Nicht mehr systemrelevant

Theologie und Kirche im Corona-Krisenmodus
Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm
Foto: dpa/Sven Hoppe
Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm vor einem Gottesdienst in der St. Matthäuskirche in München. Aufgrund der Corona-Krise wurde der evangelische Gottesdienst ausschließlich im Radio und Internet übertragen.

Die Corona-Krise ist ein Stresstest für  die Öffentliche Theologie und ihre Geltungsansprüche in einer säkularen Gesellschaft, meint Ulrich Körtner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Doch der zu Tage tretende Verlust an Systemrelevanz für Theologie und Kirche schafft auch neue Freiräume.

Dienstag, 21. April, am späten Abend. Markus Lanz moderiert im ZDF die x-te Talkrunde zur Corona-Krise. Im Studio der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der Virologe Henrik Streeck aus Bonn sowie die Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn. Zunächst dreht sich das Gespräch um Schutzmasken, um neueste Studien zu Covid-19 und um Prognosen, wie man der Pandemie und der Folgen der Corona-Krise Herr werden kann. Schließlich kommt der Moderator auf Thea Dorns vielbeachteten Essay über die Einsamkeit der Sterbenden in den Zeiten von Corona zu sprechen, der in der Zeit vom 8. April erschienen war.

Das Gespräch entwickelt sich unvermutet zu einer Sternstunde im üblichen Talkshowbetrieb. Woraus können Menschen in der Corona-Krise noch Trost schöpfen, zumal die Sterbenden und ihre Angehörigen? Genau das ist ja die berühmte Eingangsfrage des Heidelberger Katechismus, den im Studio selbstverständlich niemand auf dem Schirm hat: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Thea Dorn bekennt offenherzig, sie sei kein gläubiger Mensch. Sie gehöre eher zu den „strukturell trostlosen Menschen“. Die Autorin legt nach: „Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft“, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt.

Aber dann kommt es: Frau Dorn erzählt, wie sie in Hamburg auf dem Weg zum Studio an einer Kirche vorbeigekommen sei. Draußen hing ein großes Transparent mit einem Zitat aus einem der Paulusbriefe. „Und ich“, so die Philosophin, „hätte nicht gedacht, dass ich mal in einem Fernsehstudio sitzen würde und sagen werde: Der klügste Satz, den ich heute gehört habe, war ein Bibelzitat von Paulus! Und zwar stand da drauf: ‚Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit‘.“ Der Satz habe sie „in einer gewissen Weise umgehauen, weil ich den Eindruck habe, wir lassen uns im Augenblick massiv vom Geist der Furcht leiten und nicht vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und ich glaube, dass das nicht gut ist, wenn die Gesellschaft anfängt, sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen.“

Worte nicht etwa eines Bischofs oder einer Theologieprofessorin, sondern einer nicht gläubigen und „eher strukturell trostlosen“ Schriftstellerin. Während Kirchenleitungen im Corona-Krisenmodus erstaunlich defensiv agieren und von Öffentlicher Theologie recht wenig zu hören ist, werden hier Not und Verheißung der gegenwärtigen Lage mit einem einzigen Satz aus der Bibel in einer Dichtheit auf den Punkt gebracht, die unter all den vielen Wortmeldungen von Theologinnen und Theologen der zurückliegenden Monate ihresgleichen sucht. Dass der zweite Timotheusbrief, aus dem das Zitat entnommen ist (2. Timotheus 1,7) nicht von Paulus selbst, sondern von einem unbekannten Schüler stammt – geschenkt. Paulinischen Geist atmet das Zitat allemal.

Hier ist nicht etwa absichtsvoll Öffentliche Theologie getrieben worden, sondern sie hat sich auf eine ungeplante Weise ereignet. Es findet Öffentliche Theologie ohne Theologen statt. Ich scheue mich nicht, von einem Kairos zu sprechen. Man darf auch getrost von einer Fügung sprechen, durch die mit einem einzigen Bibelwort das ganze Evangelium auf den Punkt gebracht wird und gerade dort, wo man es nicht erwartet hätte, seine überraschende Wirkung entfalten kann. Jürgen Habermas, der, wie er selbst sagt, alt, aber nicht fromm geworden ist, würde wohl vom „Wahrheitspotenzial“ religiöser Traditionsbestände sprechen, die er freilich nur auf ihre säkulare Verwertbarkeit hin abklopft.

Die Begebenheit bei Markus Lanz sticht deshalb so sehr hervor, weil die Corona-Krise ernüchternd vor Augen geführt hat, wie säkular unsere Gesellschaft inzwischen ist. Als am Beginn der Pandemie akutes Krisenmanagement gefordert war, schlug die Stunde der Politik, genauer gesagt der Exekutive und des politischen Führungspersonals. Es holte sich Rat bei Medizinern, Virologen und Epidemiologen, die nicht nur in den Beraterstäben den Takt vorgaben, sondern auch auf allen Fernsehkanälen präsent waren. Wenn die bange Frage nach der ungewissen Zukunft gestellt wird, spielten Naturwissenschaftler und Ökonomen die Rolle säkularer Propheten.

Im Ausnahmezustand entdeckten Gesellschaft und Politik, wie wichtig nicht nur Ärzte und Pflegekräfte, sondern auch Polizisten, Soldaten und Verkäuferinnen sind. Ihnen wurde öffentlich applaudiert. Von Pfarrern und Pfarrerinnen war nicht die Rede. Vom Shutdown gab es für die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften keine Ausnahmen. Religion, so die Lehre der zurückliegenden Monate, ist in der säkularen Gesellschaft nicht „systemrelevant“. Kirchen, Synagogen und Moscheen wurden geschlossen, öffentliche Gottesdienste und das Freitagsgebet untersagt, während Baumärkte und Gartencenter geöffnet blieben oder gleich nach Ostern wieder aufsperren durften. Religiöse Familienfeiern mussten weitgehend unterbleiben, Trauungen und Taufen verschoben werden. Beerdigungen durften nur im engsten Familienkreis stattfinden, und die Klinikseelsorge wurde vielfach aus den stationären Einrichtungen ausgesperrt, es sei denn, sie ist fester Bestandteil des Behandlungsteams. Manche Seelsorger in Rufbereitschaft mussten freilich auch die kränkende Erfahrung machen, von Angehörigen gar nicht gerufen zu werden.

Die Kirchen haben die massiven Eingriffe in die Ausübung der Religionsfreiheit mehr oder weniger klaglos akzeptiert, weil sie ihren Beitrag zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr leisten wollten. Das lässt sich ethisch gut begründen. Gleichzeitig akzeptieren sie die gesellschaftliche Führungsrolle der Wissenschaft. Von kirchlicher Seite war hier und da die Aufforderung zu hören, der Wissenschaft zu vertrauen – und das bitte auch künftig beim Klimaschutz. Statt „Vortrupp des Lebens“ (Helmut Gollwitzer) zu sein, gehört die Kirche nur noch zum Nachschub. Die Corona-Pandemie ist Lehrstück und Trigger für die Säkularisierung und Privatisierung von Religion in westlichen Gesellschaften, die sich in der Privatisierung des Sterbens und der Trauer in Zeiten von Corona verstärkt. Die Toten werden zu einer statistischen Größe und somit unsichtbar gemacht. „Was radikale Laizisten immer hofften, aber nicht einmal die Kommunisten wagten, ist in Zeiten der Corona-Pandemie binnen weniger Wochen Wirklichkeit geworden“, stellte Daniel Deckers bereits am 11. April in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest. „Religion als kollektives, auf symbolische Kommunikation angelegtes und sich in gemeinsamen Körperpraktiken materialisierendes Sinnsystem ist aus der Öffentlichkeit nahezu vollkommen verschwunden. Das Internet ist dafür nur ein schaler Ersatz.“

Starke Kränkung

Allerdings sollte man die vielfältigen gottesdienstlichen und seelsorglichen Internetangebote und ihre nicht selten bemerkenswerte theologische Substanz nicht geringschätzen. Hier steckt manches Potenzial für Kirche im digitalen Raum, auch wenn nicht alle Formate überzeugen. In der Diskussion über virtuelle Abendmahlsfeiern hat der Tübinger Kirchenhis-
toriker Volker Leppin treffend bemerkt, dass digital nicht mit geistig und schon gar nicht mit geistlicher Kommunikation zu verwechseln ist, so gewiss diese auch im digitalen Raum stattfinden kann (siehe auch Seite 44). Decker hingegen schrieb: „So schmerzfrei viele Kirchenführer die staatlichen Eingriffe in das Grundrecht der Religionsfreiheit hingenommen haben, so religiös schmerzfrei scheint mittlerweile ein großer Teil der Gesellschaft zu sein. Der Prozess des ‚social distancing‘ von den Kirchen als Sozialformen des Glaubens könnte sich womöglich noch beschleunigen.“

Es gehört zum Selbstverständnis der beiden Volkskirchen wie auch zu den Grundüberzeugungen der verschiedenen Konzepte einer Öffentlichen Theologie, dass die Kirchen zwar nicht unmittelbar Politik machen, wohl aber Politik möglich machen wollen. Diese Idee liegt auf der Linie des berühmten Böckenförde-Theorems, wonach der säkulare demokratische Rechtsstaat von moralisch und weltanschaulichen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Gemessen an diesen Vorstellungen haben Theologie und Kirchen in der Corona-Krise eine starke Kränkung erfahren.

Sicher, in Beraterstäben und Ethikkommissionen sind auch Theologen vertreten. Prominentestes Beispiel ist der bisherige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Peter Dabrock. Aber sie sind doch nicht in erster Linie als Theologen und Religionsexperten, sondern als Experten für Medizin- und Sozialethik gefragt.

Die Pastorentochter Angela Merkel konnte sich in einer ihrer seltenen Fernsehansprachen im März an die deutsche Bevölkerung richten, ohne die Kirchen, Diakonie und Caritas auch nur in einem Halbsatz zu erwähnen. Auch die nationale Akademie Leopoldina hat die Kirchen und die übrigen Religionsgemeinschaften in ihren Empfehlungen zum Ausstieg aus dem Lockdown prominent ignoriert.

Umgekehrt proportional zur öffentlichen Wahrnehmung von Theologie und Kirche verhält sich das ungewöhnlich große Bedürfnis von Theologinnen und Theologen, sich zur Corona-Krise öffentlich zu Wort zu melden. Kaum hatte die Pandemie das europäische Festland erreicht, setzte eine ausufernde Textproduktion ein, wie sich auf www.zeitzeichen.net schön beobachten ließ. In kürzester Zeit entwickelte sich ein neues theologisches Genre, die Corona-Theologie. An der katholisch-theologischen Fakultät Wien ist mit dem Blog TheoCare.Network sogar ein eigenes Internetforum für eine „Theologie im Zeichen von (Post)Corona“ entstanden. Regina Polak und ihre Mitstreiter wollen als Theologinnen und Theologen „dazu beitragen, dass die globale Corona-Krise zu einem Lernort für eine bessere Zukunft in Kirche, Gesellschaft und Bildung wird“. Manche Autoren trauten sich schon sehr früh, eine ganze Dogmatik im Zeichen der Corona-Krise zu skizzieren. „Die Corona-Krise“, so der Bochumer Systematiker Günter Thomas in der Aprilausgabe von zeitzeichen, „zieht alle Register der Theologie“, und schon greifen Theologen in die Tasten. Dabei bewegt sich die vermeintlich neue Corona-Theologie durchaus in gewohnten Bahnen. Stephan Schaede etwa zeigt sich auf www.zeitzeichen.net überzeugt, der Kirche wachse in der Corona-Krise „die Aufgabe zu, Orientierung zu geben, öffentlich und in ihren eigenen Reihen“. Wie die Kirche könne auch „die Orientierungskraft beanspruchende Theologie“ staatliche Verantwortungsträger mit ihren schwierigen Abwägungen und Entscheidungen „nicht allein lassen“. Der Text liest sich als Appell an Theologie und Kirche, ihren Öffentlichkeitsanspruch ja nicht aufzugeben.

Befreiende Kraft

Doch aus Sicht der Politik ist Religion zunächst einmal ein Sicherheitsrisiko. Schließlich wirkten evangelikale Veranstaltungen in mehreren Ländern als Brandbeschleuniger für die Ausbreitung von Covid-19. In vergangenen Epochen war die Kirche bei der Seuchenbekämpfung durchaus systemrelevant, wenn auch mit fragwürdigen Folgen. Bußgottesdienste zur Abwendung der vermeintlichen Strafe Gottes in Pestzeiten waren Ansteckungsherde. Heute weiß die moderne Wissenschaft die Religion als Gefahrenquelle in Schach zu halten – sieht man von Fundamentalisten und Ultraorthodoxen in allen Religionen ab, die sich behördlichen Anordnungen mit religiösem Eifer widersetzen.

Die Corona-Krise ist ein Stresstest für Öffentliche Theologie und ihre Geltungsansprüche. Und hinter der ausufernden Textproduktion lauert die Ahnung, dass der öffentliche Orientierungsanspruch von Theologie und Kirche und die gesellschaftlichen Realitäten auseinanderklaffen. Öffentliche Theologie im Corona-Krisenmodus schreibt gegen die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust an.

Dabei sind die theologischen Krisenphänomene keineswegs neu. Sie begleiten uns im Grunde schon seit mehr als hundert Jahren. Die globalen Auswirkungen der Corona-Pandemie lassen sich noch gar nicht ganz abschätzen. Vor ihrer theologischen Überhöhung aber möchte ich warnen. „Not“ – da hat der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß recht – „ist kein spirituelles Erweckungserlebnis und die Krise keine moralische Erziehungsanstalt“ (Interview in der Presse vom 28. März).

Und doch kann auch in einer säkularen Gesellschaft vom Evangelium eine befreiende Kraft ausgehen, wie wir bei Thea Dorn gesehen haben. Auch schafft der Verlust an Systemrelevanz für Theologie und Kirche neue Freiräume und ist nicht bloß zu beklagen. Schließlich geht das Reich Gottes nicht in bestehenden Gesellschaftssystemen und ihrer Optimierung auf, sondern es transzendiert und durchbricht diese.

Der Mensch lebt nicht von Brot und medizinischer Versorgung allein. Auch Kultur und Kunst sind wichtige Lebensmittel. Der Glaube ist kein Muss. Er bleibt aber eine Option, wie auch Gott nicht notwendig, sondern – mit Eberhard Jüngel gesprochen – mehr als notwendig ist und unseren Wirklichkeitssinn gerade dadurch schärft, dass er uns mit Möglichkeitssinn begabt. Selbst in einer Minderheitenposition sind Theologie und Kirche berufen, der Welt als Gottes Schöpfung zugewandt zu bleiben. Wenn beide bei ihrer Sache bleiben, den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit zu bezeugen, muss ihnen um ihre Relevanz nicht bange sein – nicht nur in Zeiten von Corona.

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