Wenn nicht Kanzel, dann eben Welt

Eine Antwort auf Ulrich Körtners Analyse, die Kirchen seien nicht systemrelevant
Kirchenbanner zur Coronazeit
Foto: dpa/Jonas Walzberg

Kirche und Systemrelevanz? Ulrich Körtner hatte diese Frage in der Juniausgabe von zeitzeichen aufgeworfen. Karl-Heinrich Melzer, Propst im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein nimmt Körtners Kritik auf und sagt: Die Kirche war auch in der Hochzeit der Pandemie mit öffentlicher, biblischer Theologie wahrnehmbar.

Keine „Corona-Theologie“, aber doch die Zuspitzung einer Frage, die viele umtreibt: Die generalisierende Frage nach der Relevanz kirchlichen Redens und Handelns wird in Ulrich Körtners Beitrag zur speziellen Frage nach der Systemrelevanz von Theologie und Kirche unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie. Die Suche nach einer Öffentlichen Theologie wird zum Exempel, eine Antwort zu wagen.

Die Schlussfolgerung von Körtners Ausführungen teile ich durchaus: Auch in einer säkularen Gesellschaft kann vom Evangelium eine befreiende Kraft ausgehen. Diese Kraft sollte sich aber nicht mehr als (gesellschaftlich) systemrelevant begreifen, sondern sie sollte über das System hinausweisen und so die Gesellschaftssysteme transzendierend durchbrechen. Aber Körtners Erwartungen an das „System Kirche“ und insbesondere an die Leitenden sind nun mal gering ausgeprägt. Die von Körtner zum Lackmustest erklärte „Öffentliche Theologie“ stellt sich jedenfalls deutlich differenzierter da, als er es wahrhaben will:

Zum Ersten. Reformatorische Theologie lebt davon, dass sie die Öffentliche Theologie nicht allein den leitenden Personen und den Organen der Kirche zuweist. Sofern und soweit Öffentliche Theologie die biblisch begründete öffentliche Positionierung zum Geschehen in dieser Welt ist, ist dieses in gleicher Weise Aufgabe jedes Gemeindeglieds wie jeder kirchenleitenden Person (vergleiche dazu den Beitrag von Ute Springhart auf zeitzeichen.net).

Körtner schildert eine Szene aus dem Fernsehen im April, als die Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn zu dem biblischen Satz 2. Timotheus 1,7 – „Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“  – sagte: Dieser Satz sei der „klügste, den ich heute gehört habe“, er habe sie „in einer gewissen Weise umgehauen“. Es sei eben nicht gut, wenn eine Gesellschaft beginne, „sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen“.

Ja, so kann ein einziges biblisches Wort seine Wirkung entfalten – wenn man es denn lässt! Genau das aber hat sich in den Tagen des Lockdowns ganz häufig in Deutschland ereignet und zwar in Lebensäußerungen der Kirche! So war es auch unsere Intention in Hamburg: Sehr bewusst (und mit voller Absicht) gab es Öffentliche Theologie an Kirchtürmen, Kindergärten und Gemeindehäusern. Denn genau dieses Wort (und zwei weitere, „Gott verspricht: Ich stärke dich Jesaja 41,10“ und „Gott spricht: Ich helfe dir Jesaja 41,13“) hingen als Banner an über 300 (!) kirchlichen Gebäuden in Hamburg und Umgebung. Als staatlicherseits die Präsenz-Gottesdienste in den Kirchen untersagt wurden, kam es zu einem innerkirchlichen Diskussionsprozess über den Umgang damit. Wir kamen schließlich theologisch begründet zu der Einsicht, dass der zeitweilige Wegfall von Präsenzgottesdiensten lebensdienlicher sei als Leid durch Ansteckung zu riskieren.

Erst diese Einsicht führte einerseits zu einer Akzeptanz der staatlichen Vorgaben, andererseits stärkte es aber auch den Willen, nicht zu schweigen. Die Banner wurden so zu Kurzpredigten. Wir vertrauten der Bibel mehr als unseren eigenen Worten. Kein Logo, kein weiterer Absender, allein die Bibelverse waren auf dem Banner zu sehen. Dass biblische Texte es in Talkshows und in Schaufenster (auch dort fand sich der Timotheus-Text gelegentlich wieder) schafften, hatten wir nicht erwartet. Es spricht aber dafür, dass Öffentliche Theologie keine Frage von möglichst vielen Worten ist.

Zum Zweiten. Mitnichten wurde Religion seitens der Politik „als ein Sicherheitsrisiko“ eingestuft – jedoch die Vorstellung von mit potentiellen Virenträgern gut gefüllten (Kirchen-)Räumen trieb den politisch Verantwortlichen den Schweiß auf die Stirn. Deshalb wurden die Kirchen für gottesdienstliche Präsenzveranstaltungen geschlossen. Selten hat der Protestantismus die eigene Einsicht, dass es keine heiligen Räume an sich gibt, so schmerzhaft erfahren müssen. Das gilt zunächst für jene Menschen, denen Gottesdienste in „ihrer“ Kirche Kraft und Zuversicht geben.

In gleicher Weise haben das auch jene hinnehmen müssen, die zum Predigtdienst berufen sind. Und doch hatte dieser Schmerz der fehlenden Kirchennutzung auch etwas Gutes und Produktives: Zwar fiel die Kanzel als Ort der Predigt von Gottes Wort und über die Situation der Welt in Zeiten von Corona weg. Aber stattdessen fanden sich auch Pastorinnen und Pastoren plötzlich dort, wo alle Gemeindeglieder meistens sind: mitten in der Welt, ohne schützendes Kirchengebäude. Alles reden konnte nur noch als derart öffentliches Reden stattfinden.

Wo dieses Reden theologisch reflektiert gelang, wurde es zu Öffentlicher Theologie. Das geschah gut und vielfältig und zwar nicht dort, wo Weisheiten zur Pandemiebekämpfung oder gar vorneuzeitliche Deutungsmuster über die Pandemie zum Besten gegeben wurden, sondern dort, wo miteinander Trost gesucht und Trost gespendet wurde, erwies sich die Kraft theologisch-fundierter Rede in der Öffentlichkeit. Öffentliche Theologie in diesen Tagen war – zum Glück! – meist Trostrede: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ Die große Rede des Jesaja (Jesaja 40) wurde ganz elementar.

Ein immer wiederkehrendes Beispiel dafür war auch die seelsorgerliche Begleitung am Grab. Statt des üblichen Gottesdienstes in der Kirche musste die Rede direkt am Grab gehalten werden. Ich will nichts idealisieren. Trauerfeiern gezwungenermaßen im kleinsten Rahmen, der Ausschluss von Menschen, die sich verabschieden wollten, das ist nicht gut und nicht gewollt. Aber Pastorinnen und Pastoren, die dann mehrmals mit Trauernden zum Grab gegangen sind und mit ihnen überlegen, wie das Gedenken am Jahrestag des Todes begangen werden kann, haben so seelsorgerlich zugewandte Formen der Trauerarbeit gefunden.

Diese Präsenz in der Not, dieses Mitgehen im Abschied ist öffentliche Theologie, die das scheinbar „nur“ Private ernst nimmt. Die von Körtner zitierte Eingangsfrage des Heidelberger Katechismus „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?“ – wurde auf diese Weise vielfach, mit großem Engagement immer wieder beantwortet.

Zum Dritten. Richtig, jede Art von Öffentlicher Theologie kann nicht (mehr) in Anspruch nehmen, für „die Gesellschaft“ zu sprechen. Wir sprechen zu jenen, die es hören wollen, und mit denen, die den christlichen Glauben teilen. Dass dieses vielstimmig passiert, ist kein Manko, sondern Stärke einer protestantischen Kirche. Meine Erwartung ist durchaus, dass kirchlich Leitende reden – und das ist ja vielfältig geschehen –, nicht aber, dass sie allein reden. Vielfältig ist auf gemeindlicher Ebene geredet worden. Digital und analog, mit einer Resonanz, die ich nie erwartet hätte. Manche „Lesepredigt“, modern als „Gottesdienst to go“ bezeichnet, wurde hundert Mal und mehr verteilt. Und viele Videoclips auf YouTube erreichten die mehrfache Zahl jener, die sonst den Sonntagsgottesdienst besuchen. In Norderstedt bei Hamburg gelang es gar, über Wochen einen gut angenommenen ökumenischen sonntäglichen Gottesdienst im Regionalfernsehen auszustrahlen.

Sicher, nicht alles wird bleiben, nicht alle Formate überzeugen auch noch nach Corona. Auch hier gilt es, alles zu prüfen und das Gute zu behalten. Und Gutes gab es zuhauf. Wenn es gar passiert, dass entscheidende Impulse zur Öffentlichen Theologie pointiert von sogenannten Laien eingebracht werden, dann mag das zwar an der berufsständig-pastoralen Ehre knabbern, der Theologe indes in mir jubelt. Ja, es funktioniert doch, das Priestertum aller Getauften! Wolfgang Schäuble lieferte den Beleg. Sein Impuls angesichts von Isolations- und Schutzmaßnahmen für Gefährdete nicht nur über bloße Lebenserhaltung nachzudenken, sondern auch über die Verhältnisbestimmung vom Schutz des Lebens zu den anderen Grundrechten – wesentlich zur Würde des Menschen –  war Theologie im säkularen Gewand und zwar solcher Art: Es gibt ihn, den sozialen Tod, der manchen mehr schmerzt als der Gedanke an den eigenen physischen Tod.

Fazit: Es ist gut, wenn Kirche nicht als „Bundes-Werteagentur“ auftritt. Auch nicht in Zeiten von Corona. Doch diese Erkenntnis entbindet uns nicht, öffentlich Theologie zu betreiben, das heißt öffentlich wahrnehmbar und sichtbar, gern auch mit Worten der Bibel. Wenn die Kanzel nicht erreichbar ist, weil die Kirche verschlossen ist, dann eben dort in der Welt, wo wir stehen und gebraucht werden und mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

So zu handeln ist keine Frage von Systemrelevanz, sondern es ist schlicht unser kirchlicher Auftrag. Das „Risiko“, nicht gehört zu werden, entbindet nicht von der theologisch begründeten Notwendigkeit, reden zu müssen. Die Klärung, wie darüber hinaus die Zukunft unserer Kirche in dieser Gesellschaft aussieht, sollten wir vor dieser Erkenntnis in aller Gelassenheit herbeiführen!

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Karl-Heinrich Melzer

Karl-Heinrich Melzer, geboren 1958, ist Propst im Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein und Mitglied der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.


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