Auch dahin gehen, wo es wehtut

Evangelische Publizistik muss unbequem und unabhängig bleiben
Evangelisches Nachkriegstrio: Der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) und der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje (v.l.n.r in Berlin am 27. April 1958)
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Evangelisches Nachkriegstrio: Der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) und der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje (v.l.n.r in Berlin am 27. April 1958)

Wozu gibt es evangelischen Journalismus? Der Journalist Arnd Henze beginnt seinen großangelegten Artikel mit einem geschichtlichen Rückblick und schildert dann die strukturbedingte Verzagtheit kirchlicher Medien während der Krisen der vergangenen Monate. Das muss besser werden, meint Henze, der auch EKD-Synodaler ist, und fordert unter anderem eine neuartige Recherche- und Hintergrundredaktion beim epd. 

Die gute Nachricht vorweg: Früher war nicht alles besser! Die große Zeit der evangelischen Publizistik ist ein Mythos, der seine Entmythologisierung noch vor sich hat. Richtig ist: Nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gelang es der EKD und ihren westdeutschen Gliedkirchen, aus der Erbmasse der Weimarer Republik und der Verlage des sogenannten „Kirchenkampfes“ ein beeindruckendes Medienimperium zu schaffen – mit freundlicher Unterstützung der westlichen Siegermächte, die den Kirchen bei der Vergabe von Drucklizenzen einen besonderen Vertrauensvorschuss entgegenbrachten.

Hier lag aber schon in der Gründungsgeschichte der Nachkriegskirchen eine strategische Unwahrheit: Die Überhöhung des innerkirchlichen Konflikts zwischen Deutschen Christen, intakten Landeskirchen und Bekennender Kirche zum „Widerstand“ gegen das NS-Regime diente nicht nur der Selbstrechtfertigung, sondern auch dem Zugriff auf Fleischtöpfe.

Ganz konkret manifestierte sich das bereits in der Entstehungsgeschichte der „Stuttgarter Schulderklärung“ vom 19. Oktober 1945[1]: Die gerade gegründete EKD brauchte die harten Dollar der Weltkirche, um Pfarrgehälter und den Wiederaufbau zerstörter Kirchen zu finanzieren. „Helft uns, euch zu helfen“, war die brüderlich formulierte Erwartung der ökumenischen Delegation an die deutschen Kirchenführer. In den internen Vermerken stand es etwas profaner: Man brauche „irgendeine Äußerung der Kirche in Deutschland“, um die Geldkoffer öffnen zu können.

Am Ende wurde dem mühsam im Komparativ verbrämten Schuldbekenntnis eine Heldenerzählung vorangestellt: „Wohl haben wir lange Jahre im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck fand.“ Und schon in der Stuttgarter Erklärung wurde raunend vor einem „Geist der Vergeltung“ gewarnt. Damit war das Schuldthema aus der Sicht vieler Kirchenführer abgeräumt und der Dreiklang aus Selbstviktimisierung, Schlussstrich-Propaganda und Heldenverklärung für die evangelische Publizistik der ersten Nachkriegsjahrzehnte gesetzt.

„Verfolgung einer bestimmten Gesinnungshaltung“

Als „Geist der Vergeltung“ wurde schon unmittelbar nach 1945 vor allem die Entnazifizierung-Politik identifiziert. Mit der geballten Macht aus Predigt und Publizistik denunzierten die protestantischen Kirchenführer diesen Versuch, den Einfluss von NS-Tätern auf die entstehende Demokratie zu reduzieren, als Rache und Siegerjustiz. Selbst Martin Niemöller verstieg sich dabei zu dem Vorwurf, mit dem Befreiungsgesetz von 1946 werde „nunmehr eine Verfolgung einer bestimmten Gesinnungshaltung in einem Umfang legalisiert und betrieben, wie sie selbst unter dem Naziregime niemals betrieben wurde“.[2]

Damit verbunden war die Forderung nach einem Schlussstrich. So erklärte der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje an Ostern 1949 in einer Rundfunkansprache: „Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluss zu kommen … Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist diese Frist vorbei.“[3] Und schon in der Erstausgabe des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts“ vom 1. Februar 1948 bekommt der bischöfliche Lobbyismus gegen die Entnazifizierungsverfahren die halbe Seite zwei freigeräumt.

Als Chefredakteur des „DAS“ hatte sich Bischof Lilje übrigens mit Hans Zehrer einen Vordenker der konservativen Revolution“ geholt.[4] Zehrer hatte in der „Weimarer Republik“ mit der Zeitschrift „Die Tat“ einen zutiefst demokratiefeindlichen Gegenpol zur linken „Weltwoche“ geschaffen. Zehrer wiederum holte auch seinen früheren Kollegen Ferdinand Fried zum „DAS“, der es in der NS-Zeit zum SS-Sturmbannführer gebracht und zum Beispiel im Verlag „Blut und Boden“ das antisemitische Pamphlet „Der Aufstieg der Juden“ publiziert hatte. Dass im Rückblick vor allem liberale Publizisten wie Heinz Zahrnt in Erinnerung blieben, zeigt einerseits den herausragenden Beitrag dieser neuen Generation, andererseits aber auch die Verdrängungsleistung sowie die Janusköpfigkeit der evangelischen Publizistik.

„Propagierung der Schlussstrich-Ideologie“

Auch der frühere Herausgeber der „Tat“, Giselher Wirsing, fand im Übrigen als Mitgründer und späterer Chefredakteur von „Christ und Welt“ eine kirchliche Heimat – für den früheren SS-Hauptsturmführer im Reichssicherheitshauptamt und Mitarbeiter in Alfred Rosenbergs „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ eine erstaunliche Nachkriegskarriere. Komplementär zur Propagierung der Schlussstrich-Ideologie bildete die Ausarbeitung des Helden-Narrativs ein Herzstück evangelischer Publizistik nach 1945. Das gilt nicht nur für Beiträge in den Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch für zahlreiche (Auto-)Biografien und Monografien, die mit erheblicher kirchlicher Unterstützung an Personal und Geld auf den Buchmarkt gebracht wurden. Mehr noch: Über Jahrzehnte konnten diese Arbeiten der Zeitzeugen eine Monopolstellung und die Deutungshoheit in der kirchlichen Zeitgeschichte beanspruchen.

Das gilt zum Beispiel für das 1964 erschienene Buch „Die evangelische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933 – 1945“.[5] Eberhard Klügel, einst einer der engsten Mitarbeiter des früheren Bischofs August Marahrens, hatte als Oberkirchenrat im Landeskirchenamt Hannover einen exklusiven Zugriff auf die Dokumente und Archivbestände und war für die Arbeit an dem Buch über Jahre praktisch freigestellt. Es erschien mit erheblichen finanziellen Mitteln der Landeskirche in der Lutherischen Verlagsanstalt. Das Ergebnis wäre mit „apologetisch“ noch sehr freundlich beschrieben. August Marahrens wurde zum fürsorglichen „Pastor Pastorum“ verklärt, dem es mit großer Weisheit gelang, die hannoversche Landeskirche sicher durch den Kirchenkampf zu führen. Seine tiefe Verstrickung mit dem NS-Regime wurde relativiert, verschwiegen oder als Ausdruck seelsorgerlicher Klugheit gerechtfertigt.

Klügels Buch blieb für die gesamte evangelische Publizistik der Bezugsrahmen für die Beschäftigung mit der Landeskirche und ihrem Bischof. Das galt bis Mitte der 1980er-Jahre. Da erschienen in den „Lutherischen Monatsheften“ (LM) in kurzer Folge wieder zwei Artikel über Bischof Marahrens – wobei man dem einem anmerkte, wie sich der damalige Chefredakteur der LM, Hans-Volker Herntrich, fast quälte, zwischen den Zeilen eine kritische Distanz durchschimmern zu lassen. Wie wirkmächtig das Tabu einer kritischen Beschäftigung mit dem NS-Erbe aber tatsächlich war, erfuhr ich persönlich erst, als ich dem Chefredakteur vorschlug, einen kritischen Text zu den blinden Flecken in der Marahrens-Rezeption zu verfassen. Ich war damals Theologiestudent in Berkeley, CA und bereits journalistisch für die Redaktion „Religion und Gesellschaft“ beim NDR tätig. Dort war man auf die publizistische Unabhängigkeit gegenüber kirchlicher Einflussnahme sehr stolz.

Der einfache Weg wäre also gewesen, dem NDR ein Radiofeature anzubieten. Mich hatte aber der Ehrgeiz gepackt, den Text in den „Monatsheften“, dem damaligen Flaggschiff lutherischer Publizistik, zu veröffentlichen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es dauerte viele Monate, bis mein Aufsatz unter der verkrampften Überschrift „Zustimmung zu erwiesenem Unrecht? Bischof Marahrens und die nationalsozialistische Obrigkeit“ erschien.

„Verdrängt und beschönigt“

Ich habe mir die Briefe aufbewahrt, in denen mich Herntrich an seiner Sorge vor dem innerkirchlichen Shitstorm Anteil nehmen ließ: „Wir haben uns sorgfältig zu fragen, ob der Schaden am Ende nicht größer ist als der Nutzen, indem wir nur noch den Trichter Ihrer Bombe ausmessen und die Verschütteten ausgraben. Und sollte ich selber zu den ,Bombenopfern‘ gehören, kann das nicht in Ihrem Sinne sein.“ Dabei räumte Herntrich offen ein, dass das bleibend hohe Ansehen des früheren Bischofs im Luthertum nur möglich sei, weil sein politisches Verhalten verdrängt und beschönigt wird“.[6] Drei Monate später hatte Herntrich eine Lösung gefunden. Der Text werde nun „eingebettet in zwei positive Beiträge von Marahrens-Verehrern. (…) So ist nun also die Bombe brav einbetoniert.“[7]

Im Rückblick lässt sich das Explosive des Artikels kaum noch erkennen. Die Thesen und Belege sind längst unstrittig, die Tonalität fast betulich zurückhaltend. Trotzdem drückt sich im Brief des Chefredakteurs der Lutherischen Monatshefte keine persönliche Feigheit, sondern ein realistischer Blick auf die informelle Macht der „Zeitzeugen“ und des kirchlichen Institutionenschutzes bei diesem Schlüsselthema aus. Und ohne den breiten Rücken des Direktors des „Verbandes Evangelischer Publizistik“, Gerhard Isermann, wäre es vielleicht anders ausgegangen.

Das alles im Dezember 1987, 42 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und 15 Jahre, nachdem Geisendörfer die journalistische Unabhängigkeit zum Wesenskern evangelischer Publizistik erklärt hat. Für die Entwicklung einer kritischen Erinnerungskultur bleibt der Befund allerdings ernüchternd: Die kritischen Anstöße kamen fast immer von kritischen Journalisten und selbstbewussten Redaktionen außerhalb der organisierten evangelischen Publizistik. Die großen Namen wie Hans Prolingheuer, Ernst Klee und Meinhard Schmidt-Degenhardt galten im kirchlichen Raum weithin als Nestbeschmutzer.

Als zum Beispiel am Karfreitag 1991 eine große ARD-Dokumentation ausgestrahlt wurde, wurde von den Kirchenleitungen anschließend die Störung der Feiertagsruhe und nicht die Komplizenschaft früherer Kirchenführer mit NS- Verbrechern skandalisiert.[8]

„Selbstviktimisierung und Heldenverklärung“

Inzwischen ist der heroisierende Blick auf den sogenannten Kirchenkampf einer nüchternen und ernüchterten Darstellung gewichen. Welche Rolle die evangelische Publizistik im Dreiklang aus Selbstviktimisierung, Schlussstrich-Propaganda und Heldenverklärung gespielt hat, harrt aber immer noch einer gründlichen Aufarbeitung. Sich diesem blinden Fleck zu stellen, würde die große Leistung evangelischer Publizistik vor allem in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht schmälern. Da Letztere aber im Jubiläumsjahr des GEP 2023 ausführlich gewürdigt wurde, braucht das hier nicht detailliert ausgeführt werden. 

Für die Zukunft der evangelischen Publizistik wäre es aber viel produktiver, auf der Erfolgsgeschichte eines hart erkämpften, aber am Ende erfolgreichen Lernprozesses aufzubauen – als auf dem verklärten Mythos vergangener Herrlichkeit.[9] War der Umgang mit dem NS-Erbe der Elefant im Raum der ersten 50 Nachkriegsjahre, so ist es heute der Umgang mit sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie. Der scheidende GEP-Direktor Jörg Bollmann hat das Thema deshalb von sich aus als Lackmus-Test gelebter journalistischer Unabhängigkeit im Raum der evangelischen Publizistik benannt:[10] „Darüber muss gerade auch evangelische Publizistik in aller Freiheit und aller kritischen Distanz berichten können, ohne sich mit Kirche zu entsolidarisieren. (…) In der Institution Kirche arbeiten eben Menschen, und die machen Fehler und können sich, wie wir in den Fällen sexualisierter Gewalt leider erkennen müssen, auch in Schuld verstricken. Das muss evangelische Publizistik in aller Deutlichkeit benennen.“

Es wäre unfair, aus den bruchstückhaften Beobachtungen eines aufmerksamen Lesers ein Urteil zu versuchen, ob die evangelische Publizistik diesem Anspruch über die gesamte Strecke der zurückliegenden Jahre gerecht geworden ist. Auch das wäre ein lohnendes Thema für eine gründliche empirische und qualitative Untersuchung.

Wie in einem Brennglas lassen sich aber einige Erkenntnisse aus dem Umgang mit dem Verdachtsfall in Siegen gewinnen, der zum Rücktritt der westfälischen Präses und EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus geführt hat. Denn die dramatischen Tage am Rand der EKD-Synode in Ulm und die weitere Entwicklung bis zum Rücktritt von Annette Kurschus waren auch ein Stresstest für die Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit der evangelischen Publizistik.

„In den Tagen der Unsicherheit ausgefallen“

Mein Eindruck: Erst in der Einordnung und Kommentierung des Rücktritts fanden die Flaggschiffe des GEP und der Landeskirchen wieder zu einer klaren, zupackenden Sprache. In den Tagen der Unsicherheit fielen sie als Primärquelle für eine interessierte Öffentlichkeit dagegen weitgehend aus.

Im Evangelischen Pressedienst wurde die Nachrichtenlage solide und verlässlich abgebildet. Die journalistische Extrameile an Recherche, Exklusivität und einordnendem Hintergrund war allerdings nur in Ansätzen erkennbar. Hätte das nicht der Moment sein müssen, in der eine Taskforce mit allen verfügbaren Kräften in Ulm, Bielefeld, Siegen und Hannover den Mehrwert evangelischer Publizistik hätte beweisen können und müssen? Allein ein Faktencheck zu all den Gerüchten, die fünf Tage über die Flure der Synode waberten, hätte ein oder zwei erfahrene Journalist:innen (und gerne auch Volontär:innen) voll ausgelastet und zur Versachlichung der Debatte einen wertvollen Beitrag leisten können.

Warum musste man zum Beispiel vom Zerwürfnis in der westfälischen Kirchenleitung in der FAZ und nicht im epd lesen? Dabei ging es in diesem Konflikt schon im Frühjahr 2023 um die entscheidende Frage einer transparenten Krisenkommunikation. Der juristische Vizepräsident Arne Kupke stand für eine rigorose Nachrichtensperre – ein Kurs, den der theologische Vizepräsident Ulf Schlüter und weitere Mitglieder der Kirchenleitung nicht mehr mittragen konnten[11]. Erst nach dem Rücktritt der Präses schrieb Gerd-Matthias Hoeffchen, der Chefredakteur der westfälischen Kirchenzeitung „Unsere Kirche“: „Vielleicht, ja vielleicht, hätte man sich das alles ersparen können, wenn Kurschus und die, die sie berieten, nicht allein die sachlich-juristische Ebene im Blick gehabt hätten.“

Hoeffchen beteuert, seine Redaktion habe erst aus der „Siegener Zeitung“ von dem Missbrauchsverdacht in Siegen erfahren. Mit seinem kleinen Team betreut er die schon lange dahinsiechende Print-Ausgabe der UK. Für gut recherchierte Geschichten fehlen die Mittel. So wurde die Wochenzeitung nicht nur von der Causa Kurschus auf dem falschen Fuß erwischt, sondern auch von anderen Themen wie dem Millionenloch im Etat der Landeskirche, das zumindest in Teilen durch hausgemachte Misswirtschaft verursacht wurde.

„Recherche- und Hintergrundredaktion beim epd?“

Hier steht die UK exemplarisch für das Elend der zersplitterten landeskirchlichen Printlandschaft. Schrumpfende Auflagen und Ausstattungen führen zu permanenter Mangelverwaltung: zu wenig zum Leben, (noch) zu viel zum Sterben. Wobei der zweite Teil auch nicht mehr uneingeschränkt gilt. Immer mehr regionale Kirchenblätter verschwinden sang- und klanglos vom Markt.

Es wäre deshalb unfair, die Journalistinnen und Journalisten der Kirchenpresse für die Defizite der Berichterstattung im Umfeld des Rücktritts von Annette Kurschus verantwortlich zu machen. Wer eine leistungsfähige und unabhängige evangelische Publizistik will, muss sie personell, finanziell und strukturell dazu befähigen. Angesichts begrenzter Ressourcen wird das nur über die Bündelung von Kräften gelingen. Wer sein Geld in einen nicht mehr zukunftsfähigen Flickenteppich von Parallelangeboten investiert, verspielt die Chance, Kräfte zu bündeln und publizistische Akzente zu setzen. Der EKD und ihren Gliedkirchen bleibt ein kleines Zeitfenster, den epd und die Kirchenpresse auch in Zeiten knapperer Kassen so zu stärken, dass sie als unverwechselbare und unverzichtbare Stimme in der medialen Pluralität unserer Gesellschaft wahrgenommen werden.

Ein konkretes Signal wäre die Bildung einer Recherche- und Hintergrundredaktion unter dem Dach des epd. Diese Unit müsste in garantierter journalistischer Freiheit recherchieren und crossmedial publizieren können. An Themen gäbe es keinen Mangel: Millionenlöcher in Etats (wie gerade in Westfalen), Umsetzung der Klima-Roadmap, Rechtsextremismus, Antisemitismus und natürlich immer wieder die Missbrauchsaufarbeitung – also all die Themen, bei denen statt epd sonst die „Siegener Zeitung“, die FAZ oder das großartige Online-Portal „Die Eule“ des mutigen Einzelkämpfers Philipp Greifenstein zitiert würden. Keine Frage: Beliebtheit bei Bischöfen und Oberkirchenräten würde nicht zur Jobbeschreibung der Rechercheunit gehören.

„Verstörendes Verhältnis zu kritischer Berichterstattung“

Dafür würde aber das Bekenntnis zu publizistischer Freiheit auch jenseits von Festreden erneuert und glaubwürdig gemacht werden. Das ist leider dringend nötig. Die Causa Kurschus hat bis weit in die Kirchenleitungen hinein ein verstörendes Verhältnis zu kritischer Berichterstattung offengelegt. Belege für den Vorwurf einer falschen oder unfairen Medienberichterstattung habe ich bis heute keine gesehen. Die „Siegener Zeitung“ hat (Stand Januar 2024) alle Standards der Verdachtsberichterstattung sorgfältig beachtet. Und die immer noch zahlreichen, der Kirche kritisch verbundenen Fachjournalisten haben in der Summe kundig, faktenbasiert und fair berichtet. In den Kommentierungen bildet sich eine breite Pluralität ab. Die Qualitätspresse hat ihren Job gemacht – und sie hat ihn gut erledigt.

Zugleich wurde sehr irritiert wahrgenommen, wie ressentimentgeladen viele in kirchlichen Ämtern auf die Berichterstattung reagiert haben. Hier offenbarte sich ein zumindest unsouveräner Umgang mit einer freien und kritischen Presse, mitunter aber auch eine gefährliche Anschlussfähigkeit zu Kräften, die seit Langem gegen eine freie, unabhängige und kritische Presse hetzen.

Zu einer kritischen Aufarbeitung der Causa Kurschus gehört deshalb auch eine Klärung der Frage, wie ernst es die evangelische Kirche mit der Pressefreiheit meint – auch und gerade dann, wenn sich das abstrakte Bekenntnis im Stresstest bewähren muss. Hartnäckige, kritische, mitunter provozierende Berichterstattung ist kein „polarisierender Medienzirkus“[12], sondern das Lebenselixier einer Demokratie!

Mit diesem Bewusstsein hat Robert Geisendörfer die evangelische Publizistik vor 50 Jahren in der demokratischen Medienlandschaft verankert. Nur in dieser Unabhängigkeit und Freiheit wird sie auch in Zukunft eine relevante und unverzichtbare Stimme im säkularen öffentlichen Raum bleiben. Als solche aber wird sie mehr denn je gebraucht.

 

 

Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus dem von Reinhard Mawick und Willi Wild herausgegebenen Sammelband „Evangelische Publizistik – wohin?“ , der ab 12. März im Buchhandel erhältlich ist.

Eine gleichnamige Tagung, veranstaltet u.a. von zeitzeichen und dem Evangelischen Medienverband (EMVD), findet vom 28. Februar bis 1. März in der Evangelischen Akademie Tutzing statt.


 

[1] Ausführlich hierzu: Arnd Henze: „Eine Entschuldungserklärung“, Zeitzeichen 10/2020

[2] Zitiert nach Arnd Henze: „Kann Kirche Demokratie? Wir Protestanten im Stresstest“, 107, Herder Freiburg 2019.

[3]Zitiert nach Ralph Ludwig: „Hanns Lilje – Ein frommer Weltbürger“, Wichern-Verlag Berlin 2016.

[4] Zum Folgenden: Schildt, Axel: Nach der Katastrophe: Neuorientierung in Kirche und Gesellschaft, in: Wolfgang Vögele (Hg.), Kann man eine Demokratie christlich betreiben? , Loccumer Protokolle 68/1998, Loccum 1999, 11–23.

[5] Eberhard Klügel: „Die evangelische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933–1945“. 2 Bände, Lutherisches Verlagshaus 1964/65.

[6] Brief von Hans-Volker Herntrich an den Autor vom 14.07.1987, persönliches Archiv.

[7] Brief von Hans-Volker Herntrich an den Autor vom 22.10.1987, persönliches Archiv.

[8] Ausführlich dargestellt in: Ernst Klee: „Persilscheine und falsche Pässe – Wie die Kirchen den Nazis halfen“, Fischer Taschenbuch 1991.

[9] Gerd-Matthias Hoeffchen: „Rücktritt von Kurschus – Der Druck wurde zu groß“, Unsere Kirche 12.11.2023, online, abgerufen am 19.12.2023, https://www.evangelische-zeitung.de/ruecktritt-von-kurschus-der- druck-wurde-zu-gross.

[10] „Mit Nächstenliebe, Empathie und Hoffnung“. Interview mit Ursula Ott und Karsten Frerichs „Chrismon“ zitiert nach https://chrismon.de/ artikel/2023/54216/das-gemeinschaftswerk-der-evangelischen- publizistik-wird-50, Aufruf 11.12.2023.

[11] Über das Zerwürfnis in der westfälischen Kirchenleitung, das im Umfeld des Bielefelder Landeskirchenamtes ein offenes Geheimnis war, berichtete als erster Reinhard Bingener in der FAZ vom 19.11.2023. Abruf online am 19.12.2023 https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/ekd-warum-die-ratsvorsitzende-kurschus-vor-dem-rueck- tritt-steht-19325444.html. Der juristische Vizepräsident Arne Kupke bestätigte die Darstellung am 24.11.2023 vor der Synode der westfälischen Kirche. Link abgerufen am 19.12.2023, https://www. evangelisch-in-westfalen.de/aktuelles/detailansicht/news/dr-arne-kupke- bleibt-juristischer-vizepraesident/.

 

[12] In einem Spiegel-Interview vom 22. November 2023 warf der Erlanger Theologie-Professor Peter Dabrock der Kirche vor, sie habe „sich auf den polarisierenden Medienzirkus eingelassen und nachgegeben, wo der öffentliche Druck zu einer Art Subjekt und zur Legitimierungsstrategie aufgebauscht wurde, um sich zu distanzieren. Aufruf 19.12.2023 https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/annette-kurschus-ruecktritt-der-ekd-chefin-wegen-vertuschungsvorwuerfen-interview-a-2d908d84-19ac-4e92-8979-977b12ec4ab2.

 

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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