte, wurde erst deutlich, als sich am ersten Osterfest in der Pandemie die Frage nach der Legitimität des Hausabendmahls stellte. Die Sachfrage wurde dabei primär in einem pastoralmachtbezogenen Kontext diskutiert, statt sich über die Bereitschaft zum Laienabendmahl zu freuen.
Man könnte zuspitzen: Während die römisch-katholische Institution am schwindenden Vertrauen in ihre Pastoralmacht zerfällt, zerlegen die evangelischen Kirchen ihre ureigenste theologische Legitimation, indem sie sich als die bessere römische Institution präsentieren: Als priesterlich-mediale Pastorenkirche, die eben gerade nicht das Allgemeine Priestertum fördert, sondern es faktisch durch die Pfarrerkirche ersetzt.
Rettung subversiv unterlaufen
Dieser Versuch einer Rettung der Institution Evangelische Kirche wird allerdings unterlaufen von subversiven Internet-Communities, die ohne Pastoralmacht und ohne hauptamtliches Personal auskommen. Sie unterlaufen (bislang) allerdings auch das Radar der Wahrnehmungen der Kirchenorganisation sowie der kirchensoziologischen Forschung (während die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ja in der Netzwerkanalyse immerhin einiges davon einfangen konnte, zum Beispiel die erhebliche Bedeutung des religiösen Kommunikationsortes Kindertagesstätte oder des Gesprächs unter Freunden).
Theoretischer formuliert: In den Analysen der kirchlichen Corona-Situation dominiert derzeit der produktions- und werkästhetische Blick auf mediale Kulturprodukte, an denen der Sinn des kirchlichen Daseins zu hängen scheint. Stattdessen wäre der rezeptionsästhetische Blick und praxistheoretische Blick einzuüben: Welche religiösen Wahrnehmungen haben die nicht organisational eingebundenen Kirchenmitglieder in dieser Zeit machen können, woher nehmen sie ihre Anregungen, wo ergeben sich Transformationsprozesse religiöser Erfahrungen? Und wie drücken sich religiöse Kommunikationsprozesse in dieser Zeit aus? Das alles ist noch kaum erforscht.
Die Kommunikation des Evangeliums dürfte durch den Online-Schub nochmals vielfältiger, diverser, unübersichtlicher und unberechenbarer geworden sein – allerdings oft unterhalb des offiziellen Radars und ohne Beachtung der medialen Öffentlichkeit. Mit diskurs- und machttheoretischem Blick könnte man kritisch fragen, welche Funktion dann die binnenkirchliche und kirchensoziologische Fokussierung auf die Online-Andachten und -Gottesdienste eigentlich hat. Es bleibt erstaunlich, dass die Online-Gottesdienste für die Organisation Kirche, die Christliche Publizistik, wie auch für die Kirchensoziologie offensichtlich das oder zumindest ein wesentliches Schlüsselproblem zu sein scheinen.
Kein Digitalformat rettet
Die Krise um die Katholische Kirche und der Missbrauchsskandal allerdings zeigen gleichzeitig, dass sich bald wieder die wirklichen Herausforderungen melden werden und nach qualifizierter Antwort verlangen. Kurz und polemisch zugespitzt: Kein Digitalformat wird die Kirchen als Organisationen vor ihren Glaubwürdigkeitsproblemen retten. Im digitalen Spiegel wird diese Krise im Innersten des kirchlichen Glaubens eher noch deutlicher. Aber zugleich enthalten die rasanten Transformationsschübe des Religiösen in der Spätmoderne auch Chancen, vielleicht weniger für die Kirchen als Organisationen, aber doch für die Kommunikation des Evangeliums Jesu Christi und für die vielfältigen Formen christlicher Spiritualität.
Folgte man dieser Spur, würde stärker in den Fokus geraten
- dass auch viele Städter den Naturspaziergang in ganz neuer Form erfahren haben und so möglicherweise mit dem Begriff ‚Schöpfung‘ wieder mehr anfangen können;
- dass das Wandern beziehungsweise Pilgern in kleiner Gruppe zu einer prioritären Form christlicher Spiritualitätserfahrung avancieren konnte und dabei das dichte Gespräch unter Freunden auch über Religiöses eine Renaissance erfuhr;
- dass das Zusenden und Teilen christlicher Songs oder Filme zu einem gottesdienstlichen Akt wurde;
- und dass das seelsorgliche Telefongespräch einen unglaublichen Bedeutungszuwachs erlebte.
Und dann würde auch deutlicher, dass Kirche als Raum der Kommunikation des Evangeliums gar nicht nur dort ist, wo Pfarrer:innen reden und agieren (und sei es im tiefen Digital), und auch nicht nur dort, wo das Organisations-Logo Kirche draufklebt, sondern, dass die Vielfalt der Gaben im Leib Christi und die höchst diverse kulturelle und alltagspraktisch-diakonische Präsenz des Gottesgeistes auch und gerade in Pandemie-Zeiten das Wesentliche der Kirche Jesu Christi ausmacht.
Der Text fußt auf einem thesenartigen Vortrag vorgetragen bei der Tagung „GeisterGottesdienste?“ (Erlangen 17.-19.6.2021). Eine ausführlichere Fassung wird in der Dokumentation der Tagung erscheinen.
Peter Bubmann
Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen.