Die evangelische Patientin
Für den Nürnberger Theologieprofessor Ralf Frisch macht die KMU VI klar, dass die evangelische Kirche am Scheideweg steht. Er meint, es sei höchste Zeit, „gelassen dem Rhythmus ihrer eigenen Sachlichkeit (zu) folgen, statt fremden Herren zu dienen, von fremden Geistern die Rettung zu erwarten oder wie das Kaninchen auf die Schlange des Untergangs zu starren“. Eine erFrischende Polemik!
Kaum war die neueste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung veröffentlicht, entbrannte der Kampf um die Deutung. Nichts zu deuteln ist daran, dass sich die ehedem großen Volkskirchen im freien Fall bewegen. Ihre Tage – oder sagen wir Jahre – sind gezählt. Je normaler es in einer Gesellschaft ist, nicht oder nicht mehr Mitglied einer Kirche zu sein, desto schneller und desto erbarmungsloser wird die Erosion ihr Werk verrichten. Die Frage ist eigentlich nur, wie tief die Mitgliederzahlen in den einstelligen Prozentbereich hinein sinken und wer am Ende noch zu den Treuen gehört – oder böser gesagt: wer nach dem Willen von Kirchenleitungen und Theologie zu den Treuen gehören soll. Nicht zuletzt darüber geht seit der Vorstellung der KMU VI im Rahmen der EKD-Synode in Ulm der Streit der Interpretationen und Strategien. Was den Protestantismus anbelangt, so ist dieser Streit nicht nur von Panik, sondern auch von der erwartbaren Signatur der Selbstbestätigung gezeichnet.
In der Moralfalle
Folgt man der Studie, dann ist die Politisierung der evangelischen Kirche offenbar kein wesentlicher Austrittsgrund. Das scheint denjenigen Recht zu geben, die die Volkskirche in eine Eingreiftruppe des gesinnungsgetriggerten zivilen Ungehorsams transformieren wollen. Wer einzig eine Kirche des heiligen Rests der moralisch und ökologisch Reinen nicht für einen faulen Kompromiss hält, steht aber ohnehin über den Niederungen der Kirchenaustrittszahlen. Der durchwachsenen, politisch ambivalenten Angelegenheit Volkskirche wird er allenfalls Krokodilstränen nachweinen.
Möglicherweise ist darin der eigentliche ekklesiologische Grund der grundsätzlichen Zuversicht des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm zu suchen. Wer alle gerechtigkeits- und menschenrechtssensiblen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit für unsichtbare Christen hält und die unsichtbare Kirche als die wahre Kirche erachtet, kann die sichtbare Kirche gelassen als uneigentliche Gestalt des Christseins dahingestellt lassen. Dass Annette Kurschus nun auf moralischen Druck hin ihr Amt als EKD-Ratsvorsitzende niedergelegt hat, ist in diesem Zusammenhang nur konsequent. Wenn sich eine Kirche zur festen Burg des Moralismus erklärt, zählen in dieser Kirche trotz aller erbarmenstheologischen Rhetorik der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade letztlich nurmehr moralische Kriterien und Kategorien. Ihre Glaubwürdigkeit steht und fällt dann ausschließlich mit der moralischen Integrität ihrer Mitarbeitenden.
So alternativlos dies im Blick auf den sexuellen Missbrauch zweifellos ist, so schwierig wird es für die evangelische Kirche in anderen Hinsichten, hörbar zu machen, dass sie neben der Sprache der Moral auch noch andere Sprachen spricht. Dass es so etwas wie eine Glaubwürdigkeit des Glaubens geben kann, der nicht in ethischen Haltungen und Handlungen aufgeht, wird von denjenigen nicht mehr verstanden, die nur noch die Sprache der Moral verstehen.
Aber vielleicht ist es für die evangelische Kirche ja gar nicht nötig, eine andere Sprache zu sprechen. Denn die Erkenntnis der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, dass Religiosität in der deutschen Gesellschaft ebenso schwindet wie Kirchlichkeit, scheint es ja eher nahezulegen, die Kirche gar nicht mehr als religiöse, sondern nur noch als soziale und diakonische Akteurin zu begreifen und die dahindümpelnde „Konzernsparte Religion“ daher abzuwickeln. Der Journalist und Theologe Reinhard Bingener hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unlängst mit diesem Gedanken gespielt[1].
Der Traum allgegenwärtiger anonymer Religiosität
Liberale Theologinnen und Theologen, die von je her darauf bauen, dass Religiosität nach wie vor da, nur eben aus der Kirche ausgewandert ist, haben über die ihrer Ansicht nach methodisch unsaubere, religionstheoretisch defizitäre Studie daher die Nase gerümpft und moniert, dass Religion von der KMU VI viel zu eng definiert werde[2]. Dass sie pikiert sind, ist kein Wunder. Wer von einer religiös diversen, spirituell versatilen, das Christentum transzendierende Kirche der Beratung Lebenssinnsuchender träumt, kann einer Studie kein Vertrauen schenken, die illusionslos den wachsenden Säkularismus der Gesellschaft detektiert und davor warnt, allzu große Hoffnungen auf religiöse Ansprechbarkeit zu setzen.
Da die liberale Theologie nicht von starken christlichen Überzeugungen lebt, muss sie an die Stelle des Missionsbegriffs, den diese Theologie naturgemäß scheut wie der Teufel das Weihwasser, eine einladende Offenheit in Sachen Spiritualität und Lebenskunst setzen. Wenn die Eingeladenen aber nicht nur christlich, sondern auch spirituell unmusikalisch sind, stehen die Kirchentüren vergebens offen. Wobei man sich natürlich fragen muss, wofür eine weltanschaulich und religiös derart offene Theologie überhaupt so etwas wie Kirche braucht und ob Kirche nicht immer schon durch andere gesellschaftliche Akteure und Formate ersetzbar ist, wenn sie nur noch als Begegnungsstätte des interreligiösen und interkulturellen Dialogs verstanden wird. Auch will sich nicht so recht erschließen, wie man auf die Idee kommen kann, dass Menschen, die ihre Spiritualität womöglich ganz bewusst außerhalb der Kirche pflegen, ihr spirituelles Heil nun doch wieder in der Kirche suchen könnten.
Entsorgung metaphysischen Muffs
Aber auch andere Reaktionen auf die neueste KMU sind absehbar. Dass der Studie zufolge nicht einmal mehr ein Fünftel der Befragten daran glaubt, Gott und Christus hätten etwas miteinander zu tun, dürfte für theologische Genugtuung bei jenen sorgen, die seit Jahrzehnten den metaphysischen und theistischen Muff unter den Talaren entsorgen und die Kirche unter zwei Maßgaben völlig neu erfinden wollen: dass sie zum einen nicht als Kirche wiederzuerkennen ist und dass zum anderen Gott allenfalls als rhetorische Dekoration und als Resilienz stärkende Metapher vorkommen darf.
Erwartbar ist außerdem, dass nach der KMU die Stunde derjenigen schlägt, für die Organisationsprobleme nur eine einzige Lösung haben können: die der Organisationsreform nämlich. Dass es ungebremst in den Abgrund geht und alle bisherigen Kirchenentwicklungsmaßnahmen offenkundig nicht erfolgreich waren, wird die Suche nach der schlechthinnigen Reform, also nach dem Königsweg aller Reformen nicht beenden. Wahrscheinlich schon deshalb, weil Reformroutiniers wie Reformrookies vor allem von der Weisheit leben, dass Bewegung gegen Depression hilft.
Möglicherweise wissen viele Reformer nicht, wo sie mit ihren Kirchenreformen hinwollen. Aber vielleicht glauben sie, dass sie auf dem Weg des Reformaktivismus schneller dort sind. Und so geben sie auf spiegelglatter abschüssiger Bahn Vollgas und singen entweder mit dem Zweckoptimismus der reformstressverzweifelt Ausgebrannten oder mit der Unschuld der ersten Reformverliebtheit das Hohelied der ecclesia semper reformanda. Nun ist die evangelische Kirche natürlich per definitionem das Kind einer Reformation. Aber die Gretchenfrage an alle künftigen Reformen der reformatorischen Kirche dürfte darin bestehen, für wie kirchensystemrelevant sie die Theologie der Reformatoren halten.
Palliative Ekklesiologie
Folgt man der neuesten KMU, dann gedenken nur noch 35 Prozent der derzeitigen Kirchenmitglieder auf jeden Fall in der Kirche zu bleiben. Dass es schon nicht viel weniger werden als diese letztlich ja doch ganz passablen 35 Prozent, dürfte den chronisch nicht aus der Ruhe zu Bringenden Recht geben, die in einer Mischung aus Trägheit, Tiefenentspanntheit, Verdrängung und vielleicht auch alimentierter Phantasielosigkeit einfach so weitermachen werden wie bisher, weil es ja doch keinen Zusammenhang zwischen kirchlichem Handeln und Kirchenaustritten zu geben scheint und weil sich das Aus für die Volkskirche ohnehin nicht mehr abwenden lässt.
Mag sein, dass manche unter dem Eindruck der rasanten Kirchenaustrittsdynamik der letzten Jahre stärker als bisher auf palliative Ekklesiologien umstellen und das Unvermeidliche akzeptieren, statt sich dagegen aufzubäumen. Mag sein, dass Nach-mir-die Sintflut-Ekklesiologien in Kirche und Theologie verbreiteter sind denn je – vielleicht auch deshalb, weil in der Ruhe die Kraft vermutet wird und eine gewisse fatalistische Resilienz der Psychohygiene insbesondere von Hauptamtlichen mehr dient als Verzweiflung und Erschöpfungsdepression.
Fortgeschrittener Persönlichkeitsverlust
Das Bemerkenswerte an all den beschriebenen Reaktionsformen ist, dass sie vor allem eines offenbaren: das tiefsitzende Identitätsproblem der evangelischen Kirche. Selbst Kirchenferne dürften dieser Kirche anmerken, dass sie ihr Wesen faktisch zur Verfügungsmasse erklärt hat – entweder zur Verfügungsmasse schwärmerischer milieuverengter Visionen von Kirche oder zur Verfügungsmasse zum Zwecke der Sicherung des Systems Volkskirche und der Attraktivität kirchlicher Berufsbilder. Wäre die evangelische Kirche eine Patientin, würde man bei ihr einen fortgeschrittenen Persönlichkeitsverlust diagnostizieren müssen. Sie weiß schon lange nicht mehr, wer sie ist. Umso verzweifelter sucht sie nach sich selbst und nach Anschluss an andere.
Vielleicht liegt es einer Kirche der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade sogar in den Genen, das – anders als die römisch-katholische Kirche – nicht wissen zu können. Wenn evangelische Christen sozusagen die ersten Freigelassenen der Kirche sind, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Ekklesiologie zum Dauerthema des Protestantismus wird – zumal in einer Zeit, in der es nicht nur theologisch, sondern auch gesellschaftlich immer unselbstverständlicher wird, der Kirche die Treue zu halten. Warum sollten Menschen des 21. Jahrhunderts Mitglieder einer Institution sein, die zwar anders als ihr einstiger Herr nicht auf dem Wasser gehen kann, dafür aber zur Surferin geworden ist, die auf allen möglichen Wellen reitet, um nicht unterzugehen? Warum sollten Menschen eine Kirche finanzieren, die gesellschaftspolitische Überzeugungen, Allerweltsweisheiten und Lebensanschauungen hätschelt, für die es keine Kirche braucht, weil die Welt sich all das, wovon in der Kirche die Rede ist und wofür die Kirche steht, auch ohne die Kirche sagen kann?
Was die Kirche der Welt schuldet
Vielleicht besteht das lebensbedrohlichste Symptom der ermatteten evangelischen Kirche darin, dass sie ihre demenzielle Erkrankung für die Therapie hält und nicht auf die Idee kommt, schlicht und einfach das zu sein, was sie ist: der Ort, an dem zum Vorschein kommt, dass die Welt nicht verloren und dass der Mensch nicht die einzige Antwort ist. Der Ort, der im sogenannten Anthropozän deshalb der wahre safe space für alle Mühseligen und Beladenen ist, weil in ihm die wirklich entlastende und rettende Wirklichkeit im Raum der Welt steht. Es gibt kein anderes Wort als das Wort Gott, um das zum Ausdruck zu bringen.
Wie auch immer: Wenn die evangelische Kirche den Menschen ihrer Zeit das Wort Gott nicht mehr gönnt, weil sie meint, damit sei in einer säkularen Welt kein Blumentopf zu gewinnen, wird es über kurz oder lang um sie geschehen sein – und zwar selbst dann, wenn sie wider Erwarten überleben sollte. Das heißt nicht, dass die Volkskirche zu retten und ihr quantitativer Niedergang aufzuhalten ist, wenn sie dezidierter an Gott erinnert. Aber wenn sie es nicht mehr tut, hat die Kirche Jesu Christi alle Qualität eingebüßt, die sie zur Kirche macht. Wenn sie nicht mehr an Gott erinnert, hat sie ihren Namen nicht mehr verdient.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack hat aus der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung die Schlussfolgerung gezogen, dass die evangelische Theologie „von liebgewordenen Denkfiguren Abstand nehmen und sich stärker als bisher auf die Sinnformen einer innerkirchlichen Religiosität einlassen muss“[3] – will heißen, dass Kirche und Theologie der Öffentlichkeit das genuin jüdisch-christliche Gottesnarrativ schulden. Eine öffentliche Theologie, die darauf verzichtet, Gott, Gottes Heiland und Gottes Heiligen Geist in den Raum der Welt zu stellen, wird bei stärker wehendem gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwind selbst die Entschlossenen nicht halten können. Es braucht eine Theologie, die von der Kirche her auf die Kirche hin denkt[4].
In einer anders aufgewühlten, von einem anderen weltanschaulichen Nihilismus bedrohten Zeit riet Karl Barth der evangelischen Kirche, sie solle gelassen dem Rhythmus ihrer eigenen Sachlichkeit folgen[5], statt fremden Herren zu dienen, von fremden Geistern die Rettung zu erwarten oder wie das Kaninchen auf die Schlange des Untergangs zu starren.
Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.
[1] Siehe dazu Reinhard Bingener, Kirchen an historischem Kipppunkt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2023, 8 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kirche-und-religion-zahl-betender-katholiken-laut-umfrage-halbiert-19312966.html
[2] Vgl. dazu Kristin Merle, Rainer Anselm und Uta Pohl-Patalong, Wie hältst du’s mit der Religiosität? Eine kritische Perspektive auf die soeben erschienene Überblicksdarstellung der KMU VI, https://zeitzeichen.net/node/10806. Siehe dagegen Detlef Pollack, Theologen auf dem Holzweg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2023, 12 (Bezahlschranke).
[3] Detlef Pollack, Theologen auf dem Holzweg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2023, 12.
[4] So Ulrich Körtner und Jan-Heiner Tück, Es braucht eine Theologie, die von Kirche her und auf Kirche hin denkt, online auf https://www.katholisch.de/artikel/48917-es-braucht-eine-theologie-die-von-kirche-her-und-auf-kirche-hin-denkt.
[5] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. I/1, Zürich, 12. Aufl. 1989, XI.
Ralf Frisch
Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.